31.12.2007

Die Pfahlsitzer - Dritter Akt


Bühnenbild fast wie zuvor: die Pfähle noch ein Stück weiter vorn. Um Herbstanfang. Links und rechts von den Pfählen – die symmetrisch um die Bühnenmitte angeordnet sind - steht je einer der Betreuer im FBI-Look mit Sonnenbrille und Pokerface, breitbeinig, die Hände vorm Schoß – als gälte es, die flachländischen ‚triplet towers‘ zu bewachen. Die Pfahlsitzer haben sich, zum Schutz vor dem Wind, wieder in ihre Planen gehüllt. Sonst ist niemand auf der Bühne. Die Leierkastenmusik und die Achterbahn sind leiser und undeutlicher als im vorigen Akt, wie ferner. Dazu Windgeräusch.


KORDULA fröstelnd: Scheißwind!

Pause.

ROLAND: Ich hab gedacht, das macht dir nix aus?

KORDULA: Seit wann duzen wir uns?

WILKO: Seit wann redet ihr wieder miteinander?

KORDULA: Ich wüßte nicht, mit wem ich geredet hätte. Ich hab nur gesagt: Scheißwind.

Pause.

WILKO: Wie geht’s denn mit den Zahnschmerzen?

KORDULA: Das mein ich ja mit ‚Scheißwind.‘

ROLAND: Ach, welche Zahnschmerzen denn?

WILKO: Einen Vorteil hat die Kälte ja schon. Die Beine sind nicht mehr so angeschwollen.

KORDULA: Das ist wahr.

ROLAND: Ach, ihr hattet angeschwollene Beine?

KORDULA: Und du hattest von dem bißchen Sonne tolle Brandblasen im Gesicht!

WILKO: Das ist wahr.

ROLAND: Seit wann duzen wir uns?

KORDULA: Seit wann reden wir wieder miteinander?

Pause.

WILKO: Wenn ihr wieder miteinander reden würdet, könnte ich auch ruhig absteigen. Ohne

daß ihr euch gleich die Köppe einschlagt.

KORDULA: Die Mühe werd ich mir nicht machen.

ROLAND: Ach, du willst absteigen?

WILKO: Nee... Pause. Aber irgendwann schon...

Pause.

WILKO: Jetzt, wo der Weltrekord weg ist... Also wo ich ihn hab...

ROLAND: Nicht nur du!

KORDULA zu Roland: Und auch nicht nur du!

ROLAND: Ich hab einen Vorsprung von dreiundfünfzig Stunden und zehn Minuten!

KORDULA: Ja, weil du dich nicht wäschst!

Pause.

WILKO: Meine Freundin hat gestern angerufen... Eigentlich wollten wir ja schon längst

verheiratet sein... Seit Frühling... Na ja... Und jetzt ist noch ihr Onkel im Krankenhaus... Den kenn ich gut... Krebs hat der. Pause. Aber es geht noch. Wahrscheinlich operieren sie ihn. Dann könnte er sowieso nicht zur Hochzeit kommen... Hab ich gesagt... Na ja... Heiraten wir eben später... vielleicht...

Pause.

KORDULA bissig: Und wann heiraten Sie, Herr Maierle?

ROLAND ruhig, trotzig: Wahrscheinlich sehr bald.

Pause. Kordula fängt an zu lachen, hört aber sofort wieder auf und hält sich die Backe. Roland sieht zu ihr hinüber.

ROLAND siegessüchtig: Ich habe keine Schmerzen. Und ich habe keinen, der an Krebs

sterben könnte. Deshalb werde ich Weltmeister! Ich kriege die 35.000 Mark! Und der Titel kommt nach Baden-Württemberg!

KORDULA gereizt: Du bist sowas von lachhaft mit deinem Baden-Württemberg. Wieviele

Zeitungen aus Schwaben haben denn bei dir angerufen? Wieviel Post kriegst du denn von daheim? Wie oft bist du denn am Elften hier interviewt worden? Deinem Superland da unten bist du doch total gleichgültig! So sieht’s doch aus! Uns bist du egal, dem Park bist du egal, und den Kontaktanzeigenweibern bist du egal! Und Schwaben bist du noch dreimal egal! Sieh dich doch mal an: ein Außenseiter, der auf einem Pfahl sitzt, damit ihn überhaupt mal jemand bemerkt! Eine Lachnummer bist du! Und zwar eine traurige! Weltmeister im Sitzen! – Das ist wie Weltmeister in Langeweile, im Nichtskönnen, wie Weltmeister im Allen-Anderen-Scheißegal-Sein! Das bist du! Gratuliere.

Pause. Allen Dreien ist danach unwohl. Roland setzt ein sehr gleichgültiges Gesicht auf und beginnt, einen Stapel Zeitungen durchzublättern.

WILKO möchte eigentlich das Thema wechseln, zu Kordula: Hat dich dein Freund gestern

eigentlich noch zurückgerufen?

KORDULA schnippisch: Welcher Freund?

Pause. Kordula beginnt trotz der Wind-Plane, die sie mit einer Hand zusammenhält, zu lesen – in einem Buch über Buddhismus etwa, einem Lebensratgeber oder irgendeinem anderen Sinn-Schmöker, zum Beispiel dem populärtheologischen Wälzer von Hans Küng: „Existiert Gott?“ Während des Folgenden einzelne starke, kalte Windstöße. Wilko stellt sein Radio an.

