30.12.2007

Traum von der Wirklichkeit der Welt


Mit mehreren Freunden sitze ich vor einer Leinwand – keiner Kinoleinwand, sondern einer, wie sie mein Großvater vor zwanzig Jahren aufgebaut hatte, um Verwandten tonlose Aufnahmen von mir und den Nachbarskindern vorzuspielen. Von dieser Leinwand nun leuchtet, mit seinem typisch unausgeschlafenen Grinsen, Jack Nicholson in Nahaufnahme. Er trägt einen Cowboyhut. Mein Traum-Ich, das aus irgendwelchen Gründen keine der vorherigen Szenen gesehen hat, glaubt den Film als „Duell am Missouri“ zu erkennen, jenen Western, in dem Brando einen tuntenhaft-sadistischen Kopfgeldjäger spielt, der letztlich vom Pferdedieb Nicholson im Schlaf ermordet wird, und zwar mit dem leisen, langsamen Satz:
„Wissen Sie, warum Sie aufgewacht sind? Ihnen ist gerade die Kehle durchgeschnitten worden.“
Doch soweit sehen wir den Film gar nicht. Wir sehen nicht mehr als Nicholsons Gesicht, das nach links in die Ferne zu blicken scheint. Dann bricht der Film ab, kurz vor dem Ende womöglich, jedenfalls vor einer Pointe, die alle gespannt erwartet hatten, und ich werde murrend aufgefordert, dafür zu sorgen, daß wir das Ende sehen können. Ich stehe auf. Mühsam spult der Film zurück, wieder erscheint Nicholson, grinsend, wie im Standbild, und wieder reißt plötzlich die Aufnahme ab. Sofort darauf beginnt auf derselben Spule ein anderer Film, auch er mit Jack Nicholson, dessen Name weiß und stumm an die Leinwand geworfen wird. Ich habe keine Lust mehr und verlasse diesen Saal im dunklen Nirgendwo meines Schlafes.
Es ist sehr früh morgens, die Sonne wird vielleicht erst in einer Stunde aufgehen. Auf der Straße, die vom Haus meiner Großeltern bis ins benachbarte Dorf hineinführt, gehe ich eilig unter kaltem Himmel in meinen Alptraum hinein, ohne die Verlassenheit von allen Natur- und Menschengesetzen zu ahnen.
Ich habe ein Ziel. Ich will zur Uni. Und in meinem Traum ist das kein Widerspruch. Dieses kommende Seminar zu besuchen ist in geradezu unverständlichem Ausmaß wichtig und nützlich für mich. Ich will kein einziges Mal fehlen, und ich darf es auch nicht. Dabei fühle ich unklar, daß ich heute vielleicht der einzige Teilnehmer sein könnte. Ich falte ein Blatt auseinander, eine ausgedruckte Seite des Vorlesungsverzeichnisses, mein Blick wandert in der Nähe des rechten Rands von oben nach unten über die Namen der Dozenten. Ohne sie eigentlich zu lesen, sind sie mir schon unangenehm. Ich weiß, daß mir alle Lehrenden, Methoden und Mentalitäten an der Universität unangenehm sind. Dann die Erleichterung, nach der ich gesucht hatte: zwischen zwei dieser Namen ist eine Lücke, links steht der Titel der Veranstaltung, aber rechts kein Name. Das ist das Seminar, zu dem ich gerade gehe. Es findet nicht etwa ohne Dozenten statt, ebensowenig ist die Lücke ein Organisationsfehler. Es wird vielmehr geleitet von jemandem, den ohnehin jeder kennt, der es besuchen will, und der im amtlichen Sinne gar keinen Namen hat. Weil er kein Mensch ist.
Ich stecke das Papier in meine Jacke, sehe nach vorn die Straße hinunter und entdecke, daß jemand wenige Meter vor mir geht. Ein langhaariges Mädchen in Jeans und Regenjacke mit einer über die Schulter gehängten, offensichtlich schweren Sporttasche. Sie stemmt sich mit gesenktem Kopf nach vorne wie in einen starken Gegenwind, den ich allerdings nicht wahrnehme. Ich sehe auf ihre schwankenden Beine, die sich gegen das heller werdende Grau der Landschaft vor ihr dicklich und x-förmig abzeichnen. Sie erinnert mich an jenen Typus des speckigen Dorfmädchens, das sich in der gleichen mitleidweckenden Haltung, als gäbe es auch dort Gegenwind, den Schulflur entlangkämpfte, lange, ganz gerade abgeschnittene Haare hatte, nach warmem Essen roch und rosafarbene Turnschuhe einer qualvollen Sportstunde entgegenschleppte, weil Eltern und Staat aus ihr etwas machen wollten, was nicht weiter definierbar war.
Ich merke, daß ich müde bin und ärgere mich darüber. Der Weg ist noch so weit, daß man versuchen muß, nicht an das Ziel zu denken, weil einen dieser Ausblick umkehren lassen kann. Die Hauptstraße, längs durchs ganze Dorf verlaufend, ist noch gerader als in Wirklichkeit. Der schwache Knick um die Bushaltestelle, den Festpunkt dieses lustlosen Dorfes, ist verschwunden. Egal wie weit ich mich vom Haus, aus dem ich gekommen bin, entferne: es gibt immer nur den einen Blick auf die zum schwarzen Wald ansteigenden Wiesen mit versprengten kahlen Obstbäumen, die kaum vom Schatten zu unterscheiden sind, den der Wald darüberwirft. Über die zittrige Linie der Wipfel hat sich eine lichte, wäßrige Schicht gedrängt, die wie weiße Tinte in den Nachthimmel fließt, dessen ganze Dunkelheit dennoch, zu festen Wolken geballt, durch den Tag ziehen wird.
Wie im Halbschlaf, ohne zu denken, folge ich dem Mädchen vor mir. Sie ist übrigens erstaunlich groß, wirft hin und wieder einen Seitenblick nach hinten und wirkt im Profil viel frauenhafter, hübscher und selbstbewußter als ich vermutet habe. Sie bewirkt, daß ich meinem Traum vertraue, dieser halb unbekannten Welt am Ende der Nacht, in die ich da hinausgetreten bin; denn mit ihrer Sporttasche weckt sie den Eindruck der Normalität, und ginge sie nicht vor mir, wäre ich sicher, das Dorf sei unbelebt.
Gegenüber dem grünen Gebäude, wo meine Mutter zur Schule gegangen ist, biegt sie rechts in ein Grundstück ein. Ich folge ihr. Wenige Meter hintereinander gehen wir zwischen Hauswand und Buchsbaumhecken. Die Tür steht schon offen, weißes Küchenlicht fällt nach draußen. Das Mädchen geht hinein, andere Menschen sind dort, die ich aber nicht ansehe. Sie dreht sich endlich zu mir um, ich bemerke meinen Irrtum, ihr im Halbschlaf in ein fremdes Haus gefolgt zu sein, und so lachen wir beide, sofort und zugleich verstehend. Ich verlasse den Flur und gehe weiter. Die Stimmen hinter mir verstummen.
Am Straßenrand eines Nachbarhauses parkt mit laufendem Motor und leuchtenden Scheinwerfern irgendein langes, teures Auto, von dem ich unwissenderweise sofort begreife, daß es ein deutsches sein muß. Eins jener Modelle, die verkauft werden, weil sie teuer verkauft werden. Ein Element jener Warenmenge, deren Preis ein Teil der Ware ist und deren Ware selbst nur eine Allegorie des Preises. Kurz: kein Auto, sondern ein kreditfinanzierter Beweis, sich trotz Nachbarschaft mehr als die Nachbarn leisten zu können. Ich kenne das, jedes Dorf kennt das. Die Tür des Wagens steht offen, niemand sitzt darin. In einigem Abstand von der Straße sehe ich eine von dem gleichen weißen Licht wie eben erhellte Haustür, in der einige Personen stehen, anscheinend Vater, Mutter und ein kleiner Junge. Ich höre den Vater, einen feisten, ungesunden Mann mit Schnauzbart, von seinem Auto reden. Er lobt es wie Leute ihr Auto loben, die aus dem Besitz eines BMW beispielsweise den Schluß ziehen, dem maßgeblichen Kern der in irgendeiner diffusen Hinsicht führenden Nation anzugehören. Das Auto, dessen Scheinwerfer nur noch schwach im Zwielicht glimmen, ist eines ebendieser Autos, und ebendiese Bedeutung ist es auch, die der väterliche Schnäuzer soeben seinem kleinen, etwa sechsjährigen Sohn erklärt, ein rettendes Credo nicht nur für seinen Vater, sondern auch für ihn, der er Sohn eines solchen Vaters sein darf. Denn Gnade, Blut und Glaube gehören zusammen seit Lucifers Fall.
