Bühnenbild wie im ersten Akt. Allerdings sind die Pfähle ein Stück weiter nach vorn gerückt – was übrigens auch jeweils für die beiden letzten Akte gilt, so daß sie im vierten Akt am weitesten vorne stehen.
ERSTE SZENE
Regen. Die Pfahlsitzer sind in Planen gehüllt; die Umstehenden tragen Schirme oder Capes. In der Bühnenmitte steht wieder der Parkschreier und spricht zum Publikum. Links das Betreuerteam vor der Hütte. Rechts eine Traube Flachland-Park-Besucher, darunter ein japanisches Ehepaar, und Poldino, der den Japanern immer wieder mit einer Art Pappeprügel, wie sie im Puppenspiel das Kasperle hat, auf die Köpfe klopft. Natürlich mit so lustiger Miene, daß die Japaner darüber lachen müssen.
PARKSCHREIER: Liebe Gäste! Ganz gewiß spechen wir in Ihrem Sinne, wenn wir
bekanntgeben, wie sehr wir es bedauern, daß sich das Feld unserer Pfahlsitzer schon so schnell geleert hat. Gestern ist bereits der siebte Teilnehmer ausgeschieden, und viele Freunde des Pfahlsitzsports scheinen zu befürchten, daß wir in dieser Saison den kürzesten Wettkampf seit Bestehen das Flachland-Parks bekommen. Wir glauben aber, daß wir Ihnen noch durchaus das Gegenteil beweisen können! - Gerade erst habe ich mir unsere drei übriggebliebenen Wettkämpfer einmal genau angesehen, und ich muß gestehen, ich war beeindruckt: von der Kraft, der Geschmeidigkeit und dem Siegeswillen, der in diese drei Gesichter geradezu eingemeißelt ist! Wir vom Flachland-Park, und auch ich ganz persönlich, sind optimistisch und fest überzeugt, daß wir noch einen rentablen –Verzeihung: veritablen Weltmeisterschaftskampf erleben dürfen. Und das heißt, wie Sie wissen, nicht nur faszinierender Sport, fulminante Athletik und nervenzerreißende Spannung, sondern auch attraktive Mega-Attraktionen hier bei uns im „Holland-Viertel“ – und zwar sowohl für die Wettkämpfer als auch die Gäste. Hören Sie also unser Sommer-Sonder-Programm und lassen Sie sich die Namen hochkarätiger Prominenter auf der Zunge zergehen! Ja, Sie haben richtig gehört, Ihrem Flachland-Park ist es gelungen, eine ganze Riege populärer Stars aus dem In- und Ausland zu verpflichten, die sich – im Vertrauen – wohl auch nicht die Gelegenheit entgehen lassen wollten, sich im Licht einer so originellen Veranstaltung zu sonnen. Um nur einige Highlights zu nennen: liest ab am 15. April wird an dieser Stelle stehen und eine Autogrammstunde geben der Torschützenkönig der Bundesliga Vladimir Barbaros vom Hamburger Sportverein. Begleiten wird ihn niemand Geringerer als das schönste weibliche Wesen unseres Landes, nämlich die amtierende Miss Deutschland Nancy Nietzsche aus Erfurt. Zu den Pfahlsitzern: Also, wenn das mal kein Grund ist, noch zwei Wochen hier durchzuhalten! lacht künstlich, wieder zum Publikum: Doch damit längst nicht genug: das hochrangige Schweizer Künstlerduo Gebrüder Muetz wird vom 1.Mai bis zum 1.Juni hier zur Erinnerung an die Deutsche Einheit sein Mauerdenkmal präsentieren. Original Berliner Mauer also bei uns im Flachland-Park - bemalt mit Motiven zur Integration aller Deutschen vom 9.November 1989 bis heute. Und last and least, sic! liebe Gäste, haben sich für den 10.Mai musikalische Gäste bei uns angemeldet: die Jugendblaskapelle Helmstadt wollte es sich nicht nehmen lassen, der größten Holzachterbahn der Welt ein paar musikalische Grüße zu überbringen. ganz schlecht schauspielernd: Die größte Holzachterbahn der Welt? Wie bitte? – Ja, haben Sie denn das nicht gewußt? Sie haben ganz richtig gehört: ein wahres Weltwunder der Vergnügungsarchitektur, und das gleich nebenan in Ihrem Flachland-Park! Sage und schreibe 3.000 Kubikmeter heimisches Kiefernholz, mehr als genug für über 700 Dachstühle, 3.800 Kubikmeter Beton, 750.000 Nägel, 125.000 Kilogramm Stahlteile...
Dunkel.
ZWEITE SZENE
15. Wettkampftag. Die Pfahlsitzer ohne Regenplanen. Wilko mit Bart. Einige Besucher stehen umher. Roland ordnet Akten.
ÄLTERE BESUCHERIN zu Wilko: Und machen Sie das denn hauptberuflich... das
Pfahlsitzen?
WILKO: Nee, nee. Nur so. Ich bin Maurer.
ÄLTERE BESUCHERIN: Mein Mann ist Maurerpolier.
Pause.
ÄLTERE BESUCHERIN: Und haben Sie da jetzt Urlaub, so lang Sie wollen?
WILKO: Ich bin momentan arbeitslos.
ÄLTERE BESUCHERIN mustert ihn: Aha. Na dann. Sie Glücklicher. Sie entfernt sich. JÜNGERER BESUCHER zu Kordula: Nett hier. Ehrlich. Ich bin ja ein Wettkampffan.
Früher hab ich auch sowas gemacht. Halt noch ein paar Nummern härter. Triathlon. Ich war sogar ganz gut. Hawai und so. Aber nett hier. Nicht zu langweilig?
KORDULA: Gar nicht. Ich lese viel, höre Musik. Und dann bekommen wir auch schon eine
ganze Menge Post.
JÜNGERER BESUCHER lacht: Fanpost, wie?
KORDULA: Ja. Und Autogrammwünsche gibt’s auch schon.
JÜNGERER BESUCHER: Ja, klar, das kenn ich.
Von rechts erscheinen mit Begleitern und Flachland-Park-Mitarbeitern Vladimir Barbaros und Nancy Nietzsche, ersterer in seinem Bundesliga-Trikot, letztere mit Miss-Deutschland-Schärpe. Außerdem Poldino, wieder mit seinem Kasperleprügel. Die Besucher – mit Ausnahme des Jüngeren Besuchers – umringen sie. Die aus dem vorigen Akt bekannten Mitglieder des 1.FC Fellingborstel folgen dem Torschützenkönig mit HSV- und Deutschland-Fahnen. Als Vladimir stehenbleibt und anfängt Autogramme zu schreiben, drängen sie sich zu ihm.
1. FUSSBALLER: Wir sind Fellingborsteler HSV-Fans.
2. FUSSBALLER: Unser Vereinskumpel Kalle hat auch hier auf so nem Pfahl gehockt.
3. FUSSBALLER: Der spielt Rechtsaußen bei uns.
4. FUSSBALLER: Würden Sie uns die Fahne signieren? hält ihm eine Fahne hin
VLADIMIR BARBAROS russischer Akzent: Kein Problem. Kyrillisch oder... lateinisch?
Die Fußballer sehen einander an.
1. FUSSBALLER: Äh... Am liebsten Deutsch...
Poldino schlägt Vladimir mit seinem Pappprügel auf den Kopf. Der dreht sich wütend um, grinst aber, als er den Clown sieht.
NANCY NIETZSCHE vor Kordulas Pfahl:
gleichzeitig: Würden Sie mir bitte ein
KORDULA: Autogramm geben?
Dunkel.