AUS DEM RADIO: ein Trauermarsch, etwa aus der Es-Dur-Symphonie von Beethoven -

Wilko dreht weiter – Experten-Stimme: ... diese barbarischen und feigen Anschläge auf die westliche Zivilisation und Demokratie... – er dreht weiter - zweite Experten-Stimme: ... diese gefährliche Vitalität des islamischen Fundamentalismus nicht zuletzt aus einem gravierenden Unterlegenheitsgefühl heraus... – er dreht weiter – aus einem Requiem, etwa das Lacrimosa aus Mozarts – er dreht weiter – ein Nachrichtensprecher: ... sich auf einen langen Krieg ohne Schlachtfelder und Landungsplätze vorbereiten, sagte der amerikanische Präsident am Wochenende in Camp David. Dennoch müsse jede militärische Aktion auf starken Beweisen beruhen... – er dreht weiter – eine Nachrichtensprecherin: ... sein Ministerium prüfe derzeit alle Möglichkeiten der Bundeswehr zum Beistand für die USA... – er dreht weiter – Ritt der Walküren aus dem dritten Akt von Wagners „Die Walküre“ – er dreht weiter – Parlametarier: ... gibt es nach meinem Wissen maximal drei überzeugte Pazifisten in der SPD-Fraktion... – er dreht weiter – ein Nachrichtensprecher: ... im Anschluß an die Anteilnahmsbekundung der Bundesregierung nun auch die Opposition... – er dreht weiter – eine Nachrichtensprecherin: ... nun auch der niedersächsische Ministerpräsident... – er dreht weiter – ein Nachrichtensprecher: ... nun auch der Oberbürgermeister von Hannover... – er dreht weiter – die Rolling Stones spielen ‚(I can’t get no) Satisfaction‘ – Wilko dreht lauter.

KORDULA nach einigen Sekunden, sieht auf: Kannst du das Ding nicht abstellen, bitte?

Wilko stellt es ab. Pause. Kordula legt das Buch weg. Windstoß. Sie hält sich die Backe. Alle drei wickeln sich fester in ihre Planen ein. Ein Parkarbeiter kommt, Blaumann, die BILD-Zeitung unterm Arm, zu Wilkos Pfahl.

ARBEITER: Tach, Herr Peschke.

WILKO: Hallo, Werner. Der Arbeiter gibt ihm die Zeitung. Schon so früh heute?

ARBEITER: Hab nur so drübergeguckt. Steht ja eh jetzt überall dasselbe.

WILKO: Ach so. Ja. Im Radio auch.

ARBEITER: Überall. Alles Amerika.

ROLAND mürrisch hinter seiner Zeitung hervor: Kann man wohl sagen!

ARBEITER: Können froh sein, Herr Peschke, daß Sie noch hier sitzen dürfen und nicht runter

müssen nach Arabien!

WILKO: Nee, hab ja Zivi gemacht.

ARBEITER: Na ja, die müssen irgendwann auch runter. Für Erste Hilfe und den ganzen

Friedenskram.

WILKO: Noch ist ja kein Krieg.

ARBEITER: Kommt alles. Pause. Für wen sind Sie denn eigentlich, Herr Peschke? Also, für

die Amis oder für die... die dagegen sind?

WILKO: Also, ich find’s schon schlimm, was da passiert ist...

ARBEITER rasch: Um Gottes willen, sicher, klar, will ich meinen, das war ja Terrorismus,

oder? Also so seh ich das auch. Klar... Pause. Er gähnt. Bei Ihnen ist ja auch nicht gerade die Hölle los...

WILKO: Nee, der Rummel hat sich ziemlich gelegt. Hier sind kaum noch Leute.

ARBEITER: Na dann brauchen Sie ja auch Ihren Schirm nicht mehr. Den hatten Sie doch

paar Mal, als ich hier war. Damit die Leute Sie nicht den ganzen Tag anglotzen.

ROLAND läßt die Zeitung sinken: Ich bin froh, daß das jetzt weniger geworden ist. Mir ging

der Rummel auch auf die Nerven. Das lenkt nur ab. Die Fernsehleute, die ganze Fanpost. Ist doch albern alles. Quatsch. So ist es schön ruhig. Ein paar Besucher, die hübschen Häuser hier, die Natur. Fast wie in Schwaben.

Pause. Kordula hat ihm zugehört und ihn spöttisch angesehen.

ARBEITER: Der Regen vor allem, der Regen macht das. Bei uns hinten haben die auch nix

zu tun. Kommt ja keiner, wenn’s regnet. Und wenn’s dann noch überall heißt: der Islam kommt er betont Ís-lam – ja wer will da noch auf die Achterbahn? Pause. Leise: Übrigens, wenn Sie mich fragen, also... dann geht’s hier sowieso bergab. Alles Fehlspekulation – wie man da sagt. Die Holzachterbahn hinten, „Titanja“ sic! fünfzig Millionen oder was, dann das Wetter, jetzt noch die Amis - das is schlecht fürs Geschäft. Fehlspekulation, sag ich Ihnen, total. Da kenn ich mich als Parkmitarbeiter schon ein bißchen aus. Und ich sag Ihnen noch was, Herr Peschke, weil Sie’s sind – das ist Betriebsgeheimnis, sozusagen: also... flüstert zu Wilko hinauf, der sich höflich hinunterneigt: Wir planen jetzt was Neues, ein Riesending - ‘ne Achterbahn aus Stahl, und zwar: die größte der Welt! Die größte Stahlachterbahn der Welt kommt! Kostenpunkt – wie wir sagen: äh... hundert... hundert Millionen... Dollar! laut und deutlich, jovial: Also, Sie können mir glauben, bei hundert Millionen Dollar komme sogar ich ins Schwitzen. Na ja. Mal sehn, wie’s läuft. Also, machen Sie’s gut, Herr Peschke. Wiedersehn, die Herrschaften. Stolziert ab.