Wie oft werde ich auch hier von meinem Abscheu vor bestimmten Denkweisen angezogen und nähere mich der Haustür. Ich trete in den halbdunklen Flur ein, ohne daß man mich beachtete. Die Mutter steht mit verschränkten Armen etwas abseits, angelehnt in der Tür zu einem weiß ausgeleuchteten Raum – ihre schattige Silhouette schlank, feminin und kühl wie der Scherenschnitt einer Jugendstilfigur. Der Junge läuft unruhig um einen Ranzen hin und her und scheint seine Schulsachen zusammenzusuchen, während sein Vater sich immer mit ihm mitdreht, ihn nicht aus den Augen verliert und unablässig auf ihn einredet. Der Kleine trägt einen dunkelbraunen Trainingsanzug mit gelber Aufschrift. Halb lese, halb errate ich sie: es ist die Bezeichnung eines BMW-Modells. Und während der Vater mit besessenem Stolz die entsprechende Baureihe mit hervorgestoßenen Wörtern wie „unvergleichlich“, „Weltspitze“ und „Perfektion“ lobpreist, bin ich sicher, daß es dieses Modell sein muß, das auch am Straßenrand wartet. Um unter den Mitschülern des Sohnes seine Überlegenheit kundzutun, hat dieser arme Mensch ihn die zum Neuwagen passende Kleidung anziehen lassen. Dem Sohn gefällt es. Er stellt hin und wieder, außer Atem vor Hast, eine interessierte Frage, blickt großäugig zum Vater auf und gibt zustimmende oder staunende Floskeln im gleichen beseelten Ton zurück. Er ist auf dem richtigen Weg. Nur die Mutter scheint alles das zu verachten. Man ahnt, daß sie ein einsames Leben hat. Schließlich zieht sie ihrem Sohn den Ranzen an, über dessen oberem Rand weiterhin Buchstabe und Nummer des Automodells unverdeckt bleiben. Ich stehe ganz nah und sehe genauer hin. Zwischen den Schultergurten des Ranzens, etwas unterhalb des weichen Kinderhalses befinden sich zwei gelbe Zeichen: C4. So heißt das Modell. Genau wie der Sprengstoff. Doch daran denke ich in diesem Moment nicht, ich bin wohl zu müde, es fällt mir erst viel später auf.
Der Junge geht aus dem Haus, wobei die Eltern ihm nachsehen. In diesem BMW-Ornat, einen fast gleich großen Ranzen geschultert und schon ganz von selbst die eingeflüsterten Erfolgsformeln vor sich hinrepetierend, wirkt die kindliche Erscheinung so mitleiderregend, daß ich ihr unwillkürlich folge, als müsse der Wahnsinn, der sie antreibt, sie zwangsläufig in die Irre treiben. Ich gehe dicht hinter ihm, den Blick auf das „C4“ gerichtet. Unwissend tuend frage ich ihn nach seinem schönen Trainingsanzug. Er dreht sich nur kurz um und wiederholt mit prahlender Miene laut ein paar Sätze seines Vaters. Ich lasse ihn ziehen.
Da höre ich jemanden auf mich zulaufen. Ich drehe mich um und sehe die Mutter des Jungen. Sie ist jetzt mehr als eine Silhouette, und ich erkenne nicht nur, daß sie kurze Haare hat und sehr hübsch ist, auch nicht nur, daß sie weint, sondern daß sie die gleiche Kleidung wie ihr Sohn trägt. Über ihrem Brustbein steht das gleiche gelbe „C4“ gedruckt. Sie fällt mir überraschend um den Hals und schluchzt, ohne zu sprechen. Von weitem sehe ich den Vater an seinem Auto, er steigt nicht ein, sondern bleibt immer außen. Im schwachen Licht der Scheinwerfer, von aufsteigendem Qualm umgeben kreist er mal in diese, mal in die andere Richtung mit unverständlichen Armbewegungen und immerzu sprechend, wie in einem schwachsinnigen Tanz, um die schimmernde Karosserie. Ich halte noch einen Moment lang ihren warmen Körper, dessen Atem leise zittert. Ich habe Mitleid und will doch weitergehen. Ich will rechtzeitig ankommen. Und je länger ich bliebe, je mehr ich sähe, desto schwerer würde es mir fallen fortzugehen und nichts sonst zu tun.
„Geh zurück“, sage ich. Schnell löst sie sich, um mich anzusehen, ihr starrer, überraschter Blick zeigt Enttäuschung, ja Erschrecken. Doch wie sie mich weiter ansieht, scheint sie durch mich hindurchzusehen, ihr Blick wirkt immer leerer und abwesender. Langsam murmelt sie: „O Gott.“ – worauf ich mich ruckhaft umdrehe, als habe sie durch mich hindurch irgendetwas Grauenhaftes entdeckt, das auf mich zukäme. Ich sehe sie wieder an. Sie weicht mit demselben Ausdruck langsam zurück, gleichmäßig dem Haus zu und scheinbar ohne daß sich ihre Beine bewegten, als ob sie auf einer Bahn zurückgeführt würde wie hölzerne Figuren eines Turmspiels.
Ja, auch die Häuser und alle anderen Formen um mich, sogar die Hügel scheinen sich auf diese Art zurückzuziehen. In keiner Richtung bleibt mein Blick haften. Nirgends erkenne ich etwas. Selbst die Straße ist plötzlich in einer Art Wiese zerflossen, zu einem unterschiedlosen, nebelgrauen, erdgrauen Grund, der dem Himmel gleicht wie ein verfestigtes Spiegelbild.
Ohne mich verwirren zu lassen, gehe ich einfach in die Richtung weiter, in der vorhin der Wald am nächsten war. Denn ich denke mir: Häuser mögen plötzlich verschwinden, aber nicht der Wald, und im Wald könnte ich mich wieder an den Wegen orientieren. Ich gehe einige Minuten, ohne daß sich die Sicht im geringsten verändern und vor mir aus dem Nebel etwas Waldfarbenes auftauchen würde. Trotzdem muß in dieser Richtung Wald sein, sage ich mir; es ist unmöglich, Tausende von Bäumen unsichtbar zu machen, zu entwurzeln, zerkleinern, fortzuschaffen und jeden Zweig, jede Spur von Nadeln, Eicheln und Humus zu entfernen. Selbst durch eine sekundenschnelle Verwandlung des Waldes in einen Haufen Sägemehl, argumentiere ich, ist es nicht möglich, die Fläche des Hochwaldes in derselben Sekunde rückstandsfrei von den Spänen zu reinigen. Kaum habe ich durch diese sicheren Argumente meine Zweifel widerlegt und den Gang beschleunigt, als ich unter den ersten Fichtenästen in einen Wald eintauche. Mit hohen Schritten dringe ich durch das knackende Unterholz bis zu einem Weg vor, den ich nach links einschlage.
Ich sehe mich um. Ich kenne diesen Ort. Der Wald wächst hoch auf, dicke, schwarze Äste durchqueren über mir den dunstigen Raum, greifen von einem Baum in den nächsten und bilden ein turmhohes Dachgebälk. Er ist hügelig und voller Gebüsch, das trotz Winter noch in nassem Laub steht. Mit hier und dort aus dem fauligen Boden hervorgestülpten Wurzeln überklammern Fichten und Eichen den Hang, der rechts von mir steil anhebt und nirgends zu enden scheint. Die Luft ist durchsichtiger, wenn auch in den Wipfeln weißlich, als draußen auf dem formlosen Feld, das schon vom Waldrand aus nicht mehr zu sehen ist, durch eine dichte Nebelwand verdeckt.

Mit tiefen Zügen atme ich den Wind ein, der mich als einziges Geräusch begleitet. Er schmeckt salzig, was mich gar nicht wundert. Trotz dem unwirtlichen Wetter friere ich nicht. Die Umgebung gefällt mir, ich freue mich geradezu auf den noch immer weiten Weg, und es ist früh genug, auch rechtzeitig an die Uni zu kommen. Manchmal, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung weht, riecht es brandig, nach einem nassen, schwelenden Feuer. Eine als Kind oft beobachtete Herbstszene fällt mir ein: wie man aufgesammeltes feuchtes Laub aus einer Schubkarre über das Feuer schüttet. Der Flammenschein erlischt sekundenlang, und immer wieder glaubt man, ihn erstickt zu haben, bis sich plötzlich eine ganze Wolke Qualms aufwölbt und bald darauf das Feuer mitten durch die trockene Laubdecke schlägt. Ich sehe es vor mir und lächle, näher an das Feuer herantretend. Der schwere Rauch streicht um meine Beine, steigt an mir auf und brennt in den Augen. Ich schließe sie, trete zurück, öffne sie wieder. Ein Windstoß trifft den Rauch und zieht ihn auseinander, so daß ich mehrere Gestalten am Feuer erkenne, die träge dahocken oder umherstehen. Sie tragen die Kleidung einfacher, bäuerlicher Leute aus dem neunzehnten Jahrhundert. Niemand blickt auf, niemand spricht. Die Situation ist mir bekannt als wäre sie die Szene eines Drehbuchs, und sofort weiß ich auch, was ich an dieser Stelle zu sagen habe. Ich sehe die Menschen der Reihe nach an, mehrmals, um mich vorzutasten. Dann sage ich laut:
„Erinnert ihr euch, was Petrus beim letzten Abendmahl sagte?“
Blicke heben sich.