DRITTE SZENE
40. Wettkampftag. Die sieben unbesetzten Pfähle sind spätestens jetzt entfernt. An ihrer Stelle die Wanderausstellung der Gebrüder Muetz: drei Mauertrümmer und ein Trabant. Letzterer ist bemalt mit Motiven aus der Geschichte der Mauer von 1961-89 (rätselhafterweise nicht mit Motiven zur ‚Integration aller Deutschen von 1989 bis heute‘, wie vom Parkschreier angekündigt). Dazwischen zwei Männer um die Dreißig, Urs Muetz und Max Muetz, im Gespräch mit Besuchern. Über ihnen ein Transparent mit dem Ausstellungstitel: „TRIUMPH DER FREIHEIT“. Vor den Pfählen einige Schaulustige. Kordula schreibt gerade Autogramme, übrigens fast nur für weibliche Fans. Wilko liest eine Regionalzeitung. Roland eine Akte. Aus einiger Entfernung hört man die Blasmusik der Jugendkapelle Helmstadt, die sich allmählich nähert und bis zum Ende der Szene immer lauter wird.
WILKO liest aus der Zeitung vor: „... Mittlerweile ist das ‚Holland-Viertel‘, in dem derzeit
die 5. Weltmeisterschaft im Pfahlsitzen ausgetragen wird, wieder zu dem großen Kommunikationspunkt im Flachland-Park geworden. Seit fast vierzig Tagen harren die verbliebenen drei Teilnehmer nun schon aus und ziehen Hunderte von Neugierigen an. Laut Park-Sprecher Rolf Metzger locken diesen Sommer daneben zahlreiche Veranstaltungen und prominente Gäste. Gerade wegen des schlechten Wetters in dieser Saison, so Metzger, könne der Park von der Aufmerksamkeit profitieren, die der kuriose Sport erregt.“
KORDULA ein Autogramm gebend: Hört sich gut an.
WILKO: Meinolf hat gesagt, in der „Märkischen Allgemeinen“ steht wieder extra was über
mich. Er blättert sie durch.
KORDULA: Ich hab heute zwölf Briefe bekommen.
BESUCHERIN für die Kordula gerade das Autogramm geschrieben hat: Schreiben Sie doch
bitte dazu: „Dem lieben Dietmar zum fünften Hochzeitstag.“
KORDULA: Äh...ja. zu Wilko Eine hat auf dem Umschlag Pfahl neun statt drei geschrieben,
und trotzdem ist es angekommen.
WILKO: Und du, Roland?
ROLAND liest die Akte: Was?
WILKO: Wieviel Post kriegst du so?
KORDULA: Aus Schwaben kommt nix. Denen ist das Porto zu teuer.
BESUCHERIN: Nein: Dietmar, nicht Dieter!
KORDULA: Ach so. Entschuldigung.
ROLAND: Ich bekomme jeden Tag dutzendweise Emails. Wer schreibt denn heutzutag noch
per Post? Bei uns in Baden-Württemberg höchstens ein paar Zugereiste.
WILKO fündig: Ah, hier steht’s: „Brandenburg auf dem Weg zum Weltrekord.“
BESUCHERIN zu den anderen: Würden Sie bitte auch unterschreiben?
WILKO ins Lesen vertieft: Moment...
ROLAND klappt sofort die Akte zu: Wenn Sie meinen...
EIN ÄLTERER HERR zu Urs Muetz: Entschuldigen Sie, ich habe gehört, hier soll
momentan eine bedeutende Ausstellung stattfinden. Können Sie mir sagen, wo genau das ist?
URS MUETZ schweizerdeutscher Akzent: Ja, Sie stehen schon mittendrin. Guten Tag. Er
gibt dem Herrn die Hand.
DER ÄLTERE HERR: Ach, das ist ja originell. Wissen Sie, ich bin selbst im Kunstbetrieb
tätig.
URS MUETZ: Was Sie nicht sagen. Und hier oben, sehen Sie, „Triumph der Freiheit“, so
heißt die Ausstellung.
DER ÄLTERE HERR: Ach, das ist ja tiefsinnig. Wissen Sie, ich bin über einen guten Freund,
den bekannten Berliner Galeristen Doktor Claussen-Schukowski, gewissermaßen selbst an der Ausstellung beteiligt. Wilhelm von Knoop übrigens mein Name. Guten Tag. Sie geben sich wieder die Hand. Ich bin Mitglied im Stiftungsrat der Nordrhein-Westfälischen Kunstförderung. Irgendwo habe ich doch noch den Förderungsantrag, das war so eine kreative Projektbeschreibung... Moment mal... Er sucht in seiner Aktenmappe.
URS MUETZ: Da weiß ich jetzt gar nicht...an wen genau mein Bruder unsere Anträge
geschickt hat... Also, soweit ich weiß, ist da hauptsächlich der Eidgenössische Kulturfonds unser Partner... Andererseits...
WILHELM VON KNOOP zieht den kapitalen Antrag heraus: Aha. Hier hab ich es.
Augenblick... blättert, liest Trilogie... part one: ‚wooden destiny‘... aha, aha... Bioinstallation im Flachland-Park... Pfahlsitzer als Metapher pseudoautokreativer Identität im Kontext der Archiökonomisierung...- Ach, das ist ja originell. Gut, daß wir das gefördert haben...
URS MUETZ im Irrtum, einen Antrag seines Bruders rechtfertigen zu müssen: Ja, wir sehen
die Mauer freilich nur als Metapher...
WILHELM VON KNOOP liest: ... subjekt-objekt-dialektische Formel der fremdbestimmten
Selbstbestimmung... - Sehr gut, sehr gut...
URS MUETZ: Ja... die friedliche Revolution damals, diese Selbstbestimmung des Volkes war
ja gewissermaßen nur möglich... durch eine fremdbestimmte historische Situation...
EIN ANDERER BESUCHER zu Max Muetz: Gehören Sie hier dazu, ja?
MAX MUETZ: Ja, mein Bruder und ich, wir sind die Aussteller. Muetz, Max. Er gibt ihm
die Hand.
BESUCHER: Sind Sie von der PDS oder sonstwas Linkes?
MAX MUETZ: Bitte? Nein, wir sind aus der Schweiz.
BESUCHER: Ach so. Da muß man ja keine Angst haben, daß Sie die Mauer wieder aufbauen
wollen, was? lacht
MAX MUETZ: Sicher nicht. Wir sind Demokraten.
BESUCHER: Eben. Und Deutsche ja auch, mehr oder weniger...
WILHELM VON KNOOP liest: ... So wird auch die monströse Dynamik des
Fortschrittsfundamentalismus und der Maximierungs-... ähm... Maximierungsmegalomanie... - mein lieber Schwan, toll formuliert! – letztlich demaskierbar als obstinate Statik und Intransigenz gesellschaftlicher und politischer Gruppen...
URS MUETZ überfordert: Ja, da... also... Gewissermaßen ist ja der Fortschritt zur Deutschen
Einheit, diese Dynamik der Freiheit insofern statisch als... das Land ja früher schon einmal eins war... Man müßte also sogar eher von Rückschritt als von Fortschritt sprechen...
WILHELM VON KNOOP: Ja, das leuchtet mir ein.
DER ANDERE BESUCHER dabei, Max Muetz die Einheit zu erklären: ... Schließlich wurde
dadurch der Osten endlich dem westlichen Fortschritt zugänglich gemacht. Also nicht nur eine Erweiterung Deutschlands – des eigentlichen Deutschlands, die DDR hat ja zu Moskau gehört -, sondern des Westens, also der Demokratie und Freiheit.
MAX MUETZ: Vor allem der Freiheit.
WILHELM VON KNOOP liest, inzwischen ist die Blasmusik so laut, daß er fast schreien
muß: ... So daß sich die Demokratie westlicher Prägung folgerichtig beschreiben läßt als marktgesteuerte Illusion einer prosperitätssteigernden Verbesserungsbewegung, die de facto einen globalisierenden Interessenmonopolismus zementiert, der ausschließlich seiner eigenen Totalität gehorcht... – Na ja, also ich weiß nicht...
URS MUETZ bemüht: Sie verstehen das falsch... Mein Bruder meint die Demokratie
östlicher Prägung... Beziehungsweise... er imitiert ja hier eindeutig den sozialistischen Jargon der DDR...