Pause. Roland läßt wieder die Zeitung sinken.

ROLAND zu Wilko: Worum ging’s denn?

WILKO: Die wollen wieder groß bauen hier. Aber dem Park geht’s nicht gut.

KORDULA: Hab ich auch schon gelesen irgendwo.

ROLAND mißtrauisch: Ihr glaubt wohl, jeder, der nicht aus dem Norden ist, ist blöd. Weil

ihr allmählich kalte Ärsche kriegt, kommt jetzt wieder die Leier mit dem Teilen. Aber ich bleib hier sitzen. Und wenn der ganze Park verkauft wird. Ich bleib, bis ihr weg seid. Und wenn ich bis zum nächsten Sommer hier hocken muß!

Pause. Er blättert weiter in der Zeitung. Kordula winkt ab. Wilko legt die BILD-Zeitung beiseite und liest stattdessen in einem Regionalblatt. Kordula macht Sitzgymnastik.

WILKO: Stellt euch mal vor, da wird seit einem halben Jahr ein achtjähriger Junge vermißt.

Hier steht, sein Großvater hätte hier beim Pfahlsitzen mitgemacht... Er liest vor: „Es handelt sich dabei um Amos Che Wampenhäger-Rosenzweig aus Bremen, dessen Großvater am 1.April an der Weltmeisterschaft im Pfahlsitzen teilnahm, die alljährlich im Sohlgauer Flachland-Park stattfindet. Im Verlauf der Eröffnungsveranstaltung sei sein Enkel von der Masse der Schaulustigen mitgerissen worden und nicht mehr zurückgekehrt, gab der 63-jährige bekannt.“

Roland sieht gelangweilt aus seiner Zeitung hervor.

KORDULA hat währenddessen ihre Gymnastik eingestellt und genau zugehört, betroffen:

Das kann doch nicht sein... Wampenjäger? Hat der nicht hier auf Pfahl eins gesessen? Dieser Büromensch, mit dem Rheuma oder was der hatte?

WILKO liest: „Amos Che Wampenhäger-Rosenzweig“, so heißt der arme Junge.

KORDULA: Das muß der Kleine sein, der hier gestanden hat. Ganz lieb war der... so ein

stilles und scheues Kind... und blaß...

WILKO liest: „Im Verlauf der Eröffnungsveranstaltung... von der Masse der Schaulustigen

mitgerissen-„

KORDULA unterbricht: Das stimmt ja nicht! Ich hab gehört, wie er den Kleinen weggejagt

hat! Verschwinde, hat er zu ihm gesagt... So ein Fiesling! Und an meinem Geburtstag war der noch hier und hat gejammert, daß sein Enkel verschwunden ist... Da wird er sich jetzt seine Gedanken machen... Pause; zunehmend leise und traurig, monologisch: Ein halbes Jahr vermißt? Der muß doch längst - ... Wenn niemand was von ihm gehört hat... Ach Gott. Der arme Kleine... Er hat sich noch so gefreut, daß sein Opa hier im Park... Dein Opa kommt ins Fernsehn, hat der gesagt, wie der Präsident... So ein liebes Kind...

Noch während Kordula diese Sätze, langsam und pausenreich, spricht, hört man hinter der Szene folgende Stimmen:

KLEINER JUNGE: Nein, ich hab Angst!

MANN: Aber wovor denn? Die sitzen doch nur da.

FRAU zum Mann: Aber wir gehen schnell vorbei. Ich will’s mir nur kurz ansehen. Hörst du?

Nur kurz! Nicht daß die denken, wir kämen wegen ihnen.

Sie betreten die Bühne und gehen langsam an den Pfählen vorüber. Der Junge starrt angstvoll zu den Pfählen, der Vater nimmt ihn bei der Hand. Kordula erblickt den Jungen und lächelt. Die Frau hat einen bissigen, bitteren Ausdruck.

FRAU kopfschüttelnd, laut: Die hocken ja immer noch da. Sieh dir diese Verrückten an,

Hans-Olaf!

MANN: Nicht so laut, Felicitas!

JUNGE heult, immer auf die Pfähle starrend: Ich hab Angst, ich hab Angst!

FRAU immer noch laut: Nur um zu aufzufallen! Das ist heute das Wichtigste. Auffallen und

Spaß haben!

MANN: Sei doch leiser!

FRAU ruft zu den Pfählen hinüber: Ihr blöden Affen!

MANN: Was soll denn das?! Siehst du nicht, daß sie bewacht werden?

JUNGE wie oben: Ich will weg, ich will weg! Papaaa!

FRAU wie oben: Guck dir mal das blonde Luder da an, Hans-Olaf! Das ist auch so eine wie

die von Eva. Hübsch sein, auffallen, Spaß haben. Von Arbeit und Ehe will die nix wissen! Verantwortung? Familie? – Bloß nicht! Treue? - Wie Feuer und Wasser! Aber von einem Bett ins andere fallen! Sich nur gleich hinlegen! ruft zu Kordula: Sie Drecksweib!

MANN will sie wegziehen, muß sich aber um den Jungen kümmern: Felicitas, das reicht

jetzt!

JUNGE schreit währenddessen: Hilfe! Papi! Ich will nicht! Ich will weg! Hilfe!

Die Mutter geht jetzt rasch auf Kordulas Pfahl zu. Kordula bleibt während des Ganzen völlig wehrlos.

FRAU: Solche wie Sie kenne ich! Diese geilen Blondchen! Ja, das mögen die Männer, was?