„’Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen’, sagte er. Und Jesus erwidert ihm: ‚Ich sage dir, Petrus, der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, daß du mich kennst.’ Erinnert ihr euch? Wie muß Petrus unter dieser Entgegnung gelitten haben. Dieser erste Jünger, der noch in seiner Bescheidenheit strebsam war. Jesus hat ihn doch den Felsen genannt, die Säule der Gemeinde, ‚den Schlüssel des Himmels’ hat er ihm verheissen. Kann ein solcher, von Jesus doppelt auserwählter Mann ihn denn verleugnen? Und wenn er es tut, wie kann er dann noch derselbe Mann sein? Ein Irrtum ist er dann, ein Irrtum oder ein Verräter Gottes, jener Verräter vielleicht, von dem der Messias beim Abendmahl gesprochen hat. Nach jenem Satz fühlt Petrus eine qualvolle Unsicherheit. Er ist ein Anderer, der sich fragen muß, ob er noch Petrus ist. Er kann die Frage nicht beantworten. Plötzlich kann er der niedrigste aller Menschen sein. Ein Sünder, der Jesus und das Evangelium geträumt hat und im Kerker aufwacht. Oder am Kreuz.“
Einer von denen, die ums Feuer hocken, ein junger, schwarzhaariger Mann mit Kattunweste und bloßen Armen, den ich gerade ansehe, wendet den Blick von mir ab, legt seinen Daumen an das linke Nasenloch, drückt es zu und rotzt hörbar an seinem rechten Schenkel vorbei auf den Waldboden. Mit einer schleichenden Drehung des Kopfes richtet er seine Augen wieder auf mich. Sie sind leuchtend grün, wie die Augen einer Katze, und voller Verachtung.
„Als Jesus in den Garten kommt, wo man ihn bald verhaften wird, entfernt er sich ein Stück von den Jüngern. Nur ‚einen Steinwurf weit’, heißt es. Doch Petrus fragt ihn: ‚Wohin gehst du?’ Er tastet nach seinem Meister wie ein Blinder, in einer finsteren Bangigkeit, ob er noch dessen Schüler ist und sein darf. Und Jesus antwortet wieder mit Härte: ‚diesmal’, sagt er, ‚kannst du mir nicht folgen.’ So läßt er ihn zurück bei den anderen, von denen ihn plötzlich eine tiefe Einsamkeit trennt. Ihnen allen hat Jesus aufgetragen zu beten; ‚gegen die Anfechtung’, sagt er, denn der Versucher ist unter ihnen. Sie tun es, sie beten, lautlos. Der Garten ist dunkel wie ein Tintenfaß, die Kälte läßt sie sich an den Olivenbäumen zusammenkauern, und die Nacht liegt schwer über allen. Sie können einander nicht sehen, so daß sich bald jeder überlegt, er könne ja unbemerkt schlafen. Und bald ist niemand mehr wach, der das erschöpfte Schnarchen – denn ja, auch Apostel schnarchen – hören könnte. Niemand außer Petrus, der mitten unter ihnen sitzt. Er hat nicht einmal versucht zu beten und kein Verlangen nach Schlaf. Er spürt die klammernde Kälte bei vollem Bewußtsein. Immer und immer wieder nur eine einzige Frage denkend: ob er, Simon, den der Erlöser seinen Felsen nannte, denn überhaupt noch das Recht habe zu beten? O er weiß, daß der Herr gerade die Niedrigsten und Geringsten liebt. Noch vorhin hat er davon gesprochen, ein Diener zu sein. Doch ist er, Petrus, überhaupt noch eines Dieners wert? Nein, ein Diener verleugnet seinen Herrn nicht. Ein Verräter ist nicht dessen würdig, den er verrät. Und mag er auch ein kaiserlicher Verräter sein, so ist er noch nicht seines unwürdigsten Dieners würdig, wenn der ihm treu ist. Er ist niemandes Diener, ein Diener des Nichts. Petrus nickt über diesem Gedanken ein (vielleicht ist er längst an Selbstdemütigung gewohnt). Doch als hätte er im Schlaf weitergedacht und zu einer Lösung gefunden, schreckt er plötzlich hoch. Er braucht sich an nichts zu erinnern, sein Schlaf hat ihn nicht unterbrochen. Er ballt die schmutzigen Fäuste, die er unwillkürlich in den harten Sand gedrückt hatte, und flüstert vor sich: niemals werde ich dich verleugnen! Immer folge ich dir! Einer der Jünger neben ihm erwacht. Petrus nimmt schnell eine Schlafhaltung ein und schweigt. Mit unbeugsamer innerer Stimme wiederholt er: Niemals verleugne ich dich! Niemals werde ich dich verleugnen! Bis er einschläft, die Würde des Dieners im Herzen.“
Ein Mann hebt die Hand. Ich stoppe meine Erzählung und nicke ihm mit hochgezogenen Brauen zu. Er wirkt alt, ist hager und hält in derselben gehobenen Hand etwas, was wie ein toter Vogel aussieht. Sowie er merkt, daß ich gerade ihm zugenickt habe, zieht er die Hand rasch an seinen Körper, kneift die Lippen zusammen und sieht starr an mir vorbei. Zwei oder drei lachen darüber, aber nur kurz. Während eines Atemzugs ist die Stille vollkommen.
„Er erwacht in der Finsternis von einer zornigen Stimme. Es ist die Stimme des Meisters, der zwischen ihnen umherzugehen scheint und ruft: ‚Könnt ihr denn nicht eine Stunde wachen?’ Er will sich schnell erheben, diensteifrig, dabei selbst verärgert, daß er geschlafen hat, doch seine Glieder sind lahm vor Kälte. Jesu Zorn verwundert ihn, es ist ein anderer Zorn als jener, den er kennt: nicht stark und rauh, sondern zögernd, müde, seufzend. Als müsse er seine Stimme dazu zwingen, die dennoch schon am Ende des Satzes milde klingt. Plötzlich fällt flackerndes Licht in den Garten. Stimmen nähern sich. Im herankommenden Schein erblickt Petrus die schattenhaften Gestalten der Jünger, alle kauern oder liegen sie noch, nur einer steht aufrecht, den fremden Stimmen zugewandt, mitten auf dem Weg. Das muß Jesus sein. Mühsam ist Petrus aufgestanden, vielleicht scheucht er noch seinen Nachbarn, und wagt sich an Jesus heran, zum Weg vor. Ihn blendet ein Fackelzug, der sich von der Stadtmauer bis fast schon an sie heranstreckt, und diese Menge an Menschen entsetzt ihn. Er weiß es. Man kommt ihretwegen. Mit noch zusammengekniffenen Augen sieht er Stangen zwischen und über den Fackeln, und weil darunter Schilde und anderes Metall glänzen, erkennt er, daß es Lanzen sind. Legionäre kommen, und zwischen ihnen und vorneweg mehrere Männer in geistlicher Tracht, alte Männer, Schriftgelehrte und Kaifas, der Hohepriester, den er kennt. Feinde Jesu. Gesetzesknechte. Aber auch Judas, einer von ihnen, knapp an der Spitze der Menge, etwas seitlich und nach vorn zu den Priestern redend, als wolle er den Zug noch abwenden, mit großen, aufgeregten Augen. Fragend sieht Petrus zu Jesus hin, er muß zwei Schritte vorgehen, um sein Gesicht zu sehen. Hinter ihnen haben sich die anderen langsam, schweigend und ängstlich versammelt. ‚Herr?’ sagt er leise. Er will ihm wieder folgen können, wie ehedem, wie gestern noch an seiner Seite gehen, im Wissen wohin. In Liebe, nicht in Angst. ‚Herr?’ flüstert er. Die Stimmen übertönen ihn bereits. Doch Jesus hört ihn, er sieht es an den Lidern. Er will nicht noch einmal flüstern, zugleich bebt sein Herz vor bedrängter Sehnsucht – da sieht ihn Jesus an… Nichts. – Hört ihr, was ich sage? – Sein Blick ist leer wie der eines Toten. Nichts spiegelt sich darin. Der zitternde Schein des Feuers, die Nacht natürlich, sonst aber nichts. Von innen dringt nichts hinzu. Sein Blick ist abwesend und hohl bis in die Brust. Judas und Petrus sind darin eins. Es sind nicht die Augen eines Toten, nein, ich sage besser: die Augen eines Sterbenden in jenem allerletzten Moment, da die Nerven noch leben, doch nicht mehr ins Leben blicken, sondern in das Unsichtbare. Bis ans Ende des Raumes scheint er zu sehen und alle Zeiten zu spiegeln in seiner Leere. Er sieht in die Welt und die Welt in ihn hinein, und beide heben sich auf, so scheint es. Ja, wenn es jemals einen weltlosen Blick gegeben hat, einen aufhebenden und annehmenden Blick, dann ist er in diesem Moment auf Petrus gefallen. Und danach für immer von der Welt verschwunden.