DER ANDERE BESUCHER schreit in die Blasmusik hinein: ... Goethe, Mozart, Einstein
und wie sie alle heißen! Diese eine große deutsche Kultur braucht ein einiges großes deutsches Volk, das ihre Werte weiterträgt und die großen deutschen Traditionen für die ganze Welt bewahrt!
Die Blasmusik hinter der Szene ist jetzt so laut, daß sie die Gespräche übertönt. Alle halten sich die Ohren zu. Nach einigen Sekunden Stille und Dunkel.
VIERTE SZENE
82. Wettkampftag: die Hälfte des Weltrekords ist abgesessen. Die Mauer-Ausstellung abgebaut. An der Kleidung der Pfahlsitzer kann man erkennen, daß heute ein besonderer Tag ist. Wilko ist glattrasiert, Roland trägt Krawatte. Vor den Pfählen die Bürgermeisterin von Sohlgau. Mindestens ein Parteiprovinzler im Anzug. Links das Betreuerteam und der Leierkastenmann. Rechts eine Besuchergruppe.
BÜRGERMEISTERIN mit Merkzettel: Anläßlich dieses besonderen Tages nicht nur für
mich, sondern auch für die gesamte Region, möchte ich Ihnen meine ganz persönlichen Glückwünsche-
EIN PROLET unsichtbar in der Besuchergruppe, ruft: Asoziale! Geht lieber arbeiten!
BÜRGERMEISTERIN professionell: -meine ganz persönlichen Glückwünsche zur Halbzeit
auf dem Weg zum Weltrekord aussprechen. sieht auf den Zettel Zweiundachtzig Tage auf einem Pfahl zu sitzen-
PROLET wie oben: Faulenzer! Schmarotzer!
BÜRGERMEISTERIN wie oben: -ist ja tatsächlich eine Leistung ganz besonderer Art.
Insofern ist dies auch ein besonderer Tag... für uns alle.-
PROLET: Streber! Wichtigtuer!
BÜGERMEISTERIN: -Ich wünsche Ihnen daher hiermit ganz persönlich alles Gute,
weiterhin viel Erfolg und dieser ebenso ungewöhnlichen wie interessanten Sportveranstaltung-
PROLET: Klugscheißer!
BÜRGERMEISTERIN: -auch in Zukunft die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Schließlich
würde ich mich auch persönlich freuen, Ihnen in zweiundachtzigen Tagen noch einmal gratulieren zu dürfen. Daß es dazu kommt, das wünsche ich Ihnen heute, auf halber Strecke zum Weltrekord, sehr herzlich.
Der/die Parteikriecher lachen herzhaft, die Bürgermeisterin schüttelt den Pfahlsitzern die Hände, der Leiermann dreht die Leier, die Besucher applaudieren. Dann alle ab außer dem Proleten.
PROLET wartet bis alle anderen verschwunden sind, stellt sich dann vor die
Pfähle: Penner! Asoziale! Zigeuner! Geht mal arbeiten! Sich hier wichtig machen! Von meinen Steuergeldern! Schmarotzer! Asylanten! Dem Staat auf der Tasche sitzen! Von unsern Renten! Scheiß Sozialstaat! Alles korrupt! Ihr Breitärsche! So welche wie ihr machen uns die Wirtschaft kaputt! Holen uns die Arbeitsplätze weg! Geht doch zurück nach Kuba!
Zwei Betreuer kommen und führen ihn ab.
PROLET im Abgehen: Scheißamis!
KORDULA schreit ihm nach: Hau ab! Pause. Da muß irgendwo ein Nest sein.
WILKO: Ich kenn das. Bei uns in Klüterbog werd ich auch schon mal angemault, wenn ich
den ganzen Tag lang unterm Auto liege. Da kommt dann einer aus der Straße: ham Sie aber viel Zeit heute.
ROLAND: Wie, du hast ein Auto?
WILKO: Nee, aber meine Freundin.
Pause.
KORDULA: Siehste jetzt, Roland, daß es nicht an seinem Bart gelegen hat, wenn irgendeiner
mit ‚Asoziale‘ und so weiter loslegt!
ROLAND: Guckt euch doch mal eure Pfähle an! Wie bei Zigeunern sieht das aus. Er die
ganzen alten Zeitungen. Bei dir die Bücher und alles.
KORDULA
gleichzeitig, imitieren ihn: Ordnung muß sein!
WILKO
ROLAND: Ich nutze eben meine Zeit.
KORDULA: Wir kommen leider nicht dazu vor lauter Fanpost und Emails-Beantworten.
ROLAND: Und ich bekomme soviel, daß ich sie gar nicht beantworten kann.
KORDULA: Gestern hatte ich neunzehn Mails und fünfzehn Briefe.
ROLAND: Mit Zählen verschwende ich gar nicht meine Zeit. Dauert zu lange.
Pause.
KORDULA: Wenn ich den Weltrekord hab, geht’s erst richtig los. Dann bin ich die erste
Frau, die Weltmeisterin im Pfahlsitzen ist!
WILKO: Und ich der Erste aus den neuen Ländern!
ROLAND: Und ich der erste Schwabe!
Pause.
KORDULA: Frauen sind wichtiger als Schwaben.
ROLAND: In Schwaben nicht.
Pause.
KORDULA: Ich bin Einheimische. Hinter mir steht Niedersachsen und die gesamte Region.
Der Park! Die Landeszeitung! Und die Frauen in aller Welt!
WILKO: Hinter mir Brandenburg. Berlin! Der Osten! Und die Arbeitslosen in ganz
Deutschland!
ROLAND: Baden-Württemberg! Süddeutschland! Aufschwung! Fortschritt!
Vollbeschäftigung!
Pause. Von links ein Mann mit drei Regenschirmen, die er stumm an die Pfahlsitzer verteilt. Ihm folgt ein Zweiter, der eine Fotoausrüstung trägt und eilig ein Stativ aufbaut. Kurz danach ein dritter Mann im hellen Anzug, ohne Krawatte.
DRITTER MANN immer in Bewegung: So, spannen Sie mal bitteschön die Schirmchen auf
alle. Sie zun es. Bravo! zum Fotografen Hast du’s?
FOTOGRAF baut auf, sieht durchs Okular etc.: Zehn Sekunden...
KORDULA: Wer sind Sie?
DRITTER MANN zu Roland: He, Sie mit der Krawatte, grinsen Sie mal nicht so! Ach so,
alle mal herhören: Sie dürfen nicht grinsen, okay? Nicht äh... happy aussehen. Mehr Tristesse bitteschön! Mehr Regengesichtsausdruck alle! zum Fotografen Hast du’s?
FOTOGRAF: Fünf Sekunden...
KORDULA lauter: Hallo! Wer sind Sie denn überhaupt?
ERSTER MANN: René Malter, Studio für Werbe- und Architekturfotografie.
KORDULA: Und was soll das hier werden?
DRITTER MANN zu Kordula: Sie dürfen nicht so ärgerlich schauen! Und Sie mit der
Krawatte bitteschön: mal mehr Emotion! Tristesse bitte alle!
KORDULA: Verdammt, ich will wissen, was das hier soll!
WILKO: Laß nur. Der knipst uns doch.
DRITTER MANN: Werbefotos, okay? Für Betriebe der Region. Sie sind berühmt. Also
bitteschön! Hast du’s?
FOTOGRAF: Jawohl... Es klickt zehnmal. Okay.
DRITTER MANN: Perfekt!
KORDULA: Für welche Betriebe denn?
ERSTER MANN nimmt die Schirme zurück: Das hier war für Fred Zinne GmbH. Klasse
Motiv. Ihr drei auf dem Pfahl, mit Schirm, und drunter: „Ist bei Ihnen noch alles dicht? – Fred Zinne, Bedachungen und Abdichtungstechnik.“
DRITTER MANN: Jetzt ohne. Einfach so. Hast du’s? Sehen Sie mal ein bißchen blöd aus
bitte... Proletarisch! Frustriert! Das kann Ihnen doch nicht so schwerfallen. Nehmen Sie sich mal ein Beispiel an dem Herrn mit Krawatte hier! Hast du’s?