Sie sind keine Frau - Sie sind eine Jauchegrube, wissen Sie das? Monatelang mit zwei Männern hier unter freiem Himmel! Auf diesem Phallus rumlungern! Sich durchfüttern lassen und dann noch Geld kriegen! Wie würden Sie das nennen? Hurerei nenn ich das! Ich habe diese Zeitungsartikel alle gelesen, diese ganze wiederliche Wichtigtuerei! In Ihrem Alter war ich längst Hausfrau und Mutter! Hatte Verantwortung zu tragen. Das war mir wichtig! Und überhaupt: schämen Sie sich denn nicht, jetzt noch damit weiterzumachen? Jetzt, wo diese entsetzlichen Ereignisse stattgefunden haben? Andere Menschen krepieren! Springen aus dem Fenster! Verbrennen! Explodieren!! Und Sie? - Hocken breitbeinig auf Ihrem Pfahl! Aber jetzt ist Schluß damit, das sage ich Ihnen! Jetzt wird es nämlich Krieg geben, jawohl! Krieg – verstehst du? Schluß mit der Gammelei! Krieg! Da hört der Spaß auf! Da liegen die Männer auf dem Schlachtfeld - nicht mehr in deinem Bett! Jawohl! Krieg!

Währenddessen versucht der Mann, seine Gattin zurückzuhalten und zugleich den Jungen zu beruhigen, der immer wieder „Ich will weg! Ich will nicht auf den Pfahl! Hilfe! Papi! Ich will nicht auf den Pfahl“ etc. plärrt. Als die Frau anfängt, „Krieg!“ zu schreien, greifen die beiden Aufseher ein – nachdem sie zuvor unschlüssige Blicke gewechselt haben – und führen sie von der Bühne.

FRAU während sie gepackt und abgeführt wird: Was soll das? Was wollt ihr von mir? Wollt

ihr mich etwa vergewaltigen? Ihr wollt mich vergewaltigen, stimmt’s? Hab ich recht? Natürlich! Ihr seid ja Männer! Außerdem sind wir im Krieg! Da wird eben vergewaltigt! Jeder kann jede vergewaltigen, einfach so hernehmen, unter freiem Himmel! O ihr Barbaren! Wie stark ihr seid! Ihr Krieger! Ihr Hunnen! Ihr Terroristen!

Die letzten Ausrufe hinter der Szene sich entfernend. Der Mann nimmt den Jungen nachher in dieselbe Richtung mit sich fort.

JUNGE weint: Ich will nicht auf den Pfahl!

MANN geduldig: Aber das mußt du doch auch nicht.

JUNGE: Doch, doch!

MANN: Du bleibst doch immer bei uns. Du bleibst doch immer unser kleiner Hans-Dieter.

Sie gehen ab.

JUNGE: Nein, nein. Ich will nicht auf den Pfahl. Hinter der Szene: Ich will lieber klein

bleiben.

Stille. Kordula verliert die Fassung und beginnt laut zu schluchzen. Alle drei auf den Pfählen wirken einigermaßen verstört, sogar Roland sieht überrascht aus. Lange Pause.

WILKO ins Publikum starrend: Ich glaube, wir sollten absteigen.

Pause. Roland sieht ihn an. Kordula weint.

WILKO erregt: Ich meine: wir können doch absteigen!

Pause.

ROLAND nach vor blickend: Ich kann nicht.

Pause.

WILKO entschlossen: Ich steig ab!

Sofort Dunkelheit und Stille. Einige Sekunden. Dann Morgendämmerung: im allmählich erhellten Dunkel erscheinen die Pfähle zunächst unbesetzt; dann erkennt man die Pfahlsitzer in Schlafstellung, die Oberkörper so tief gebeugt wie möglich.

KORDULA im Schlaf: Kind... da bist du ja... keine Angst haben... komm nur... armer

Kleiner... so scheu bist du... komm mein Liebling... keine Angst... Mama hält dich fest... ganz kalt... du Armer... so blaß... komm... komm nur... ist kalt... ganz kalt...

Pause.

ROLAND im Schlaf: Bin im Theater... oft... Architektur... auch meine Interessen... auch...

feinfühlig... gebildet... charmant... oft... Costa Blanca... auch... Schwaben... Segeln... bald... unabhängig... hoffe sehe Sie... bald... sehr bald...

Stille. Wilko richtet sich auf. In Umrissen sieht man ihn sich strecken, die Augen reiben, umsehen, dann die Hantel hervornehmen. Während er hantelt, wird es morgenhell. Der Leierkastenmann überquert die Bühne; diesmal ist es nicht mehr der Greis, sondern ein neuer Angestellter, um die Fünfzig, der nach Alkoholiker aussieht.

NEUER LEIERKASTENMANN: Tach.

WILKO: Morgen, Herr Schröder.

Er zieht vorbei. Stille. Dann Leierkastenmusik. Einige Momente später die Achterbahngeräusche. Beides leise und unauffällig.

ROLAND erwacht, sieht Wilko: Immer noch da?

WILKO weiterhantelnd: Morgen, Roland..

ROLAND: Du wolltest doch absteigen.

WILKO: Ja. Wollte ich.

ROLAND: Und?

WILKO: Bald ist hier Winterpause.

ROLAND: Ja. Und?

WILKO: Dann steig ich ab.

Pause.

ROLAND: Ich nicht.

WILKO: Und wenn du mußt?

ROLAND: Ich weiß bescheid. Der Park will uns auf keinen Fall drängen abzusteigen.

Gesundheitlich sind wir in Topform. Steht in der Zeitung.

WILKO: Und wenn der Frost kommt?

Pause.

ROLAND: Kommt nicht. Dauert noch.