Petrus erstarrt. Er hätte folgen wollen. Doch Jesus scheint ihn kaum zu erkennen oder, schlimmer noch: sich dem Erkannten zu verweigern. Dies sehend wünscht er sich, blind zu sein – ja, wäre er mutig gewesen, er wäre davongerannt, um sich zu blenden (aber wer ist schon so mutig?) Dennoch stiert er mit aufgerissenen Augen in diesen Blick. Er kann keine Liebe darin finden. Er findet sich selbst nicht darin. Er versteht nicht die Liebe, die nicht unterscheidet. Er will sich unterschieden wissen. Die Liebe, die nicht beurteilt, weil sie die Schwäche versteht und weiß, daß es vor Gott und dem All keine Stärke gibt. Verstört strengt er sich an, im Gesicht des Meisters zu lesen. Der wendet sich schon wieder ab. Und durch diese Bewegung, einen scharfen Moment nur auf dem flackernden Halbprofil, erkennt Petrus eine einzelne zuckende Faser der Angst. Die versteht er…

Plötzlich herrscht Stille. Der Zug steht. Bis auf das grelle Knistern der Fackeln über den Köpfen, hier und dort murmelnd, und das Geräusch eines Schildes, den ein müder Legionär zu seinen Füßen abstellt. Im nahen Feuerschein verbreitet sich der harzige Geruch. Ein mitgelaufener junger Bärtiger streckt unverhohlen seine Fackel auf Petrus zu, so daß er sich abwenden muß; über die Schulter hinweg scheint ihm, als seien die Anderen schrittweise rückwärts, ins Dunkel gewichen. Dann hält man die Flamme zu Jesus hin, sehr dicht und übereifrig, denn sie stehen schon in hellem Licht. Jesus wendet sich nicht ab, er legt die flache Hand an den Schaft der Fackel und drückt sie weg, doch nur ein wenig, nur die Hitze, nicht das Licht schwächend. Die Stille dauert an. Sie wird unschlüssig. Mit ahnungslosen Blicken sucht Petrus den Anführer des Zuges und schaut nacheinander in die Gesichter jener Römer und Juden, die, zwei Armlängen entfernt, der Menge vorstehen; er mustert den römischen Hauptmann, den Ranghöchsten, stumpf und mürrisch dreinblickend, der an Jesus vorbei ins Innere des Gartens späht, zu den Schatten der Jünger.
Da, als erste Bewegung, wendet sich Kaifas zur Seite um. Auf seinen Zügen liegt kalte, zielklare Ungeduld. Er fixiert einen der Umstehenden, und Petrus folgt seinem befehlenden Blick. Judas steht fast zehn Schritte weit zurück, am Rand der Menge, seine Arme in seltsamer Haltung um den Oberkörper gelegt, als hätte er Schmerzen, leicht gebeugt auch und der Menge abgewandt, während seine Augen geweitet und düster zwischen Petrus, Kaifas und Jesus wechseln. Sein Kopf ist vom Kinn zum Scheitel mit einem Tuch verhüllt. Seine Gestalt drückt ein unbehagliches Warten aus, das mit gespanntester, ja zorniger Aufmerksamkeit auf einen kommenden Moment gerichtet ist, der alles lösen wird. Einen der Schriftgelehrten hinter ihm, der, geradezu an ihn gelehnt, erlebnislüstern über seine Schulter lugt, scheint er nicht zu bemerken. Als Kaifas sich nach ihm umdreht, ändert sich Judas’ Miene: plötzlich verzogen zu einer fragenden Grimasse, dabei spöttisch und widerständig, voll gespielter Ahnunglosigkeit, was man ihm nun denn noch befehlen wolle. Doch Kaifas’ Blick bleibt starr und fordert weshalb man ihm gefolgt ist. Auch der Hauptmann sieht ihn plötzlich an; und ein zweiter Adliger in Priesterkleidung, klein und alt, mit dümmlicher Verwunderung. Hat denn keiner von ihnen, was er zuletzt gehofft hatte, Jesus von selbst erkannt – wie er dort vor ihnen steht? Oder würde nicht doch vielleicht Jesus zu sprechen beginnen und sich alleine zu erkennnen geben? Langsam, mit einem Gesicht, als sähe er in seiner Stumpfheit jetzt erst ein, daß der würdige Hohepriester selbständig wohl nicht imstande sei, den weitbekannten Lästerer von Nazareth herauszufinden, bewegt sich Judas, an Gelehrten und Soldaten vorbeischleichend, zu Kaifas hin, wartet noch einen Lidschlag, senkt den Kopf, wendet ihm den Rücken zu und tritt aus der Spitze des Fackelzugs hervor.
Kaifas’ Aufmerksamkeit folgt ihm. Gleich hinter sich hört der Hohepriester ein leises metallisches Geräusch, das unentschlossene Schleifen eines aus der Scheide gezogenen Schwerts. Man hebt die Schilde auf und sieht zum Hauptmann. Kaifas spürt dessen Erwartung auf sich gerichtet, als warte er auf ein Zeichen von ihm, aber läßt sich nicht ablenken. Seine schwachen Augen, zu faltigen Schlitzen zusammengezogen, mühen sich gegen die Flammen um ihn und das Dunkel vor ihm, um Judas, dem trägen Schatten zu folgen. Der hält plötzlich inne wie ein Betrunkener, der den Weg vergessen hat, genau zwischen den beiden ihm am nächsten Gegenüberstehenden, von denen Kaifas nicht weiß, welcher Jesus von Nazareth ist. Der Mann, der den Tempel bedroht, den Sabbath mißachtet und mit Unreinen speist. In der flackernden Stille hört man es leise reden: Judas, gebeugt, gesenkten Kopfs, der sich murmelnd hin- und herbewegt, abwägend und mit sich im Unklaren. Der Mann, der als Messias umherzieht, um sich füttern zu lassen, wie ein Rabbi Schüler mitführt, die er niemals niedergeschriebene Vorschriften lehrt und spricht, als spräche Gott aus ihm! Judas umfaßt mit beiden Händen seinen Schädel – ganz kurz, als wolle er diese weibische Bewegung sofort zurücknehmen – und beugt sich noch tiefer. Kein einzelner Mensch kann im Worte Gottes handeln oder sprechen; nur ein jeder einzelne dem Tempel dienen und den Büchern, die die Worte Gottes bewahren. Kaifas Mund gerät in eine kauende Bewegung. Ein unbeherrschterer Mann hätte die Faust geballt. Da macht Judas zwei Schritte auf Petrus zu, hebt den Kopf, streckt die Arme aus und ruft lauthals: ‚Rabbi! Rabbi!’ Ein Zucken geht durch die Menge. Der Arm des Hauptmanns schnellt halb empor, doch Kaifas faßt ihn ohne hinzusehen und hält ihn zurück. Da wendet Judas sich um, ruft noch einmal ‚Rabbi!’, lauter und unglücklich, mehr ein Klageschrei als ein Ruf, stürzt Jesus zu Füßen, umarmt seine Knie und küßt sie, einmal, zweimal und immer wieder. Bis ihn ein Legionär, der hinzutritt, hart mit dem Schild zur Seite stößt, er auf die Hüfte fällt und liegenbleibt, zusamengerollt, als wolle er verschwinden, wie das letzte Kind einer ermordeten Familie. (Doch Judas weint nicht. Er will nicht gesehen werden, doch vor sich selbst kann er bestehen. Seine Gründe sind gut. Sünde heißt – nicht sündigen gegen einen gnadenlosen Gott.)

Sobald Kaifas seinen Arm losläßt, der Hauptmann das Signal gibt und vier Legionäre sich mit militärischem Geräusch aus der Menge lösen, zieht Petrus sein Schwert und tut einen großen Schritt vorwärts, daß Jesus etwas hinter ihm bleibt. Zugleich, als habe man es erwartet, tritt ihm ein langer Mensch von Kaifas Seite mit strengem Blick entgegen. Petrus zögert nicht. Ganz im bedenkenlosen Mut des Dieners hebt er seine Klinge; die Bewegung wirkt so langsam, daß der Andere sie als hilflos einschätzt. Schon schreit er auf – etwas fällt zu Boden – und preßt die Hände hart an den Kopf, die rechte fest über der linken; so hart, scheint es, daß sie einen schmalen Blutstrom hervorpressen, der ihm um den Kiefer läuft, den Bart füllt und am Kinn heruntertropft, noch ehe er weiß, wo er getroffen ist. Einige sind zurückgewichen, wovon nun einer gebückt hervorkommt, auf dem Weg tastet und sich aufrichtet, ein halbes Ohr in der Hand. Wortlos hält er es hoch und zeigt es wie eine tote Maus herum. Denn Petrus hat sich abgewandt. Jesus hatte gerufen und die Hand zu ihm erhoben. Das Schwert noch in Brusthöhe und bereit, auf die Legionäre loszugehen, hört er die Stimme des Meisters. ‚Steck dein Schwert in die Scheide! Wer zum Schwert greift wird dadurch umkommen.’ Noch während er spricht, umgibt ihn die Kohorte und, auf ein Zeichen des Hauptmanns, erfaßt ihn. Er wehrt sich nicht. Sein Blick ist noch auf Petrus gerichtet, der das Schwert jetzt langsam sinken läßt. Kaifas tritt ein Stück heran, den Kopf spähend vorgereckt, man steht ihm mit zwei Fackeln bei. Schriftgelehrte, Priester und ihr Gefolge breiten sich in vorsichtigem Abstand um die Bewaffneten aus. Jesus wird gefesselt. Petrus steht reglos da. ‚Dies’, hört er die Stimme seines Herrn zum letzten Mal, ‚ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.’ Dann setzt sich die Kohorte in Bewegung, und einen zögerlichen Moment später folgt die Menge den Fackelträgern Kaifas’ aus dem Olivenhain zum Haus des würdigen Hohenpriesters im Südwesten der Stadt. Petrus schiebt sein Schwert in die Scheide zurück. Er gleitet mehrmals ab.“