FOTOGRAF: Jawohl... Es klickt zehnmal.
DRITTER MANN: Perfekt!
KORDULA: Und das da?
ERSTER MANN: Das Foto von euch, frustriert, proletarisch, blöd und so weiter, und drüber:
„Nicht für jeden. Autohaus Obermaier – Coupés und Cabrios.“
DRITTER MANN: Jetzt noch für Möbel Munter.
ERSTER MANN zu den Pfahlsitzern: „Man kann bequemer sitzen.“
FOTOGRAF knipst: Jawohl.
DRITTER MANN: Fertig? Perfekt. Also alle ab bitteschön! Ab.
Die anderen wollen ihm folgen.
ROLAND: Moment mal... Ähm... Wir haben doch jetzt hier Werbung gemacht. Dafür kriegt
man doch was, oder?
ERSTER MANN im Abgehen: Vertragspartner ist der Flachland-Park. Mit dem Fotografen
ab.
Pause.
WILKO: Jetzt kommen wir sogar noch auf Plakate oder sowas. Nicht schlecht.
KORDULA: Und ich war nicht geschminkt!
Dunkel.
FÜNFTE SZENE
113. Wettkampftag: Kordulas Geburtstag. Sie ist geschminkt. Links wieder die Betreuer und Poldino. Rechts stehen die drei Putzfrauen und der Leierkastenmann. Vor Kordulas Pfahl haben sich Besucher(innen) gesammelt; eine(r) nach dem/der anderen gratuliert ihr und stellt sich dann links vor die Betreuerhütte, während von rechts dafür ein(e) neue(r) auftritt, so daß vor Kordulas Pfahl immer etwa zehn Personen stehen. Roland odnet Akten. Wilko, mit Bart, hält ein Geschenkpäckchen auf dem Schoß.
KORDULA im Gespräch mit einer Besucherin: Ich hab mich ja auch konzentriert
vorbereitet. Habe zuhause auf dem Küchentisch geübt. Mich mit Buddhismus beschäftigt. Und jetzt läuft alles bestens.
1.BESUCHERIN: Toll. Viel Glück weiterhin. Geht nach links.
KORDULA: Danke.
2.BESUCHERIN tritt vor, Händeschütteln: Herzlichen Glückwunsch, Kordula. Erkennst du
mich nicht? Ich bin die Ulla. Wir waren zusammen in einer Klasse. Auf der Realschule. Ulla Schmalz. Weißt du noch? Ich hab Bankkauffrau gemacht. Apropos: hab ich dich nicht nach der Schule im Penny an der Kasse gesehen? Das warst du doch, oder?
KORDULA: Nee. Ich hab eine Ausbildung als Finanzbuchhalterin gemacht und bin jetzt
selbständig. Mit einer Partnervermittlung.
2.BESUCHERIN: Na sowas! Unsere kleine Kordula. Ich weiß noch, wie du die Fünf in
Englisch hattest und mit der Frau Dings gestritten hast, bis sie dich rausgeworfen hat, weißt du noch? Und jetzt hier auf dem Pfahl und fast schon Weltmeisterin! Sag mal, ist das nicht nervig mit dem schlechten Wetter? Nein? Also du, ich muß los, wir fliegen morgen nach Casablanca, der Ralf und ich. Ralf Renner, weißt du noch, in den warst du doch mal so doll verliebt. Hat er mir erzählt. Mit den Männern warst du ja leider nie so glücklich. Weißt du noch? Nach links, da der Nächste sich vordrängelt.
3.BESUCHER: Hallo, ich bin der Karsten.
KORDULA: Hallo, Karsten.
3.BESUCHER: Sag mal, onanierst du auch auf dem Pfahl? Oder mal auf’m Klo? Wie isses?
Haste’n Freund?
KORDULA: Ja. Hab ich.
3.BESUCHER: Und was sagt der dazu, daß er’s sich seit hundertdreizehn Tagen
selbermachen muß? Scheint ja ne olle Lusche zu sein.
KORDULA: Der hält das schon aus.
3.BESUCHER: Sag mal, haste heute abend schon was vor?
KORDULA: Ja, mein Freund kommt nämlich auch zum Geburtstag.
3.BESUCHER: Aha. Na dann mal los. Nach links.
4.BESUCHERIN: Tag. Glückwunsch. Ich heiße Gudrun.
KORDULA: Tag, Gudrun. Danke.
4.BESUCHERIN: Ich hab mal an der Weltmeisterschaft im Auf-Einem-Bein-Stehen
teilgenommen. Nächstes Jahr wieder. Dann schaff ich‘s. Nach links.
5.BESUCHER ist Ibrahim Mohamed, mit Kopfverband und Krücke: Hallo und herzlichen
Glückwunsch.
KORDULA: Danke. Hallo. Wir kennen uns doch. Hast du nicht am Anfang hier neben mir
gesessen? Du bist doch der aus Kairo, stimmt’s?
IBRAHIM: Ja, ich bin der Ibrahim. Ich komm gerade hier aus dem Krankenhaus.
KORDULA während Poldino hineilt und Ibrahim stützt, ihm dabei ins Gesicht sehend:
Hattest du einen Unfall?
IBRAHIM: Na ja... so ähnlich... Eigentlich war’s eher.. Poldino führt ihn rasch nach links.
6.BESUCHER ist der Jüngere Besucher aus der zweiten Szene: Hi. Glückwunsch. Na?
Immer noch soviel Fanpost?
KORDULA: Jeden Tag mehr. 250 Emails bis jetzt.
6.BESUCHER: Na klasse. Und werden die auch alle schön beantwortet?
KORDULA: Wieso nicht? Ich hab ja Zeit.
6.BESUCHER: Ja, eben, die fehlt mir immer für sowas. Kurze Pause. Morgen geht’s ab
nach Rußland: Trans-Sibirien-Triathlon. Nach links.
KORDULA: Viel Erfolg.
7.BESUCHERIN: Du, Kordula, ich bin die Annemie – Glückwunsch erstmal...
KORDULA: Danke schön, Annemie.
7.BESUCHERIN: Du bist doch auch Löwin. Und ich auch. Jetzt wollte ich diesen Freikletter-
Frauen-Kurs machen, also richtig da an so ‘ner Wand hängen... Und jetzt weiß ich nicht recht... Meinst du, ich schaff das?
KORDULA: Also, ich weiß nicht, ich kenn dich gerade nicht so gut...
7.BESUCHERIN: Ja, schon klar. Und so vom Gefühl her? Du bist auch Löwin und genauso
alt wie ich und sitzt hier deine hundertnochwas Tage nur so runter. Wir sind doch starke Frauen, oder? Wir schaffen das doch, oder nicht? Also nur nicht zweifeln, Kordula! Wer zweifelt verzweifelt. Wir machen das! Wir zeigen’s ihnen! Nach links.
8.BESUCHER ist Klaus-Dieter Wampenhäger: Guten Tag, Frau Kordula. Vielleicht erinnern
Sie sich an mich: Wampenhäger, Klaus-Dieter, Finanzobersekretär a.D.
KORDULA: Ich erinnere mich.
KLAUS-DIETER leutselig: Ganz schöne Ausdauer habt ihr hier. Muß man ja sagen. Aber
mein Rücken, wissen Sie? Der Arzt sagt, das ist das pure Gift hier. Rückenzugrundesitzen, sagt er. – Übrigens ein sehr guter Arzt, ein alter Bekannter von mir...
KORDULA: Ich stehe dreimal am Tag auf, um Gymnastik zu machen. Ich hab auch ein Buch
über Sitzgymnastik dabei. Und ich meditiere.
KLAUS-DIETER: Ja, ja, das sind so diese modischen Sperenzchen. Sie sind ja noch jung.
Aber Sie werden sehen, in zehn Jahren kommen Sie nicht mehr aus dem Bett.
KORDULA: Wir haben hier einen Parkarzt. Der sagt, wir sind fit.