WILKO: Hier im Norden wird es im Oktober schon ganz schön kalt.

ROLAND: Ich bin vor dem Wettbewerb jeden Tag mit dem Fahrad zur Arbeit. Sechzig

Kilometer. Bei jedem Wetter. Ich werd nicht krank. Kurze Pause. Und früher wollte

ich sowieso immer zu den Gebirgsjägern. Pause. Außerdem...

WILKO: Was?

ROLAND deutet auf Kordula: Die steigt eh bald ab. Die ist fertig. Am Ende.

Kordula erwacht, lächelnd, sieht sich in der Wirklichkeit um und erschrickt.

ROLAND: Da siehst du’s.

WILKO: Guten Morgen.

KORDULA seufzend: Morgen, Wilko.

Roland wendet sich ab und blättert in seinen Zeitungen.

KORDULA: Ich hatte schon Angst, du wärst abgestiegen.

WILKO: Nee. Ich steig aber ab.

KORDULA: Wann? Heute?

WILKO: Nee... Aber bald. Pause. Zur Winterpause.

Pause.

KORDULA deutet auf Roland: Und der?

WILKO: Bleibt hocken. Nix zu machen.

KORDULA ungebrochen: Dann bleib ich auch. Ich steig nicht vor dem ab. Baden-

Württemberg muß untergehen!

Pause. Roland hat aufgehorcht.

WILKO: Und wenn’s Frost gibt?

KORDULA: Ich hab mir schon einen Bundeswehrschlafsack bestellt. Der hält bis minus 25

Grad. laut: Ist das in Schwaben angekommen? Bis minus 25 Grad!

ROLAND: Kein gutes Zeichen, wenn du dann schon einen Schlafsack brauchst.

KORDULA: Seit wann duzen Sie mich?

ROLAND: Ich rede ja gar nicht mit dir!

KORDULA: Und ich höre dir gar nicht zu!

Ein Betreuer kommt mit der Post.

BETREUER: Moin zusammen.

KORDULA: Moin.

WILKO: Moin, Egon.

BETREUER: Post. Er gibt Kordula eine Zeitung und drei Briefe, Wilko zwei Briefe und

Roland nur eine Zeitung.

BETREUER: Habt ihr schon gehört? Ganz schöne Sauerei! Bestimmt die Amis dahinter... Da

hat’s uns jetzt also auch erwischt.

KORDULA: Was denn?

BETREUER im Abgehen: Steht in der Landeszeitung. Immer drauf auf den kleinen Mann. So

läuft das.

KORDULA: Was meint er?

WILKO gleichgültig: Hörst doch, die Amis. Krieg halt.

KORDULA sieht aufs Titelblatt: Hast recht, hier: „Regierung sichert USA volle

Unterstützung zu.“

WILKO öffnet die Briefe: Fanpost ist auch ziemlich zurückgegangen...

Kordula beginnt ebenfalls ihre Briefe zu öffnen. Roland liest in der neuen Zeitung.

KORDULA: Ja... Autogramme auch...

Pause. Sie lesen.

ROLAND monologisch, aber normallaut: Sogar im „Schwäbischen Boten“ interessiert man

sich für nix anderes... blättert, ärgerlich: Für nix anderes! Dabei passieren doch genug interessante und wichtige Sachen jetzt in der Welt - gerade für Schwaben!

WILKO zerknüllt einen der Briefe, liest im zweiten: Na, wenigstens sympathisch findet der

mich...

KORDULA: Und? Was schreiben sie?

WILKO: Der eine, daß er meine Freundin vergewaltigen will. Für den andern bin ich

wenigstens liest: „ein Sympathisant.“

ROLAND blättert wütend die Zeitung durch: Sogar im Regionalteil nur noch New York!

Kränze, Kerzen – nix als Gerümpel! liest Jetzt haben sie sogar in Stuttgart

demonstriert! Zum Auswandern ist das!

KORDULA zu Wilko: Hier, hör mal. liest vor: „Ich finde nicht nur Ihre sportliche Leistung

beeindruckend, sondern noch vielmehr Ihre Vorbildfunktion. Als Pfahlsitzerin gehen Sie mit gutem Beispiel voran. Gerade in diesen Zeiten ist Sturheit gefragt. Und zwar im Namen der Menschenrechte. Wir bleiben auf unserem Platz, in unserem Land! Hätten die Terroristen das getan, dann wäre New York jetzt noch ganz. Sehr gut! Mit Sitzfleisch für den Frieden!“

Roland zerknüllt wütend die Zeitung und wirft sie weg.

KORDULA: Die andern beiden sind aber auch nur Beschimpfungen. liest vor:

„geschmacklos, menschenverachtend und antisemitisch“ und hier liest: „Ihr seid die Terroristen von morgen!“

ROLAND mit wütendem Trotz: Das kann gut sein! Sie sehen ihn an. Schön wär’s! Pause.