Mit einem schon von weitem ankündigenden Knacken, in dessen Richtung sich immer mehr meiner Zuhörer umgesehen haben, stößt ein alter Mann zu uns ans Feuer. Er tritt mit hohen, fest durchs Unterholz stampfenden Schritten aus dem lichtlosen Fichtenwald in unseren von Tag und Glut erhellten Kreis und zieht aller Aufmerksamkeit auf sich, ohne einen der Blicke zu erwidern. Sein Gesicht ist furchig, braun und bartlos, die Augen eisgrau, fast weiß, doch nicht von vagem Ausdruck wie bei Blinden, sondern unerschütterlich in ihrer Klarheit. Er ist mit einer dicken Felljacke bekleidet, die er mit einem Strick gegürtet hat, und man glaubt nicht, daß es nur diese Jacke ist, die seinen Oberkörper so breitgewachsen und kraftvoll aussehen läßt: diese alte Erscheinung mit ihren eisfarbenen Augen ist von einer geradezu tierhaften Urwüchsigkeit. In beiden Händen trägt er dunkle, hölzerne Eimer, die er hinter einem umgestürzten Baum abstellt, der unsern Kreis davon trennt. Dann dreht er sich und setzt sich auf den Stamm. An seinem Rücken, in den Strick eingeklemmt, sehe ich zwei kurze Messer mit klobigen Griffen, ein gerades und ein krummes, die er jetzt hervornimmt. Er bückt sich zu einem der Eimer, greift mit der Linken hinein und führt mit der anderen Hand schneidende, schälende oder schnitzende Bewegungen aus. Wir beobachten das noch einen Moment lang. Niemand spricht. Dann fahre ich fort:
„Als die Menge sich zu entfernen beginnt und das Licht mit dem Gerede abflaut, steht Petrus noch immer ziellos am Weg. Dort, wo die Kohorte und Kaifas gehen, kehren die Wartenden um und folgen, bis sich der ganze Zug umgekehrt hat zu einem neuen hellen, lauteren Zug in die Stadt. Nun fühlt sich Petrus für sich. Er blickt sich um, seine erste Neugier gilt Judas. Haben sie ihn verhaftet? Sie scheinen ihn gezwungen zu haben, den Weg zu Jesus voranzugehen. Er erinnert sich, daß Judas sie früh am Abend verließ, er mochte getrunken haben, wie er das bisweilen tat; noch eben wirkte er dumpf, angstvoll und wirr. Kaifas wird sie alle zum Verhör fordern. Man wird sie womöglich als Verschwörer behandeln und sie an die Römer übergeben. – Wo sind die Anderen? Er geht, verhalten einige Namen rufend, in die eine und andere Richtung ins Dunkel, zwischen die Bäume oder ein Stück Wegs entlang. Er hat nur die eine Verhaftung beobachtet. Nirgends hinter ihm, wo sie gewartet hatten, hat er Fackeln oder Stimmen bemerkt. Auch Judas war ja von Anfang an nicht gefesselt gewesen, und ihn selbst hatte niemand, selbst als er sein Schwert zog, verhaften wollen. Dennoch findet er keinen der Zwölf. Da muß er einsehen, daß sie aus freien Stücken von Jesus fortgegangen sind, plötzlich, rasch und leise; geflohen, ohne noch sehen zu können wovor. Und er erinnert sich, wie sie schon zurückgewichen waren, kaum daß der Fackelschein an sie herankam: stumme, gesichtlose Gäste, die wie Traumfiguren träg in die Ferne glitten und vergingen in der Farbe der Nacht. Mit den Füßen über die Wurzelstränge tastend, kehrt Petrus zum Weg zurück. Wo Jesus verhaftet wurde, bleibt er stehen und findet in der Ferne wieder die Lichter des Zugs. Sie haben dich schon verleugnet, denkt er. Ich aber werde dir folgen! Und zugleich mit der kurzen, unbescheidenen Reue über die Unbescheidenheit, sich verglichen zu haben, setzt er sich in Bewegung und folgt, erst einholend, dann in vorsichtigem Abstand, der Menge vom Fuß des Ölbergs durch das Kidrontal.
Die Stadtmauer nähert sich, bis er vom Hang herab den ebenen Weg erreicht hat und ihn nach Süden einschlägt, die aufragende Mauer Jerusalems zur Rechten. Die Kohorte an der Spitze des Zugs geht ihm dreihundert Schritte voraus. Sooft Petrus den Blick langsam vom Weg hebt, kann er dort niemanden erkennen. Nach seinem wütenden Eifer gegen die Feinde Jesu, den er hinter sich wußte, fühlt er sich jetzt müde und schwer, in der unabsehbaren Abwesenheit seines Herrn zerquält von Hilflosigkeit und Angst. Die Kälte ist in ihn zurückgekehrt und schüttelt seinen zittrigen Leib von den Knien bis zum Kinn, als ob es innen in ihm bebte. Einmal sieht er nach Osten hinüber, ob es wohl hell würde. Nein, es ist Nacht, noch lange. Er würde sich in der Stadt ein Feuer suchen und dort wärmen, bis der Morgen graut. Da hört er im Gedächtnis den Satz: ‚Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, daß du mich kennst’ – und ein Zucken durchfährt ihn, ein schutzloser Schrecken wie ihn jemand empfindet, der am Morgen aus tiefem Schlaf erwacht und plötzlich sich einer sinnlosen Untat erinnert, die er am Vortag begangen hat. Ertappt von einer tödlichen Schuld, die er an keiner Tat hat. Eingeholt von einer Voraussage, die anzuzweifeln bedeutet, sie zu bestärken: denn die Zweifel des Herrn an seiner Treue muß der treue Diener teilen. So muß er, Petrus, untreu werden oder seinen Herrn verleugnen? Nein, nur untreu einem einzigen Satz seines Herrn und nicht ihm selber und im ganzen, demjenigen Satz nur, der seine Dienerschaft bezweifelt und den zu widerlegen ihm der freie Wille gestattet, den Gott ihm gegeben hat. Selbst gegen Prophezeihungen kann der freie Wille bestehen. Sie sind nur Prüfungen. Die Welt soll uns prüfen, nicht schmeicheln. Und noch einmal wiederholt Petrus, mit geballter Faust, heiser, mit zitterndem Kinn vor sich hinsprechend: Niemals werde ich dich verleugnen! Niemals. (Würde man ihn denn fragen? Würde Kaifas ihn fragen? Ein Mitglied des Hohen Rats in den Gassen? Ein römischer Legionär? Niemals.)“

Der alte Mann dreht sich langsam von seiner Schnitzerei um, als würde er uns jetzt erst bemerken, und sieht mich mit seinen harten, eishellen Augen an. Ich habe ihn während des Erzählens beobachtet, unsere Blicke treffen sich sofort. Da verstumme ich kurz: er zwinkert mir mit einem kaum angedeuteten Lächeln zu und nickt einmal knapp, bevor er sich wieder seinem Messer zuwendet. Ich sehe ins Feuer, überlege und beende meine Geschichte:
„Vor dem südöstlichen Stadttor wendet sich Petrus, außerhalb den Mauern folgend, nach rechts und gelangt durch das Hinnomtal nach kurzer Zeit zu jenem Tor, durch das sie gestern Jesus nach Gethsemane gefolgt sind. Er tritt ein, blickt um sich und steigt in nordwestlicher Richtung den Hang zum Haus des Kaifas hinauf. In der Dunkelheit erkennt er den Eingang jenes Hauses, dessen Herr sie gestern dort speisen ließ, in einem großen, mit Polstern eingerichteten Raum. Sie saßen alle um Jesus beim Paschamahl, und der sagte zu ihm, Petrus, daß er ihn dreimal verleugnen werde. Dreimal. Diese Nacht. Petrus fährt sich mit der Hand übers Gesicht und durch den Bart; müde vom Anstieg, lehnt er sich vor in die Kälte und schwankt mehr als er geht, durch die blinde, betäubende Finsternis. Endlich erreicht er das Haus des Hohenpriesters, schon aus der Entfernung kann er es an der herumstehenden, neugierigen Menge erkennen. Er findet das Hoftor und tritt unbehelligt ein. In der Mitte des Hofes hat man ein Feuer angezündet, um das einige Diener im Lichtschein herumsitzen – so wie wir jetzt um dieses Feuer hier sitzen, nur jenes in Jerusalem damals war höher und heisser und heller, und jene, die herumsaßen, keine einfachen Menschen, sondern Vollstrecker der priesteradligen Gerichtshoheit: sie hatten Jesus verhaftet. Sie hatten ihre Waffen um das Feuer abgelegt, oder auch nicht. Doch Petrus tritt ohne zu zögern hinzu, in die feuerhelle Mitte des Hofes, durchgefroren und leer, ja mit eiligen Schritten und setzt sich zum Gefolge des Hohenpriesters, um sich zu wärmen. Ob er gegrüßt hat? Im Evangelium steht: ‚Dort setzte er sich zu den Dienern ans Feuer und wärmte sich.’ – Ihr selbst könnt es gerade fühlen: wie warm das Feuer ist. Es leuchtet und hütet euch. Fühlt ihr es? So warm war es auch, als Jesus von Nazareth verurteilt wurde. Und wenn er ein weiteres Mal auf Erden erschiene und man ihn ein weiteres Mal verurteilen würde, dann wäre das Feuer ebenso warm. Es wäre noch ebenso hell und behütend und warm nach tausend Malen Golgatha. Versteht ihr? Noch nach tausend Menschheits-Erlösern würde sich im kleinsten Kreis um den tausendundersten Erlöser ja doch wieder ein Petrus finden, der sich am Feuer des Feindes wärmen wollte – und auch dieses Feuer wird ihn wärmen, nach tausend Gekreuzigten wie je zuvor. Es wird ihn hüten in der Kälte, die ihn kalt und schwach und leer gemacht hat, so leer, daß es in ihm nichts zu erlösen gibt, so schwach, daß nichts Freies mehr an seinem Willen ist. So müde, daß nicht einmal Jesus Christus ihn aufrichten kann – aber ein paar Stunden Schlaf (und die kauft man notfalls auch dem Teufel ab). Die simple Wärme wird ihm seine Freiheit zurückgeben, seine Seele und die Heilsgewißheit Gottes. Denn irdisch ist die Gnade bisweilen: das Feuer wird uns begnadigen – von Kälte zu Kälte in Ewigkeit!“
Da steht der alte Mann auf, steigt mit beiden Eimern über den Baumstamm hinweg und kommt mit gelassenen, sicheren Schritten näher. Mir fiel auf, daß er während der letzten Sätze sehr still saß, ohne eine Bewegung seiner Arme, als habe er die Arbeit beendet gehabt und nur noch zugehört. Jetzt kommt er auf mich zu, um die Anderen herum, bleibt neben mir stehen. Wir blicken beide ins Feuer. Das Laub ist lange verbrannt. Reisig und dünne Äste mischen sich als zittrig zerfallende Umrisse in der Asche, die der leichte Wind bis an die Schuhspitzen zerstreut hat. Nur ein paar magere, schwarze Scheite ragen noch, wie das Skelett eines brennenden Zelts, wie betend aneinandergelegte Finger, in die züngelnde Spitze des Lichts. Ich sage die letzten Sätze, die ich zu sagen habe:
„Auch ich bin nur hier ans Feuer getreten, um mich zu wärmen, wie Petrus, ohne auf meine Nächsten umher zu achten, und so fiel mir diese, seine Geschichte ein. Eine Geschichte über das Feuer. Nicht wahr? Eine Geschichte davon, wie große Verfehlungen, so große, daß der Fehlende selbst sie sich nicht einmal auszudenken vermag, Sünden so groß und mythisch, daß sie in den Testamenten aufgeschrieben sind, wie solche Handlungen also, ganz leicht, schon dadurch eintreten, daß einem von uns kalt geworden ist. Ja. Wir sind doch zu hilflos, um Sünder zu sein… Schuldlos wie Petrus, der da zwischen Flamme und Finsternis sich hinkauert zu den Knechten des Kaifas. Während Jesus verhört und geschlagen wird, deckt die Wärme ihn zu. Er denkt noch einmal fest daran, Ihn niemals zu verleugnen. Doch sein Kopf sinkt schwer nach vorn, und die Sätze versickern. Es dauert nicht lange, schon schlummert er ein vor Wärme. Zwei oder drei der Männer umher schlafen gleichfalls. Die übrigen hocken da, starren ins Feuer und denken an Nichts oder an Essen.“

Ich schweige. Bis auf das Knistern und Flackern ist alles still und reglos. Der Alte steht noch immer neben mir. Möglichst heimlich schaue ich ihn an, fast ohne den Kopf zu drehen und ganz aus den Augenwinkeln. Er nickt vor sich hin, unmerklich und immer wieder, mit sinnierend gesenktem Kopf und leeren Augen, deren kleine eishelle Flächen jeweils ein kleines loderndes Orange widerspiegeln, ohne daß sich beide Farben mischten, wie eine über Schnee gegossene Flamme. Ich sehe an ihm hinunter. Er hat die Eimer nicht abgesetzt, und an seiner um den Henkel geballten Faust treten braune Adern durch die Haut hervor. In dem Moment, als ich einen Blick ins Innere dieser Eimer werfen will, dreht er sich plötzlich ab und verschwindet hinter meinem Rücken, ohne daß ich ihm nachzusehen wage. Aus irgendeinem Grund möchte ich jede Gelegenheit vermeiden, bei der er mich ansprechen könnte, also auch jeden Blickkontakt. Seine Schritte knirschen hinter mir im Schnee, dann bleibt er stehen, und ich kann hören, daß er einen der Eimer niederstellt. Aufmerksam lauschend, was jetzt wohl folge, lasse ich die Augen achtlos über Feuer und Menschen huschen, bis zwei leuchtende, absinthgrüne Punkte meinen Blick einfangen: die Augen des schwarzhaarigen Mannes mit der ärmellosen Weste, der mich anfangs so verächtlich gemustert hat – doch diesmal sind sie nicht abweisend auf mich gerichtet, sondern fixieren mit einer geradezu blitzenden Schärfe einen Punkt hinter mir, der sich zu bewegen scheint, dessen Bewegungen sie folgen. Als nächstes höre ich hinter mir ein Geräusch, das vom drehenden Henkel eines der Eimer stammen könnte, dann wieder zwei Schritte, dann ist es still, oder fast, atemstill. In diesem Moment erkenne ich mit einem Mal die grauenerregende Situation, in deren Mitte ich mich befinde, ich erkenne sie sicher, kurz bevor ich wirklich weiß, was geschieht (gerade wie wenn man stundenlang in einer vollkommen finsteren Höhle stände, ohne daß sich etwas veränderte, und dann plötzlich spürte, daß irgendjemand ganz dicht hinter einem steht – eine Sekunde bevor man eine Hand im Nacken spürt). Ohne meinen Blick von dem jungen Schwarzhaarigen abzuwenden – vielleicht um am Unbekannten vorbeizusehen – nehme ich weitere leuchtende Punkte, immer zu zweien, weitere grünlich leuchtende Augenpaare wahr, die alle auf den alten Mann in meinem Rücken gerichtet zu sein scheinen. Keiner am Feuer, dessen Pupillen nicht glimmen würden in scharfer, gieriger Kälte. Da zerplatzt die Stille. Ich zucke zusammen vor einem hellen, klatschenden Geräusch, das klingt wie wenn mehrere schwere, mit Wasser vollgesogene Stoffklumpen zu Boden fallen. Und beinah noch zugleich mit diesem Aufklatschen erheben sich rasch alle Gestalten, die bisher müde vor mir ums Feuer gehockt oder gar im Schnee gelegen haben, erheben sich jäh und leicht wie Hunde, ihre Augen unverwandt auf diesen einen Punkt gerichtet und eilen fast lautlos, schattenhaft durch den Schnee in Richtung des Geräuschs. Jetzt endlich – allein vorm Feuer, hinter mir ein wildes Geschmatze – drehe ich mich um oder vielmehr: ich werfe meinen Oberkörper ruckhaft gegen Angst und Ekel herum und sehe das Rudel meiner Zuhörer in einer drängelnden Unordnung schlanker, niedriger Leiber, als knieten sie allesamt in ihren Fellwesten im Schnee und äßen aus einem Trog. Der eisäugige Alte steht abseits und weicht noch zwei weitere Schritte zurück, wobei in seiner Linken leicht ein dunkler Eimer schwenkt. Sein Gesicht ist ausdruckslos und unbewegt wie vorher. Neben dem zweiten Eimer kommt er zu stehen, bückt sich, erfaßt den Henkel, während er den anderen abstellt, und hebt ihn langsam mit dem rechten Arm bis vor seine Brust. Mit der Linken greift er den Boden des Eimers an der überstehenden Kante und bringt ihn soweit in Schräglage, daß der Inhalt nach und nach herausgleitet, ohne ihn ganz umzukippen. Dabei weicht er wieder zurück, als wolle er schon den Abstand vergrößern zu dem, was er da in den Schnee schüttet, oder denen aus dem Weg gehen, die sofort vom Rand der rempelnden, murrenden Gruppe darüber herstürzen, und zieht so eine Spur von kleinen Körpern, die in einer dunklen Nässe liegen. Es muß Fleisch sein. Sie werden gefüttert!