KLAUS-DIETER: Ja, ja, der Rücken, wissen Sie... Die Bandscheiben... Erst der verlorene
Krieg... Und jetzt ist auch noch mein Enkel verschwunden, stellen Sie sich das vor. Meine Tochter hat ihn verschlampt...
KORDULA betroffen: Der kleine Junge, der hier war? O Gott, der Arme... Haben Sie ihn
denn suchen lassen? Oder vermißt gemeldet?
KLAUS-DIETER: Ja, ja, sicher... Nichts... Tja... Da sehen Sie... Es ist nicht leicht...Wie soll
man da gewinnen? Nach links.
9.BESUCHER stört die ehrlich mitleidende Kordula: Schönen guten Tag und herzlichen
Glückwunsch. Mein Name ist Hoffmann, ich bin Ihr Weltbuch-Bücherexperte und möchte Ihnen ein ganz persönliches Geschenk unseres Hauses überreichen. Lesen Sie gerne, Frau...?
KORDULA: Ja, sehr gern.
9.BESUCHER: Na, sehen Sie. Dann darf ich Ihnen hiermit den neuesten Band aus der
Historischen Reihe von Gilberto Nepp, „Die große Judenvernichtung“, sowie den Bestseller vom selben Autor, „Hitlers Händler“, überreichen. Außerdem dieses modische T-Shirt. Überreicht ihr alles. Wenn Sie das jetzt bitte gleich anziehen würden.
KORDULA: Also, ich weiß nicht... Sie zieht es trotzdem an, mit Riesen-„Weltbuch“-
Schriftzug, häßlich.
9.BESUCHER gibt ihr die Hand: Wir von Weltbuch drücken Ihnen alle fest die Daumen und
hoffen, daß Sie mit diesem originellen Talismann-Shirt noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als Sie verdient haben. Äh. Hier ist noch die passende Mütze und ein Weltbuch-Wimpelchen. Gibt ihr auch das, dann nach links.
Von rechts tritt eine Art Parade auf: an der Spitze, mit Mikro oder Megaphon, der Parkschreier; dahinter einige Mädchen in Flachland-Park-Uniformen, deren eines eine Torte trägt; dahinter die Erntekönigin Anna I. mit einem Korb; dahinter Kordulas Freund Igor; am Schluß eine kleine Kapelle, wie bei Faschingsumzügen, die eine ziemlich unmusikalische Musik produziert.
PARKSCHREIER ins Megaphon, wieder zum Saal: Liebste Leute! Willkommen zum
heutigen Top-Ereignis im Flachlandpark: Kordula Staub wird neunundzwanzig. Happy Birthday! Während des Folgenden spielt die Kapelle „Happy Birthday“, aber viel zu langsam und nicht fehlerfrei. Der Parkschreier spricht dagegen – als Kontrapunkt – wie immer sehr schnell. Und das sind unsere Geschenke, ja eine ganze Riege, ein halbes Heer von aufwendigen, liebevollen und ganz persönlichen Geschenken. Von wem? – Na, von Ihrem Flachland-Park natürlich, dem zweitgrößten Freizeitpark in Deutschland mit der größten Holzachterbahn des Universums, konkurrenzloses Abenteuer und totaler Spaß für die ganze Familie – spannend, sicher, super! Helau! Und hier unser Geschenk Nummer eins: Erntekönigin Anna die Erste aus Stahlfleck. Sie tritt vor und gratuliert. Sie schenkt unserem Pfahlsitzstar zwei exquisite Flaschen Heidelbeerwein aus den Kellern der Firma Edelheide in Sohlgau, des drittgrößten Winzerbetriebs am Ort. Währenddessen hält Anna I. die beiden Flaschen hoch, zeigt sie dem Publikum und überreicht sie Kordula einzeln, ohne Korb. Aber geben wir uns damit zufrieden? – Nein! Hier kommt Geschenk Nummer zwei - bittesehr, Monika! Die Dame mit der Torte tritt vor. Eine Original-Heidelbeercremetorte Flachländer Art, gebacken im Bäckereibetrieb Schlunz&Sohn aus Sohlgau und Liebe zum Pfahlsport! Die Torte wird überreicht. Und jetzt das dritte Geschenk – aufgepaßt, liebes Publikum, jetzt kommen die Gefühle zum Zug! Er hebt die Stimme. Seien Sie live dabei! Kordulas Lebensgefährte - - Igor aus Hannover! Herzlich Willkommen!
Heftiger Applaus und anzügliche Pfiffe. Igor tritt vor den Pfahl. Die Besucher und das Parkpersonal ziehen sich ganz zu den Bühnenseiten zurück, die verdunkelt werden, so daß um das Paar ein scheinbar leerer, ‚intimsphärischer Raum‘ entsteht. Stille. Auch der Parkschreier wird unsichtbar, seine Stimme klingt jedoch, noch immer elektrisch verstärkt, jetzt näher als zuvor, weil er leiser spricht, das Intime des Schauspiels unterstreichend, doch weiterhin eilig, als wolle er die Intimität nur kurz stören.
PARKSCHREIER flüstert: Und Ruhe bitte! Jetzt das Wiedersehen... Kordulas große Liebe
Igor... Seit sage und schreibe hundertunddreizehn Tagen haben sich diese jungen Liebenden nicht gesehen... seit hundertunddreizehn Tagen und Nächten... kein Kuß, keine Berührung... Doch jetzt!... Lodernde Leidenschaft im Flachland-Park... Pssst!... Was für ein Moment!... Pssssst... Die Tageskarte nur neunundvierzig Mark neunzig... Pssssst... Kinder und Studenten die Hälfte... So preiswert kann Liebe sein...
KORDULA verliebt: Hallo, Igor, mein Schatz. Pause. Ich bin so froh...
IGOR verlegen, aber sanft: Herzlichen Glückwunsch. Er gibt ihr die Hand.
Pause. Stille.
KORDULA: Ich bin so froh, daß du hier bist.
IGOR: Ja. Hallo.
Pause.
KORDULA: Geht’s dir gut?
IGOR: Ja. Klar.
Pause.
KORDULA kokett: Auch ohne mich?
Er schweigt.
KORDULA: Hast du mich vermißt?... ein bißchen?... ja?
IGOR: Ja. Hab ich.
Pause.
KORDULA: Ich denke so oft an dich. Weißt du, es ist einsam hier oben...
Pause.
IGOR: Hier unten auch.
Pause.
KORDULA: Soll ich auf einen Kuß absteigen?
IGOR: Nee, laß nur... Das heißt... Kurze Pause. Wann willste denn absteigen... so allgemein,
mein ich?
Pause.
KORDULA: Du meinst, ganz absteigen? Schluß machen mit dem Pfahl?
IGOR: Genau.
Raunen unter den Anwesenden.
PARKSCHREIER wie oben: Haben wir richtig gehört? Kordulas Freund will, daß sie den
Wettkampf abbricht? Die Weltmeisterschaft aufgibt? Könnte der Pfahlsitzsport diesen Verlust verkraften? Wie wird Kordula sich entscheiden? Eine Frau zwischen Liebe und Weltruhm! Kann Sie das ohne Bedenkzeit entscheiden? Wir haben bis 18 Uhr geöffnet...
KORDULA: Aber... wieso? Ich bin in guter Form. Und in fünfzig Tagen habe ich den Titel.
Igor...
IGOR: Ja, ich weiß, aber...
KORDULA: Vermißt du mich so?
IGOR ungeduldig: Ja... Mensch... Du fehlst mir halt, verstehste?
Pause.
KORDULA: Ach so, du meinst...
IGOR wie oben: Genau!
Pause. Kurzes Kichern und Gemurmel unter den Zuhörern.
KORDULA: Aber du hast mir doch gesagt, das ginge. Daß das kein Problem wäre... Das Jahr
im Knast hast du doch auch durchgestanden ohne...
IGOR: Im Knast gings ja nicht anders...
Pause.
KORDULA: Aber jetzt geht’s doch auch nicht anders... Ich meine, ich bin doch gar nicht da...
Pause.
KORDULA: Du, Igor... Sag mal...
IGOR unterbricht: Ja... Eben...