Er sieht zu ihnen hinüber. Die haben gewußt, wie man’s macht. Mit den Flugzeugen. Das war geklotzt, nicht gekleckert! Respekt! Kurze Pause. Da kommen wir nicht gegen an. Können wir noch zwohundert Tage sitzen! – Nix. Funkstille. So ist das. Sich umsonst den Arsch plattgehockt. Aber abwarten! Irgendwann ist auch wieder Ruhe. Wenn das Ding wieder aufgebaut ist. Wenn der Krieg vorbei ist. Und dann sitz ich immer noch! Jaha! Könnt ihr Bomben draufwerfen. Pause. Ich hab doch damals Pershing-Raketen bewacht. Für die Amerikaner. Ohne mich könnten die den Krieg jetzt gar nicht führen! Wärn gar keine Waffen da! Ich hab die Waffen geschützt, die jetzt ihr Land beschützen sollen! Und wo ist der Dank? Meine Steuern hängen da doch auch überall mit drin. Und ich hab noch nie schwarz gearbeitet. Noch nie! Und wie wird das belohnt? Keine Sau in Schwaben merkt, daß ich hier für mein Land sitze! Weltmeister bin! Für Demonstrationen von irgendwelchen Drogensüchtigen ist soviel Platz Er zeigt wieviel. Und für den Weltrekord war’s nur soviel zeigt Ist denen scheißegal! Gut, sag ich: dann seid ihr mir auch scheißegal! Irgendwann. Dann mach ich das nämlich genauso. Dann steig ich ab und - werd Terrorist! Abwarten! Und dann rein nach Schwaben! Gut vorbereitet ins Stuttgarter Schloß – und – sehr laut, mit wildem Blick: Bumm!!-

Pause. Wilko und Kordula sehen einander an.

WILKO: Irre bist du, Roland.

KORDULA: Total irre.

Roland ebbt ab. Er schämt sich zwar ein wenig für seine Entgleisung, bleibt aber weiterhin verstockt und trotzig. Ein zweiter Betreuer tritt auf und bringt das Frühstück.

2.BETREUER: Moin zusammen.

KORDULA: Moin.

WILKO: Moin, Harry.

2.BETREUER: Frühstück. Er gibt jedem ein Tablett und aus einer Tüte je einen Apfel, ein

Sandwich, ein Langnese-Eis und eine Dose.

2.BETREUER während er verteilt: Habt ihr schon gehört? Schweinerei ist das. Der Chef hat

uns verraten... Biedert sich an. Kriecht. Oder wurd bezahlt... Wirtschaftliche Zwänge, heißt das dann immer. - Ja, die hab ich aber auch, mein Lieber! - Der ist ja fein raus mit seinem Anzug für 5.000 Mark. Die Zwänge, die landen am Ende immer bei uns... Und uns hat’s jetzt erwischt... Geht ab.

KORDULA: Was meint der jetzt schon wieder? Etwa auch den Krieg?

WILKO gleichgültig: Hörst doch, der Chef mit seinen Anzügen. Kriecht bei den Amis.

Keine Ahnung.

Sie essen.

KORDULA kauend: Worum sich die Leute nur immer Sorgen machen. Statt vor der eigenen

Tür zu kehren. Pause. Ich glaub manchmal, die wollen nur ablenken von ihrem eigenen Dreck. Über Politik reden, weil man sonst nix zu sagen hat. Wilko nickt. Pause. Wenn man sein eigenes kleines Leben im Griff hat, braucht man sich um den politischen Kram gar nicht so zu kümmern.

WILKO kauend: Also bevor ich arbeitslos war, hab ich das auch immer gedacht.

KORDULA unterbricht: Gut, klar. Es gibt ja auch Hungersnöte und sowas, das kann ja auch

politisch sein, Armut und so weiter. Aber bei uns sind das doch Einzelfälle. Pause, kauend. Sogar im Moment, wo diese Terrorismusgeschichte läuft, wo jeder sagt, ab jetzt wird alles anders... Ich mein, erstens: Katastrophen gab’s doch schon immer... Und zweitens: guckt euch doch um. Ist für uns alles anders jetzt? Der Park ist jedenfalls derselbe. Und wir sitzen immer noch. Für uns hier hat sich nix groß verändert.

WILKO: Doch. Wir kriegen keine Post mehr. Pause. Und Roland will Terrorist werden.

Sie lachen.

KORDULA: Hast recht. Ein bißchen was hat sich schon verändert. Pause. Sie denkt. Man ist

natürlich irgendwie immer abhängig... von was Größerem.

Pause. Wilko denkt darüber nach und nickt. Auch Roland guckt kurz besinnlich. Gedonner. Kurz darauf heftiger Regen.

WILKO: Scheiße.

KORDULA: O nein.

Zwei Betreuer kommen, einer nimmt ihnen die Tablette weg, der zweite hat ihnen die Wetterplanen gereicht, in die sie sich jetzt einwickeln. Danach ab.

KORDULA ruft gegen den Regen an, zu Wilko: Ein Wunder, daß ich noch nicht todkrank

bin!

WILKO hat sie falsch verstanden, ruft zurück: Vielleicht sind wir alle krank, daß wir noch

hier sitzen!

ROLAND schreit zum Himmel: Mach was du willst! Du kriegst mich hier nicht runter!

Es blitzt und kracht.

WILKO ruft: Wahrscheinlich schlägt noch ein Blitz ein!

KORDULA hat ihn falsch verstanden, ruft: Mir ist jetzt nicht nach Witzen!

WILKO wie oben: Das war doch kein Witz!

Es blitzt und kracht wieder.

KORDULA wie oben: Was war denn das sonst?

ROLAND ballt die Faust, schreit: Ich bleibe! Bis das Wasser den Pfahl hochsteigt!

WILKO wie oben: Am Ende kommen wir noch alle hier um! Erst Weltmeister und dann ist’s

vorbei!

KORDULA wie oben: Ja, gestern war’s auch schnell vorbei!

WILKO hat falsch verstanden: Warum steigen wir dann nicht ab? Wir beide könnten uns

doch das Geld vom zweiten und dritten Platz teilen. Dann kann ich endlich heiraten. Keine Woche länger bleib ich so hier sitzen!

KORDULA ebenso: Ja, genau, ich auch. Eine Woche noch! Mindestens!

Wilko winkt ab. Donner.