Schon sind die nassen Brocken von ihren unruhigen Rücken verdeckt, die blutgetränkten Knie und Hände drücken schmutzige Spuren in den Schnee, während die Männer, Kiefer an Kiefer, ins Fleisch hineindrängen, es hier und da mit einer vorschnellenden Hand zu sich fortzuziehen versuchen oder zwei im selben Klumpen festgebissene Gesichter mit blitzenden Augen an dem rohen Fraß reißen. Heiseres Knurren, Schmatzen und jenes Keuchen, das die Plage der Gier verursacht, erfüllen über dem Schneeknirschen und einem stetigen Geräusch der Nässe die flackernde Lichtung, zu der mich ein Bild meiner Kindheit verleitet hat. Doch statt des Qualms von herbstlichem Laub durchzieht jetzt ein salziger, schweißiger Geruch den Wald und ein immer stärkerer Gestank von Fell und Maul. Mir wird bewußt, daß sie von Anfang an kein Wort gesprochen haben… Schaudernd wende ich mich zum Gehen. Ohne mich zu erinnern, daß ich in Eile bin, weil ich zur Universität muß, beeile ich mich dennoch hektisch, meinen ursprünglichen Weg zu finden und von diesen widerlichen Menschen fortzukommen. Doch kaum habe ich ihnen den Rücken gekehrt, bricht ein aggressives Knurren los, gefolgt von einigen schnellen Bewegungen hinter mir, und ebbt wieder ab. Ich höre, wie einer sich nähert. Er meint nicht mich, denke ich, gehe aber trotzdem zügiger. Da holt er mich auch schon ein, aus den Augenwinkeln sehe ich ihn, einen Mann auf allen vieren, als niedrigen Körper neben mir auftauchen. Ich überlege kurz, ob ich losrennen soll, aber er läuft zu schnell an mir vorbei, dreht sich um und versperrt meinen Weg, all das mit einer unglaubhaften Leichtfüßigkeit, lautlos und flink, als erforderte dieser Ablauf nur einen minimalen Bruchteil seiner alltäglichen Kraft. Ich bleibe stehen, sehe unklar zu ihm hinunter – und schrecke zurück. Jetzt, fühle ich, bin ich allein. – Es ist der vormals zu meiner Erzählung nickende und sinnierende Alte mit den eishellen Augen, der nun dasitzt wie ein Hund auf den Hinterläufen, die Arme gerade auf die Fäuste gestemmt. In seinem ausdruckslosen Gesicht sitzen zwei kalt leuchtende Wolfsaugen. (Sind es Wolfsaugen? Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich durch mehr als ein gespanntes Glänzen von jenen Augen unterscheiden, die mir schon zuvor an dem aufrechten Alten aufgefallen waren.) Er kniet, ohne demütig zu wirken, denn seine wuchtige Brust ist weit vorgereckt, als wolle er mich damit anstoßen. In den Strick, der sein Fell zusammenhält, sind immer noch die beiden Messer eingeklemmt, ein gerades, ein krummes, und beide blutig. Vom Gesicht ist außer Stirn und Augen wenig zu sehen. Schon die Nase wird verdeckt von einem riesigen, tropfenden Klumpen, den der Alte mit den Zähnen festhält und der bis unters Kinn und zu beiden Seiten des Mundes herunterhängt. Vom plumperen Ende baumelt ein langer Faden herab. Der Schwanz eines gehäuteten Rattenkadavers. Fast wie mit einer Verbeugung legt er mir den Kadaver zu Füßen und sieht mich wartend an. Dabei rollt er so, daß ich auch den gehäuteten Kopf erkenne und die kleinen, ungleichen Zähne darin, nur keine Augen. Ich blicke dem Alten in sein verschmiertes Gesicht. Die Lippen sind gerade und kurz und verraten keinerlei Regung. Plötzlich schleichen einige und immer mehr der Anderen dazu und sammeln sich in der gleichen Haltung, mit in den Schnee gestemmten Fäusten, hinter dem Alten. Sie alle scheinen auf etwas zu warten, das ich mir vorzustellen mich weigere. Vorsichtig schüttle ich den Kopf, höre aber sofort damit auf, als ich im Gesicht des Alten eine Veränderung zu erraten glaube. Ich möchte zu ihnen reden, doch ich spüre, daß diese Gruppe nicht von Sprache zusammengehalten wird, daß sie nicht sprachlich entscheidet und daß also Sprache nicht über sie entscheiden kann. Langsam weiche ich zurück. Sie sammeln sich weiter, ihr Fleisch scheint verzehrt zu sein, ihre undeutbaren Augen auf mich gerichtet. Ich schwitze und fürchte zu zittern. Es essen, überlege ich. Doch unwillkürlich schleiche ich weiter rückwärts. Als ein gewisser Abstand erreicht ist, beugt sich der Alte einfach vor, nimmt erneut das Fleisch in den Mund und trägt es mir nach. Das ganze Rudel rückt nach. Der Schnee knirscht unter ihren Schritten, doch sonst hört man keinen Laut. Ich bleibe nicht stehen, und so bleibt auch der Alte nicht stehen und das Rudel nicht. Wir bewegen uns allmählich vom Feuer weg, von der Lichtung in den Wald hinein, ich spüre Äste im Rücken und statt des knirschenden Schnees höre ich leises Knacken unter unseren Füßen, Knien und Händen. Immer wieder stehe ich mit dem Rücken an einem Fichtenstamm und verliere an Abstand zu dem stetig folgenden Schwarm kalt leuchtender Augen, die im Dunkel an mich heranzuschweben scheinen. Schließlich drehe ich mich um und schleiche, immer auf ihre Schritte lauschend, weiter und flinker zwischen den Stämmen hindurch. Hätten sie noch Hunger, überlege ich – ohne weiter daran zu denken, daß es sich doch um Menschen handelt – dann hätten sie mich längst angefallen. Daß sie nicht schneller werden, heißt, daß sie nicht jagen. Ermutigt davon, sie nicht mehr zu sehen, beschleunige ich meinen Gang. Ohne mich umzusehen, um meine Fluchtabsicht nicht zu verraten, beginne ich zu laufen. Ich lausche angestrengt, höre aber nur das nahe Knacken meiner eigenen Schritte. Ich laufe weiter. Ein Ast schlägt mir ins Gesicht, und ich spüre einen Schmerz quer über das ganze Gesicht, besonders im linken Auge. Im Laufen trocknet etwas auf meiner linken Wange, doch ich taste nicht danach. Weit vor mir vermute ich einen Weg. Eine weiße Linie nähert sich, die horizontal den Wald durchzieht. Und als ich sie errreiche und stehenbleibe, atme ich so laut und angstvoll, daß ich davor erschrecke wie vor dem Atmen eines Fremden. Ich drehe mich einmal um mich selbst, ich spähe in den Wald, ich lausche. Jetzt bin ich allein.

Der Himmel, der bisher so ausgesehen hat, als würde der Schnee sich in ihm spiegeln, ist dunkel wie Schiefer. Nachdem ich aus dem Fichtenstück auf den Weg hinausgelangt bin, hält dennoch die Dunkelheit an. Er scheint sich gesenkt zu haben, fast zum Hinaufspucken niedrig. Eine meerestiefe Wolkenmasse, die doch irgendwo eine Sonne zu verschlingen scheint, die ihre fließenden und strudelnden Bewegungen blaß sichtbar macht, wölbt sich nicht weit über den unsichtbaren Wipfeln. Und aus diesen sich ineinander stauenden Elementen hallt wie aus einer ozeanischen Höhle ein fernes Donnern, das man fühlen kann, ohne zu hören: die Stimme des Raumes, lichtlos, leer, in alle Richtungen sich weitend. Ich sehe empor, ohne zu denken, und merke dann, wie es mir schwerfällt, einen weiteren Schritt zu tun, als hinge meine Fähigkeit zu gehen oder zu entscheiden von der Farbe des Wetters ab. Ja, ich erschrecke und bin gebannt von diesem ungewohnten und unausweichlichen Anblick, der sogar eine flüchtige Ängstlichkeit auslöst, mich könnte das plötzliche Urteil der Zukunftslosigkeit ereilt haben. Dabei nieselt es nicht einmal.
Der ebene Weg teilt den fichtenbewachsenen Hang, der rechts von mir immer höher hinaufwächst – so steil, daß er den Blick zum Himmel wie eine himmelhohe Schlucht begrenzt – und biegt sich hundert Schritte vor mir langsam aus meinem Sichtfeld. Nachdem ich mich darauf besonnen habe, es eigentlich eilig zu haben, lege ich diese etwa hundert Schritte zurück und durchwandere eine unaufhörliche Kurve, die mich geradezu in Ungewißheit läßt, ob sie am Ende nicht doch in einen Kreis münden würde oder längst in sich zurückgemündet ist. Es scheint, als umrundete ich einen Berg mit kreisförmigem Grundriß und meilenweitem Umfang fast vollständig, bis zu jener benachbarten Stelle, die von meinem Ausgangsort nur durch eine schmale, aber beidseitig fichtenbestandene Wand getrennt ist; einen papierenen Wald, dessen Erde zu durchstoßen viel einfacher gewesen wäre als den ganzen Berg zu umkreisen. Das Donnern ist verstummt, als ich schließlich statt des immergleichen, nach rechts verschwindenden Wegausschnitts eine kleine Einbuchtung vor mir habe, um die sich der Weg nach links biegt, eine weiße Schlaufe, in der ich eine dunkle, spiegelnde Fläche umgehe: dort fließt ein Bach oder beginnt ein Teich, dessen kleine Bucht unkenntlich zwischen den hohen Fichtenschatten verschwindet oder versandet. Obwohl ich nahe daran stehenbleibe und diese tief scheinende Fläche beobachte, kann ich nicht unterscheiden, ob das träge Ineinanderfließen von dunklen und dunkleren Bewegungen, langsamen und langsameren Aufhellungen eigentlich im Wasser geschieht, oder darunter, oder in den schiebenden Wolken, die sich so tief darüberneigen. Ich kann auch nichts hören von diesem Gewässer, das etwa zwei Meter unterhalb von mir liegt, kein Fließen oder Plätschern oder einen leise gurgelnden Sog, wie ihn ein Stein am Rand eines Baches erzeugen kann. Es ist jedenfalls nicht lauter als die Geräusche des Schnees, der Bäume und des Wetters. (Einige Atemzüge lang meine ich – nur um meiner Wahrnehmung doch irgendein Ergebnis aufzuzwingen – ein träg sich bildendes, ruhiges und träg wieder zerfließendes Auge erkennen zu können.) Ich richte mich aus meiner Hocke auf, schüttle mich unwillkürlich, vor Kälte, und gehe weiter.