Pause.
IGOR: Genau.
Längere Pause.
KORDULA zitternde Stimme: Soll das heißen, daß du...
IGOR: Ja.
Längere Pause. Kordula beginnt, leise zu weinen.
IGOR verlegen, gibt ihr ein kleines Päckchen: Hier. Tschuldigung... Pause. Sie reagiert
nicht. Und Grüße noch von Olga, die konnte nicht kommen... ist krank...
KORDULA weinend: Danke. Pause. Bin ich jetzt schuld, Igor? Er antwortet nicht. Pause.
Grüß Olga von mir. Pause. Und jetzt geh bitte. Er bleibt stehen. Los, geh!
Igor verschwindet schleichend nach links. Darauf vollständige Dunkelheit. Pause. Stille. Plötzlich, zusammen mit dem ersten Wort des Parkschreiers, geht das Licht an und die Bühne ist wieder voll ausgeleuchtet, greller noch als zu Beginn der Szene. Die Besucher strömen wieder zur Bühnenmitte, während des Schlußworts immer mehr applaudierend. Der Parkschreier steht wieder in der Mitte. Gleich hinter ihm im Halbkreis die Kapelle.
PARKSCHREIER wieder laut: Haben wir zuviel versprochen? Also, Mensch, wenn das
keine Emotionen sind! Und zwar gefühlsecht und zum Anpacken hier im Flachland-Park! Freuen wir uns also mit diesem bezaubernden jungen Paar! Ist das Leben nicht eine tolle Sache? Und zwar für nur Neunundsiebzig-Neunzig für die Zwei-Personen-Karte! Also noch einmal an unser Geburtstagskind: alles Liebe vom Flachland-Park, Kordula, und beste Wünsche für Dein ganz persönliches Glück!
Währenddessen spielt die Kapelle erneut „Happy Birthday“ , diesmal zu schnell. Mit dem Ende der ersten Phrase, also nach acht Takten, und in pathetischem Ritardando, endet die Szene unter heftigem Applaus. Die Musik, der letzte Satz des Parkschreiers und der Applaus enden also in demselben Moment. Dunkel.
SECHSTE SZENE
Ein Tag zwischen dem 120. und 150. Wettkampftag. Abenddämmerung. Regen. Die Pfahlsitzer wieder in Planen gehüllt. Sie sind allein. Stille. Roland durchblättert, vom Langnese-Schirm gegen das Wetter geschützt, fieberhaft Zeitungen, die auf seinem Schoß gestapelt liegen. Wilko, mit Bart und inzwischen langen Haaren, und Kordula, blaß, starren müde ins Publikum.
WILKO: Das ist ein Sommer.
Pause.
KORDULA: Und immer diese Aussicht.
WILKO: Öd. Dunkel.
Pause.
KORDULA: Trotzdem besser als alle die Gesichter im Licht.
WILKO: Das stimmt.
Pause.
KORDULA: Wenn wir hier allein wären, würde mir der Job richtig Spaß machen.
WILKO: Nee. Dafür wird er zu schlecht bezahlt.
KORDULA: Stimmt.
Pause.
KORDULA: Abend für Abend diesen Langweilern gegenüber.
WILKO sieht genauer hin: Ja. Arme Schlucker.
KORDULA: So stell ich mir das Altenheim vor. Pause. Nur daß man da bequemer sitzt.
Pause.
KORDULA: Da sitzt man dann am Fenster und guckt denen da zu.
WILKO: Ist bestimmt ABM. Hab ich auch mal gemacht.
KORDULA: Echt? Müllpicker?
WILKO: Alles.
Der Leierkastenmann überquert mit Schirm und Leierkasten die Bühne. Wenn Roland aufschreit, zuckt er zusammen, bleibt stehen, sieht ins Publikum und seufzt tief; zieht dann weiter.
ROLAND glücklich!: Ahaha!-
Pause. Er liest mit fliegenden Lippen einen Artikel. Die anderen sehen ruhig zu ihm hinüber.
WILKO: Er steht wieder irgendwo.
KORDULA: Vielleicht auch die ideale Heiratsanzeige. „Millionärin sucht schwäbischen
Pfahlsitzer zwecks Gütergemeinschaft.“
WILKO: Liest er denn Heiratsanzeigen?
KORDULA: Ja. Im Schlaf formuliert er manchmal noch an seinen Antwortbriefen.
ROLAND zu den beiden, euphorisch: Sie haben den Bürgermeister Schleicher nach mir
gefragt! Den Bürgermeister von Schneebronn! Ich bin ein ruhiger Bürger, unauffällig und fleißig und interessiere mich sehr für meine Heimat! Er liest nochmals den Artikel.
Pause.
WILKO: Stehn wir da auch drin?
KORDULA: Ja. Ist die „Sohlgauer Stimme“ von letzter Woche. Meine Ausgabe. Er ist ja zu
geizig.
WILKO: Was steht denn drin?
KORDULA: Abgeschrieben von der „Landeszeitung.“ Nur daß Roland auch vorkommt, also
nicht nur mit dem Namen.
WILKO: Und?
KORDULA leiser: Er hätte sich ein großes, altes Bauernhaus gekauft. Und daran schuftet er
jetzt. Außerdem steht drin, daß er Einzelgänger ist und keinem Verein angehört.
WILKO: Logisch.
Pause. Die drei Putzfrauen treten auf. Wie im ersten Akt: man hört sie bereits hinter der Szene, sie tragen Putzkittel und -gerät.
1.PUTZFRAU: Ich hab’s ihm gleich gesagt: und wovon willst du das Haus abbezahlen? Das
geht ja wohl vor. Und dann er: unser Sparbuch. Wer hat gespart? Ich. Zusammengeputzt. Viertausend Mark in zwei Jahren. Weil wir letztes nicht im Urlaub gewesen sind. Bei seiner Mutter in Stahlfleck warn wir. Und dann fragt mich die Frau Klopps beim Straßekehren auf einmal, wie wir zurück sind: hat’s Ihnen denn gefallen in... – wo noch? – in Neufundland! – Das hat er wohl in einem Quiz aufgeschnappt, der Prahlbock! – Und ich schnell: ja, ja, und wie, nur sehr heiß war’s halt. - Ja, in Stahlfleck war’s heiß!
2.PUTZFRAU: Und in Neufundland?
1.PUTZFRAU: Na , in Stahlfleck warn wir! Zum Sparen. Und jetzt? Anderthalb Tausend sind
noch übrig nach den ersten Raten. Zu Weihnachten können wir einen Kredit nehmen. Aber im Benz zur Bank fahren! Draußen den Bauch raus und drinnen dann betteln! Ich hab ihn kleingemacht, und ich sag dir was: geheult hat er. Jawohl. Durch den Türritz hab ich’s gesehen...
Die Drei ab. Währenddessen haben sich die Pfahlsitzer zum Schlafen zurechtgesetzt: alle drei mit auf die Beine geneigtem Oberkörper und geschlossenen Augen. Es wird jetzt schnell, zeitlich gerafft, nachtdunkel. Vollmond.
ROLAND im Schlaf murmelnd: Kunst... Segeln... Golf... ich auch... vielseitig... flexibel...
weltoffen... auch... Ski... Reiten... ich auch... Golf... Pause. ich auch...