ROLAND prometheisch: Ja, donner nur! Mich donnert hier keiner weg! Ich sitz und siege!

Geduckt hab ich mich lang genug! Jetzt sag ich mir mal selber, was ich machen soll! Auf dem Pfahl hier bin ich der Boss! Und hier werd ich auch gewinnen, und wenn’s das erste und das letzte Mal wär! Hörst du? - lauter: Welt - -: leck mich am Arsch!! Es blitzt und kracht. Jaha! Da werd ich gefährlich, gell! Wollt ihr mich weghaben! - Seid lieber froh, daß ich nicht aufsteh! Solang ich sitz, passiert ja nix! Ich will nur meinen Sieg, dann geh ich! Und vorher nicht! Und da kannst du regnen und blitzen und donnern bis in die Hölle runter, um mich wegzuregnen oder niederzudonnern - mich, Roland Maierle –

Es hört plötzlich auf zu regnen – Stille und Sonnenschein. Während des Folgenden ein Betreuer, der die Planen wieder mitnimmt.

KORDULA klatscht: Wie im Theater!

WILKO: Also lang mach ich das hier nicht mehr mit.

KORDULA: Du willst mich doch nicht mit diesem Psychopathen allein lassen?!

WILKO: Steig doch mit ab...

KORDULA: Nee, du... leise: Jetzt müssen wir dranbleiben... Ich sag dir... deutet auf Roland

Der steigt bald ab. Der spürt, daß er nicht mehr kann. Deshalb rastet er aus. Der ist am Ende. Total fertig.

WILKO überlegt, nach Pause: Ich ruf jetzt mal meine Freundin an.

KORDULA: Kannst du das denn nicht allein entscheiden?

WILKO hebt den Hörer ab und wählt: Doch, aber heiraten kann ich nicht allein.

Während des Folgenden hat Roland plötzlich ein Messer in der Hand. Kordula sieht es und erschrickt. Er nimmt ein Stück Holz aus seiner Pfahl-Schublade und beginnt, mürrisch daran herumzuschnitzen. Kordula beobachtet ihn eine Zeitlang, bis er es bemerkt, zu ihr aufsieht und sie sich abwendet.

WILKO telefoniert: Wilko hier. Ist die Mandy da?... Ach, du bist’s. Hallo. Wie geht’s?... Ja,

wollt ich gerade fragen. Wie geht’s ihm denn?... Was? Und wieso nicht?... O je... Hm... O je... Und jetzt?... Was sagt er?... Ja... Klar... seufzt Sowas Blödes... Mir? Ganz gut eigentlich... Ja, hier regnet’s auch, das heißt... Nee, Regen stört mich gar nicht... Ja, bald ist Schluß, nur... Du, ich... Am Montag? Wieso am Montag?... Ich hab das gesagt?... Weißt du, wir haben hier gerade so furchtbar schönes Wetter... Ja, ja, ich weiß, aber das dauert hier vielleicht noch ein bißchen, glaub ich... Sag ich nur mal so... Es geht gerade nicht so gut mit dem Absteigen. Ich bin nämlich krank, das heißt, Quatsch, ich bin nämlich in Topform und... Nein, hab ich nicht vergessen... Natürlich will ich dich noch heiraten... Ja, ich weiß. Aber wenn er im Krankenhaus liegt, kann er doch sowieso nicht kommen... Genau kann ich’s nicht sagen... Ich hab mir so gedacht... noch bis zur Winterpause... So Mitte Oktober... So lange ist das doch gar nicht mehr... leise: Du, ich bin ganz nah am ersten Platz. Überleg doch mal... Aber diesmal wirklich... Ja, dann auf jeden Fall, ich versprech‘s... Ja, ich schwör’s... Was dann?... Das ist doch nicht dein Ernst... Das ist ja fast Erpressung... Ich mach das doch für uns... Stell dir doch mal vor, ich schaff’s und werd Weltmeister und krieg die 35.000 Mark und bin berühmt. Die Stelle hab ich dann auch sicher. Und von dem Geld heiraten wir, kaufen ein neues Auto und fahren endlich nach Amerika. Und den Onkel, den nehmen wir dann einfach mit... Ich beweis es dir... Sei doch mal realistisch... Hallo?... Mandy?... Er legt auf. Pause. Entschlossen: Ich bleib. Bis zur Winterpause.

Der Arzt tritt auf, ein überarbeiteter Neuropath und Ironiker.

ARZT jovial: Guten Tag, meine lieben Weltmeister.

KORDULA: Guten Tag.

gleichzeitig

WILKO: Tag, Herr Doktor.

ARZT: Na, wie geht’s uns denn? Vertragen wir den Herbstregen gut?

KORDULA: Ja...schon...

gleichzeitig

WILKO: Klar, Herr Doktor.

ARZT: Na, prima. Und wie geht’s mit der Kälte? Wind etcetera?

KORDULA: Hm...

gleichzeitig

WILKO: Ohne Problem.

ARZT: Na, sehr gut. Da haben wir denn auch keine geschwollenen Beinchen mehr, nicht

wahr?

KORDULA:

gleichzeitig: Nein, Herr Doktor.