Vor mir liegt eine gerade Strecke, die im gewittrigen Halbdunkel grauweiß ansteigt. Ich sehe nicht, wie weit oder wie hoch, aber nach einiger Zeit meine ich fast, eine Hyperbel hinaufzusteigen, die mit jedem noch so kleinen Schritt ihren Steigungswinkel erhöht. (Man beginnt mit derartigen Vorstellungen, wenn man im Dunkeln einen weiten Weg hat.) Links die immerneuen Verwerfungen der Luft, rechts der unabsehbare Steilhang und zwischen beiden eine stete, zehrende Anstrengung. Keine Veränderung des Weges oder der Umgebung. Immer wieder überwinde ich eine Strecke, die man eben noch überwinden kann, ohne die Erwartung zu erschöpfen, danach käme endlich eine Biegung, ein anderer Anblick. Und immer wieder schließt sich eine ebensolche, unveränderte Strecke an, als könnte man zugleich umkehren und in dieselbe Richtung weitergehen. Wie lange? Kann man das sagen, wenn nach vielleicht einer oder vielleicht zwei Stunden schon zwanzig Minuten eine Stunde werden können? Wenn die eingebildeten Strecken, die man gerade noch aushält, bevor man ihre Wiederholung feststellen muß, immer kürzer werden; aber die Zeit, die man auf jeder Strecke länger werden fühlt, dennoch die gleiche bleibt? Gedächtnis und Wechsel, das Bewußtsein von Veränderungen schaffen die Zeit: unser Bild eines Rahmens – unsere Erwartung neuer Bilder. Eine Dimension der Hoffnung, tickend unter Menschenhänden; der allerhaltende Pulsschlag, dessen stete Bewegung uns versöhnt; der sichere Weg zum Jetzt, die stumm versprochene Zukunft und die Macht zu verursachen. Erst dadurch, daß ihre Bewegung versöhnt, droht uns das Gegenteil; dadurch, daß sie Leben verheißt, bedrängt uns die Zeit ohne Wechsel. Denn hätten wir ein unbewegtes Leben, dann hätten wir keinen Tod. Wüßten wir um ein Leben ohne Wechsel, hätten wir den Tod vergessen. Doch in der reglosen Gleichförmigkeit – schlimmer noch: in der bewegten, der unzählbaren Wiederholung derselben kleinstmöglichen Veränderung wie zweier sich abwechselnder Schritte – überfällt einen die ganze Angst, aus der Welt geirrt zu sein. Aus dem ewigbewegten Raum hinaus einen zeitlosen Weg zu gehen, der ewig nirgends endet.
Erst als rechts von mir plötzlich durch die letzten Wipfel der Fichten der Himmel hinflutet, bleibe ich stehen. Wie mit einer eigenen Bewegung hat er mich umgeben, den schwarzen Felshang mit gewittrigem Licht überspült und die Erde in eine wogende Wildnis der Luft getaucht. Ich schöpfe Atem und schaue hinter mich. Im ganzen Kreis des Horizonts ist ein Gebirge von Wind und Wolken aufgeworfen, desssen unruhige Kämme blitzend erleuchtet werden. Die Hänge sind davon bedeckt, die Wälder darunter verschwunden, und nichts außer dem Boden, auf dem man steht, ist einem näher als der Himmel. Nur an einem hohen Schatten, der rechts hinaufragt, in der Mitte zwischen mir und dem Ende meines Blicks, erkenne ich die Welt. Dort umreißt das blaß-schwarze Wetter jenen spitzen Berg, den ich zuvor fast ganz umwandert habe: regelmäßig wie ein gleichschenkliges Dreieck, mit steilen, flachen Hängen; in der Mitte schneidet ihn der schneehelle Weg. Ganz ähnlich einem großen A steht er in den weiten, kreisenden Himmel hinein. Wie die letzte Insel eines allmächtigen Meeres.

Ich überblicke es, doch ich stehe nicht weit darüber; schon in halber Ferne erkenne ich es nicht mehr als Fläche, nur noch an emporgeschleuderten Wogen, die in weißen Blitzen stehen, oder am kreisrund aufgewölbten Rand eines hinabwindenden Strudels, der seine Richtung zu ändern scheint, sobald man hinsieht, und derart langsam dreht, daß er auch still stehen könnte. Nach wenigen Momenten in dieser Gewitterflut kommt mir die Erde kaum noch als eine Erinnerung vor; Wälder, Schnee und Häuser liegen unter der tosenden Gegenwart versunken wie die Erinnerung an einen Traum, die ein Schlafloser haben mag. Nichts, was ich sehe, ist berührbar, die sturmweite Landschaft umher unbegehbar wie ein Ozean. Nur jener A-förmige Berg ist geblieben. Nur er, denke ich, gehört noch zur Gegenwart. Und trotz seiner Entfernung ist er mir weniger fern als die Wolkenhügel zu meinen Seiten. Ich betrachte ihn im Wechsel von zuckendem Licht und darüberfließenden Schatten. Diesen Weg, der das A wie ein Querbalken schneidet und ebenso um den Berg läuft wie der, den ich kam, kann ich heute im Schnee jedoch nicht gegangen sein. Er liegt ja höher als mein Standpunkt, zu dem ich eine unschätzbare Zeit hinaufgestiegen bin. So lag auch die endlose Kurve, in der ich den Berg umrundet habe, nicht schon in den Wolken; man konnte nach links die abschüssigen Wälder sehen, nach vorne den Wegrand darüber und nach rechts den Hang hinauf bis zu den höchsten Fichtenästen; es war nicht einmal neblig. Doch nirgends führte von meinem Weg ein zweiter ab, der sich nach oben weiter um den Berg gewunden hätte, obwohl ich doch nahezu seinem ganzen Umfang gefolgt bin. Notwendigerweise, überlege ich, kann der Weg, den ich dort sehe, nur über jenen Grat weiterführen, der den Kreis meiner Umrundung unterbrochen hat. (Denn kein Weg hat den meinen geschnitten, und mein Weg war ein einmal unterbrochener Kreis; sollte es also eine Verbindung der außerhalb liegenden Welt mit diesem innerhalb liegenden Wegstück geben, dann an genau dieser Stelle der Unterbrechung.) Er schien mir dünn wie eine Wand, weil ich doch glaubte, mindestens ganz um den Berg gewandert zu sein; aber das hatte ich überempfunden, schließlich wuchsen Fichten an dieser ‚Wand’. Dann, nachdem ich zu dem Teich gekommen war, entfernte ich mich von ihr, während der steile Hang doch weiter rechts von mir anstieg. Ich bin also dem Verlauf des Grats gefolgt, der sich freilich immer mehr verbreitert haben mußte. Er könnte sich nachgerade zu einer Hochebene ausgedehnt haben. Ja, wie ich meinen gesamten Weg zurückverfolge, schließe ich, daß es tatsächlich eine Hochebene sein muß, an deren Felswand ich die ganze Zeit entlanggegangen bin und der jener Berg, den ich umkreist habe, vorgelagert ist. Sie ist durch den Grat mit dem gleich hohen Niveau des Berges verbunden; über sie müßte auch ein Weg führen, der die Mitte dieses A’s durchquert und sich wohl noch weiter hinaufwindet, womöglich bis zum Gipfel. – Plötzlich geht mir auf, daß ich jetzt, rings von Himmel umgeben, diese Hochebene erreicht haben muß. Sie muß dicht unter der Wolkenflut verlaufen. Ich stehe darauf.
Da blicke ich an mir hinab. Ich spüre es, bevor ich es sehe, und ich kann nicht sagen, ob ich zuerst erschrecke und deshalb hinuntersehe oder umgekehrt. Ich spüre eine Kälte, die durch meine Schuhe dringt, bis an die Knöchel; sie ist mir vertraut und scheint unwirklich… Wie wenn man nachts im Bett erwachen und Rinde fühlen würde, in der Haltung hingedreht zu jemand, doch unter den Händen nur Rinde, die schuppige Rinde eines Baumes fühlen würde; man erkennte sie gleich, ihre vertraute Beschaffenheit, und doch: unwirklich, denn man liegt ja zuhause im Bett, in irgendeinem liebevollen Heim, man muß sich täuschen; und es wäre ganz finster, man müßte seinem Tastsinn glauben, die Augen gewöhnten sich nur langsam ans Dunkel, an den Mond oder eine Straßenlaterne; indessen dächte man beunruhigt nach und immer unruhiger, denn dies läßt sich kaum erklären; man müßte sich vergewissern, aber das Dunkel bliebe dicht wie eine Binde, und man könnte nicht wie sonst, wenn man nachts aufwacht, nach Umrissen erraten; da würde man ahnen, daß dies nur ein Traum sei, in dem man denkt und sucht, und sich bemühen aufzuwachen; gleich wäre man wach und läge zuhause im Bett, einen Menschen im Arm, der alles besänftigen würde; und ja – man hat geträumt, jetzt sieht man halb, der Mond beweist die Welt, und man ist wach: man sieht und fühlt in seinen Armen die Rinde, denn man ist erschöpft an einer Fichte eingeschlafen, mitten in Wald und Nacht, nach vergessenem Tag, und hat den nächsten Baum umarmt wie seinen nächsten Menschen. – Man will sich vergewissern, daß man sich täuscht, und erkennt, daß gerade die Täuschung wirklich ist, dagegen alles, was man für gewiß hielt, Täuschung; man vergewissert sich der Wirklichkeit und verliert sie. Und so erkenne ich, als ich hinuntersehe, daß mich die Empfindung einer flüssigen Kälte nicht getäuscht hat. Ich blicke zu Boden – und sehe ihn nicht. Meine Schuhe sind verschwunden in einem grauen, kalten, strömenden Gewässer. Entsetzt spähe ich umher: die heranflutenden Wolken sind keine Wolken. Der wogende Himmel ist ein wogendes Meer.




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