SIEBTE SZENE
164. Wettkampftag. Countdown zum Weltrekord. Sonnenschein, Besucherlärm. Im Vordergrund drei Fernsehteams: Kameras, Kameramänner, Kabelträger, Regisseure, Moderatoren. Die Pfahlsitzer feierlich herausgeputzt: Roland und Wilko mit Krawatte, rasiert und frisiert, Kordula geschminkt und mit auffälligen Ohrringen. Alle sind nervös, Roland am meisten. Zu Beginn der Szene erscheint links der Leierkastenmann und wird von einem der Fernsehleute rasch aus dem Bild geschoben. Das Gleiche widerfährt wenig später den drei Putzfrauen, die von rechts erscheinen. Die Besucher kreuzen hinter den Pfählen die Bühne, behindern also nicht die Aufnahmen und bleiben unbehelligt; unter ihnen die Japaner, Poldino, Fellingborsteler Fußballer und einige der Besucher aus der fünften Szene. Sie kommen einzeln oder in Gruppen, auch Familien, essen Eis, trinken Bier, fotografieren, streiten, küssen sich usw. Manche bleiben stehen und winken in die Kamera, rufen dazwischen und grüßen ihre Freunde. Andere laufen rasch zu einem der Pfahlsitzer und lassen sich ein Autogramm geben. Allen sollte man aber ansehen, daß sie nicht etwa zufällig vorbeigehen, sondern sich dort wegen der Kameras so zahlreich aufhalten. Freilich sollte man ihnen ebenfalls ansehen, daß sie genau das verbergen wollen. Vor den drei Pfählen steht je ein Moderator mit Mikro: vor Kordulas Pfahl eine Dame von N3, vor Wilkos ein Herr vom ORB und vor Rolands Pfahl der Kulturmensch vom ZDF (Hannover).
N3-MODERATORIN: Herzlich Willkommen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, zu
unserer heutigen Ausgabe der N3-„Regionalzeit“ aus dem Flachland-Park Sohlgau. Hier findet seit sage und schreibe hundertvierundsechzig Tagen der wohl längste Sportwettkampf der Welt statt. Während sie weiterspricht:
ORB-MODERATOR hat bereits begonnen: ... Vor fünf Jahren wurde im zweitgrößten
Familienpark Westdeutschlands erstmals eine Weltmeisterschaft im Pfahlsitzen ausgetragen, die inzwischen Ausdauernde aus den alten und neuen Bundesländern anlockt. Nicht zuletzt wohl wegen eines Preisgeldes von 20.000 Mark für den Sieger, der sich ab dem heutigen Tage auch auf den Weltrekord-Bonus von 15.000 Mark freuen kann. Während er weiterspricht:
ZDF-MODERATOR bereits auf Sendung: ... Gerade erst hat Parkinhaber Hans-Jörg
Hartmann zu Beginn der Saison die angeblich größte Holzachterbahn der Welt präsentiert, da hat die Vergnügungsmaschinerie bereits ihren nächsten Superlativ hervorgebracht. Mit einhundertvierundsechzig Tagen Dauerhocken ist heute der Weltrekord im sogenannten Pfahlsitzen gefallen. Während er weiterspricht:
N3-MODERATORIN hat inzwischen weitergesprochen: ... Hinter mir sitzt nun eine der drei
Weltmeister und Weltmeisterinnen, nämlich Kordula Staub aus Hannover, neundundzwanzig Jahr alt und selbständig, die dem Duell mit den beiden Männern siegessicher entgegensieht. Sie wird von Fans aus der Region eifrig unterstützt und kann mit über 500 Briefen und Emails, die sie bisher erhalten hat, hier sicher als die Sympathieträgerin gelten. Wie oben:
ORB-MODERATOR hat inzwischen weitergesprochen: ... Mit Wilko Peschke aus
Klüterbog wird es also in einer knappen Viertelstunde zum ersten Mal in der Geschichte dieses Sports einen brandenburgischen Weltmeister geben. Grund genug für uns vom ORB, Ihnen diesen bedeutsamen Countdown und natürlich die Hintergründe des Wettbewerbs zu präsentieren. Wie oben:
ZDF-MODERATOR hat inzwischen weitergesprochen: ... Vor diesem symptomatischen
Hintergrund werden wir heute in „Der philosophische Flaneur“ über das Thema sprechen: „Beachtet mich! - Der Kampf um die Aufmerksamkeit.“ sieht auf seinen Zettel, wo er folgende aktualisierende Stichwörter notiert hat: Amokläufer und Pop-Heroen, Ich-AG-Manager und Egoterroristen – die Spirale der Spaßgesellschaft dreht sich immer weiter...
Im selben Moment stürmt von hinten ein junger Mann – entweder grotesk kostümiert oder gleich nackt – vor die Kamera und schreit ein paar besonders populäre Namen heraus, etwa: „Jesus! Hitler! Einstein! Elvis!“ Er wird rasch entfernt.
N3-MODERATORIN wie oben: Dazu und zu allem anderen wollen wir jetzt die
selbstsichere Teilnehmerin aus Niedersachsen befragen, die sich fest vorgenommen hat, als letzte vom Pfahl zu steigen. Sie dreht sich zu Kordula um. Herzlich Willkommen bei N3 und „Regionalzeit“, liebe Kordula...
ORB-MODERATOR wie oben: Er ist dreißig Jahre alt, gelernter Maurer und zur Zeit
arbeitslos. Ein normaler junger Mann aus Deutschlands Osten. Und gleich nach der Weltmeisterschaft will er, vielleicht sogar mit dem Preisgeld in der Tasche, seine Freundin Maggie Moltke heiraten. Er dreht sich zu Wilko um. Hallo und guten Tag, Wilko Peschke...
ZDF-MODERATOR wie oben: Und damit darf ich unseren heutigen Gast bei uns im ZDF
begrüßen. Als ‚philosophischer Flaneur‘ ist er nicht nur einem breiten Publikum durch seine zahlreichen Fernsehauftritte bekannt, sondern er ist auch und sozusagen hauptberuflich Philosoph – und zwar einer, der als streitbarer Geist zwischen allen Stühlen immer wieder in brisante Debatten eingegriffen hat. Ich begrüße ganz herzlich Herrn Professor Pieter Vonderdijk. Seien Sie gegrüßt... Vonderdijk ist inzwischen hinzugetreten.
KORDULA zur N3-Moderatorin, bereits im Gespräch: ... Als versuchte Vergewaltigung
würde ich es vielleicht nicht bezeichnen, aber als Belästigung schon. Wir haben beide gerade Pause gemacht – hier auf dem Pfahl kommt er ja nicht ran. Und da fragt mich Herr Maierle, ob er einmal mein wunderschönes Haar streicheln dürfte. Ich war natürlich total überrascht und hab sofort abgelehnt. Vor allem, als er noch dazugesagt hat, daraus würde sich dann ein Feuer der Liebe entwickeln...
WILKO zum ORB-Moderator, bereits im Gespräch: ... Müllpicker, Spargelernte,
Hilfsarbeiter, alles. Immer ABM. Abends noch schwarz unter irgendeinem Auto vielleicht. So. Und jetzt vor ein paar Tagen klingelt hier mein Pfahltelefon und ich hab was. Also vielleicht. Auf einem Schlachthof im Spreewald. Die sind wohl durch die Pfahlsitzerei auf mich aufmerksam geworden. Auch wenn ich nur Dritter werde, hab ich immer noch 5.000 Mark und dann die Stelle. Also vielleicht...
VONDERDIJK zum ZDF-Moderator, bereits im vierten Jahrhundert: ... Im vierten
Jahrhundert dann etwa, also im Zenit frühchristlicher Modi vivendi wie des Asketismus und Anachoretentums, ist auch gerade diese archaische Form der Selbstausstellung durch die räumliche Erhöhung auf einem Pfahl oder einer Säule einigermaßen en vogue. Die eremitische Elite jener Zeit lebte tatsächlich jahrelang unter Bußübungen auf solchen Säulen – der Begriff „Säulenheilige“ ist ja bis heute geläufig. Einer der berühmtesten dieser Styliten, Symeon der Ältere, wurde trotz diesem doch sehr frugalen Lebenstil sogar annähernd siebzig Jahre alt...
KORDULA wie oben: ... So irre Menschen gibt’s eben. Der ist ja auch überzeugt, wir, also
wir Norddeutsche oder wir Frauen oder was weiß ich, würden ihn hier vom Pfahl mobben wollen. Kürzlich hat irgendein schwäbisches Blatt angerufen, mit denen hat er sich nur flüsternd unterhalten. Aus Angst vor Spionage. Ich werde hier belauscht, hat er gesagt. Hab ich genau gehört. Total irre, der Mann. Ich rede gar nicht mehr mit ihm. Vor ein paar Tagen haben wir ja noch verhandelt, der Wilko und ich...