WILKO:

ARZT: Na, hervorragend. Was die Knochen betrifft, Bewegungszukunft etcetera – und es

trifft sie, meine Lieben – geht mich das nichts an, das ist eure Sache, und ich bin ja auch kein Orthopäde, nicht wahr? Sondern meines Logos Lüneburger-Flachland-Park-Arzt, zuständig und nicht verantwortlich für mehrere Hundert Flachland-Park-Mitarbeiter und zwei Millionen jährliche Flachland-Park-Besucher, was? Und für Spaß und Sicherheit etcetera für die ganze Familie. Und natürlich für euch, meine lieben Weltmeister. Laßt euch von niemandem die Pfahlsitzerei madig machen, Pfahlsitzen ist nicht nur ein faszinierender Sport und fulminante Asketik, sondern auch eine Attraktion und daher gesund – nein, andersrum, Verzeihung: nicht nur eine Attraktion, sondern auch gesund etcetera. Das sagt euch mit vollem Gewissen euer Flachland-Park-Herr-Doktor. Spannend, sicher, super! – Und wenn’s denn beim Absteigen knirscht und klemmt – ihr wißt, eine Tragbahre steht bei den Betreuern bereit, und letzte Woche habe ich sogar noch einen Rollstuhl beantragt – rein prophylaktisch, nicht wahr? – Könnten ruhig drei sein... – Soviel zu den Knochen, ihr Armen, und jetzt bitte sehr Arme frei zum Blutdruckmessen!

Roland schnitzt weiter. Die anderen beiden krempeln die Ärmel hoch. Der Arzt steigt jeweils einige Stufen die Pfahltreppe hinauf und mißt. Zuerst bei Kordula.

KORDULA nach einer Pause: Sie, Herr Doktor?

ARZT: Ja, Frau Weltmeisterin?

KORDULA: Mir hat da vor ein paar Tagen eine Besucherin aus Bremen gesagt -

ARZT hört nicht zu: Im Ernst? Na, also sowas!

KORDULA: - hat mir gesagt, sie hätte gehört, daß wenn man so lange hier auf diesem Holz

sitzt, Tag und Nacht, als Frau –

ARZT wie oben: Na Donnerwetter. Hahaha! Also sowas!

KORDULA eindringlicher: - daß man davon unfruchtbar wird.

ARZT sieht sie an, ernst: Verzeihung, könnten Sie das bitte wiederholen?

KORDULA: Meine Frage ist: macht sechs Monate Pfahlsitzen gebärunfähig?

ARZT hört wieder nicht zu: Aber liebe Frau Weltmeisterin! Warum atmen Sie denn so flach?

Das wirkt sich doch auf Ihren verehrten Blutdruck aus, und den will ich Ihnen gerade messen, nicht wahr? Also nicht so nervös. Er mißt. So ist’s brav. Alles in Ordnung. Mit dem Blutdruck.

Er steigt ab und zu Wilko hinauf. Pause. Roland schnitzt.

ARZT: A propos. Haben Sie schon gehört? Der Flachland-Park ist verkauft.

Roland schneidet sich in den Finger und gibt einen Schmerzenslaut von sich. Alle drei sehen den Arzt erschrocken an. Keiner weiß, wovor er eigentlich Angst hat – aber alle haben Angst.

ARZT blutdruckmessend: An die „Madame Tussaud“-Gruppe. Die größte europäische

Freizeitparkkette. Das sind die mit dem Wachsfigurenkabinett. Allein die Londoner Wachsgesichter setzen im Jahr 350 Millionen um. Steht in der Zeitung. Dagegen sind wir hier ein Kaugummiautomat. - Oder vielmehr waren. Gehören ja jetzt dazu. - Riesenräder, Vergnügungsparks und Wachs in aller Welt von New York bis Hongkong, London und Las Vegas etcetera. Also New York – Hongkong – Sohlgau! – Sagen Sie mal, Herr Weltmeister, was haben Sie denn für einen Blutdruck? Das ist ja infarkttauglich. Atmen Sie mal ruhiger! Oder noch besser: halten Sie die Luft an, dann ham wir beide unsre Ruhe, was? lacht kurz - Und große Pläne haben die mit uns, die Wachsgesichter: 110 Hektar Flachland kommen zum Park dazu, wir kriegen einen Bahnanschluß, ein Hotel mit 300 Matratzen und 1000 Ferienbungalows – Sie sehen, ich hab meine Zahlen gelernt heute morgen. – Ach ja, und natürlich die größte Stahlachterbahn des Universums – sofern es in der Hölle keine Stahlachterbahnen gibt, was ich persönlich allerdings stark vermute. – Ja, ja. Wird man sehen, was? Unser Lüneburger Flachland – gar nicht so weit weg von New York, Las Vegas und Hongkong, nicht wahr? – So, und Sie müssen sich mal ein bißchen mehr entspannen, Herr Wilko Weltmeister. Ich weiß gar nicht, was Sie alle so unruhig sind. dreht sich und spricht zum Publikum: Bei so einem vielversprechenden Blick nach vorne! Er steigt ab und geht zu Roland, der die ganze Zeit über stark blutet. Erschrocken: Aber Sie bluten ja! Du lieber Himmel! Da kann ich den Blutdruck ja gleich in Millilitern messen! – Ein Unfall, was? Und das am Samstag! Ich bin gar kein Unfallarzt, wissen Sie, ich kann strenggenommen gar nicht so gut Blut sehen! Und ohne Brille schon gar nicht. – Erst gestern hatte ich einen Jungen mit einer üblen Epistaxis, da war ich gleich selber übel. – Zeigen Sie mal – oder nein, warten Sie, ich schick Ihnen jemand! Das kann jeder machen, da brauchen Sie ja mich nicht! Ich muß nämlich jetzt ganz schnell zum „Big Loop“, da hat sich ein Arbeiter bös was geklemmt. – Halten Sie durch! Er geht rasch ab.

Pause. Die Pfahlsitzer noch immer im Schreck. Dann nimmt das Licht ab. Nacht und Vollmond. Der Leierkastenmann überquert schwankend die Bühne.


Vorhang.



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