WILKO wie oben: ... Wir haben dem Roland Maierle vorgeschlagen, daß wir zusammen
absteigen nach dem Weltrekord. Also heute oder demnächst. Jedenfalls zusammen. Alle drei Preise mit den 15.000 Rekordbonus macht insgesamt 50.000 Mark. Und das dann durch drei, wenn wir mit den gleichen Zeiten absteigen. Also fast 20.000 für jeden. Mir reicht das. Ihm nicht. Macht er nicht, hat er gesagt. Erstens will er alles, also 35.000 für den Sieger. Und zweitens kämpft er für Baden-Württemberg...
VONDERDIJK beim Thema ‚Aufmerksamkeit‘ angelangt: ... Das gehört zum
überindividuellen Wertebereich der Identität, der desto relevanter wird, je weniger die Individualität geeignet ist, ein positives Selbstwertgefühl zu konsolidieren – und das heißt: je weniger der Einzelne als Einzelner begabt ist, Aufmerksamkeit zu erregen. Denn Wertschätzung und Aufmerksamkeit ist nachgerade der Humus für ein positives Selbstbild, die conditio sine qua non, man kann sagen: das Elixier pychischer Gesundheit. Wohlgemerkt, ich referiere hier Fakten aus der psychologischen Forschung. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, schreibt Martin Buber. Und in Abraham Maslows fünfstufiger Bedürfnispyramide rangiert das Anerkennungs-Bedürfnis gleich nach dem Bedürfnis nach Liebe und emotionaler Partizipation...
KORDULA: ... ‚Feuer der Liebe‘ – ist das etwa nicht total irre? Ich glaub sowieso, das mit
der Liebe wird ein bißchen überschätzt. Jeder Dahergelaufene schmeißt heute mit so Sprüchen um sich. Jedenfalls, seitdem kein Wort mehr zwischen mir und Herrn Maierle.
N3-REPORTERIN: Trotz alledem konnte er Sie nicht aus dem Feld schlagen, ebensowenig
ihr anderer männlicher Konkurrent. Womit wir beim großen Thema wären: Kordula, in weniger als fünf Minuten sind Sie die erste weibliche Pfahlsitz-Weltmeisterin überhaupt! Wie fühlen Sie sich? Und was kommt danach?
KORDULA: Erstmal will ich das feiern. Ich freu mich natürlich riesig. – Und danach
sitzenbleiben. Herr Maierle sagt, diesmal wird Schwaben Weltmeister. So ein Schwachsinn macht mich nur noch sturer. Jetzt bleibe ich erst recht hocken!
WILKO: Ehrlich gesagt, mir fehlt seit heute vielleicht ein bißchen der Antrieb
weiterzumachen. Weltrekord, das war so ein Ziel. Und jetzt, na ja, hab ich kein Ziel mehr... Andererseits, als Dritter absteigen... Also 5.000, das wär vielleicht doch ein bißchen mager für die ganze Hockerei.
ORB-REPORTER: Ich jedenfalls will Ihnen, lieber Wilko Peschke, ganz herzlich und im
Namen von ganz Brandenburg gratulieren und weiterhin viel Erfolg wünschen. In knapp vier Minuten sind Sie der erste Pfahlsitz-Weltmeister aus den neuen Ländern. Hätten Sie das gedacht?
WILKO: Auf keinen Fall. Ich kann es eigentlich noch gar nicht so richtig fassen. Das kommt
vielleicht erst. Jedenfalls will ich mich bei allen Brandenburgern für die tolle Unterstützung bedanken.
VONDERDIJK: ... Wenn man hier ein wenig respektlos psychologisiert, lassen sich die
Styliten als diejenigen Eremiten deuten, die sowohl die selbstwertfeindliche Anthropologie des Christentums als auch die anachoretische Selbstdemütigung dadurch kompensieren, daß sie sie als Heiligentum gut sichtbar exponieren und damit gewissermaßen aus einem individuellen Nichts, indem sie es auf die Säule setzen, einen asketischen Heros machen.
ZDF-MODERATOR nickt: Eine Art Märtyrer der Aufmerksamkeit also. Kann man,
anknüpfend an Ihren Exkurs zur Identität vorhin, vielleicht sagen, daß diese Aufmerksamkeit die asketische Identität bestärkt und stabilisiert habe?
VONDERDIJK: Absolut. Eine Identität ohne die Aufmerksamkeit, die sie spiegelt, wird
früher oder später veröden.
Von rechts treten auf der Parkschreier, Poldino, das japanische Ehepaar, die Bürgermeisterin von Sohlgau, die Reporterin und der Fotograf sowie die Fellingborsteler mit Kalle Bockfeld. Von links das Betreuerteam, der Leierkastenmann, die drei Putzfrauen, Wilhelm von Knoop und der Grotesk-Kostümierte bzw. Nackte vom Beginn der Szene. Die Besucher aus der fünften Szene - allerdings ohne Klaus-Dieter und Ibrahim - treten zu etwa gleichen Teilen von beiden Seiten auf. Ebenso die Jounalisten. Sie alle sammeln sich um die Pfähle. Die Moderatoren vor ihnen, so daß niemand ‚im Bild‘ steht. Die Flanierenden im Hintergrund sind alle aufmerkend stehengeblieben. Roland, der bisher aus Trotz, nachdem er gemerkt hat, daß niemand ihn interviewen will, Akten geordnet hat, legt diese nun weg.
PARKSCHREIER grinsend: Höchstverehrte Damen und Herren! Liebes Publikum hier, vor
den Bildschirmen und in aller Welt! Heute ist es soweit! Der Weltrekord im Pfahlsitzen wird in knapp zwei Minuten neu definiert! Applaus und Jubel. Ja, ich finde, es liegt etwas in der Luft an diesem wunderschönen, sonnigen Spätsommermittag, nicht wahr? Und nicht nur das herrliche Wetter, auch die wunderbare Stimmung hier tragen dazu bei: das ist heute ein besonderer und großer Tag - nicht nur für unsere heldenhaften Pfahlathleten! Sondern auch für den Flachland-Park, für Sohlgau, die ganze Region und den gesamten Pfahlsitzsport, wo immer er auch ausgeübt wird! Diese drei ausdauernden Herrschaften hinter mir sind definitive Weltklasse! Denn nicht von ungefähr habe ich jetzt die Ehre, sage und schreibe vierzig Journalisten hier im Flachland-Park noch schnell begrüßen zu dürfen. Und nicht ohne Grund liest sich die Liste der heute anwesenden Medien wie ein Who-ist-who des erstklassigen Journalismus. Begrüßen Sie also mit mir unter vielen, vielen anderen N3, ZDF, ORB, dpa, AP, „Neue Presse Hannover“, „Flachland-Kurier“, „Landeszeitung Lüneburger Flachland“, „Sohlgauer Stimme“, „Märkische Allgemeine“, „Märkische Oderzeitung“, „Brandenburger Tagesblatt“, „Schwäbischer Bote“, Hitradio Antenne Hannover, Radio BB Potsdam, Radio Ton aus Heilbronn und die exklusiven Fachzeitschriften „Orthopädische Monatspost“, „Chiropraktiker-News“, „Buddhismus heute“, „Psychopathologie morgen“ sowie das Satiremagazin „Britannic“ – herzlich Wilkommen! – Und schon läuft der Countdown. – Noch zwanzig Sekunden! - laut und deutlich, akzentuiert: Hier und jetzt, am 11. September 2001 um 15 Uhr fällt der bisherige Pfahlsitzweltrekord von einhundertvierundsechzig Tagen! Achtung! – Zehn... Neun... Acht... Sieben... Sechs... Fünf... Vier... Drei... Zwei... Eins...- -
Alle zählen laut mit. Zu Beginn des Countdowns beginnt sich der Vorhang zu senken, und zwar gerade so langsam, daß er exakt zur Sekunde Null ganz geschlossen ist. Im selben Moment hört man lautes, den Jubel übertönendes Gedonner.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen