31.12.2007

Die Pfahlsitzer - Erster Akt


Das „Holland-Viertel“ im „Flachland-Park“. Im Hintergrund nachgebaute Delfter Häuserfronten inklusive Mini-Windmühle. Links am Bühnenrand die Hütte des Wettbewerbsbüros, worin sich die Betreuer aufhalten; an der Tür ein Schild mit der Aufschrift JURY. In der Nähe eine Videokamera auf einem Stativ, immer eingeschaltet. Im hinteren Bühnenabschnitt die zehn Pfähle: 2,50 m hohe Holzstämme mit einer Sitzfläche von 60 x 40 cm, die mit einer Treppe umbaut sind. An jedem Pfahl befinden sich eine Uhr, ein Telefon und Banner folgender Sponsoren: Langnese, Puma, Weltbuch, Mme Tussaud, Volksbank Lüneburger Flachland und Möbel Munter. Unterhalb der Sitzfläche befindet sich ein Schubfach, dem die Pfahlsitzer Utensilien wie Radios, Bücher, Getränke, Pokale, Akten, Hanteln, Familienfotos u.ä. entnehmen. Auf der Sitzfläche sind Kontrollsensoren installiert. Um die Pfähle, die übrigens numeriert sind, liegen Strohmatten zum Schutz von herabfallenden Sportlern. Weiße Langnese-Sonnenschirme gegen das Wetter. Während des gesamten Tages hört man das an- und abschwellende Geschrei und Geratter der nicht fernen größten Holzachterbahn der Welt. Außerdem hin und wieder Leierkastenmusik. Vor den Pfählen warten die zehn Teilnehmer auf den Beginn der Weltmeisterschaft. Links vor der Hütte das fünfköpfige Betreuerteam in der Mitarbeiteruniform des Flachland-Parks. Neben ihnen der Fotograf und die Reporterin der „Landeszeitung Lüneburger Flachland“. Etwas mehr zur Mitte der Hamburger Generalkonsul der Niederlande. Rechts Mitglieder des 1.FC Fellingborstel, Bierdosen öffnend, austrinkend und wegwerfend. Ebenfalls rechts die übrigen Begleiter der Teilnehmer: Herr und Frau Gernhardt und Amos Che, ein Junge von höchstens acht Jahren. In der Bühnenmitte, vorn an der Rampe, der Parkschreier mit Mikrofon, zum Theaterpublikum gewandt: er hält die Weltmeisterschaftseröffnungsrede. Es ist der 1. April 2001, 10.30 Uhr.


PARKSCHREIER laut: Sehr geehrte Damen und Herren! Hochverehrtes Publikum! Liebe

Teilnehmer! Ich darf Sie alle hiermit heute herzlich willkommen heißen. Der Flachland- Park, das große Freizeit- und Familienangebot im Lüneburger Flachland, freut sich riesig, Ihnen das große Ereignis der Saison präsentieren zu dürfen. In Zusammenarbeit mit Langnese, Weltbuch und Möbel Munter starten an diesem wunderschönen Morgen im berühmten „Holland-Viertel“ unseres Flachland-Parks unsere zehn Weltklasseteilnehmer zur Fünften Weltmeisterschaft im Pfahlsitzen und damit zur wahrscheinlich längsten Wettbewerbsverunstaltung, Verzeihung: -veranstaltung der Erde. Er schaut in seinen Zettel. ‚Paalsitten‘ heißt diese ebenso ungewöhnliche wie hochinteressante Sportart bei unseren niederländischen Nachbarn, die die Not erfinderisch machte, als 1952 eine große Sturmflut den niederländischen Landesteil Holland leider völlig unter Wasser setzte. Damals flüchteten sich die Menschen auf Weidepfähle, um zu überleben. Hier geht es jetzt zwar nicht ums Überleben, liebe Gäste, keine Angst, aber um immerhin sage und schreibe 20.000 Deutsche Mark und den Titel Weltmeister im Pfahlsitzen für den Sieger plus 15.000 Deutsche Mark Bonus, falls der Weltrekord gebrochen wird. Also riesige 35.000 Mark sind drin für den ersten Platz! Der zweite und dritte Platz sind mit immerhin tollen 10.000 und 5.000 D-Mark ebenfalls riesig dotiert. Alle Preise wurden gestiftet von der Volksbank Lüneburger Flachland und Puma. Und dies sind sie, die diesjährigen Wettkämpfer um den großen Weltmeistertitel im Pfahlsitzen – bei uns im Flachland-Park: auf Pfahl Numero eins wird sitzen Klaus-Dieter Wampenhäger aus Bremen, mit satten 63 Jahren der allerälteste Teilnehmer, den wir je hatten. Viel Glück! Auf Pfahl zwei, mit Außenseiterchancen: Ibrahim Mohamed aus Ägypten beziehungsweise Köln. Wir wünschen angenehmen Aufenthalt bei uns in Deutschland! Auf dem Pfahl mit der Nummer drei versucht sich die einzige Frau im Feld: Kordula Staub aus Hannover. Viel Glück, Kordula! Dann auf dem vierten Pfahl unser polnischer Mitbürger Darius Swiazek aus Danzig. Hab‘ ich das richtig ausgesprochen, ja? - Nebenan auf Pfahl Nummer fünf, als Einziger aus den neuen Ländern: Wilko Peschke, arbeitslos und aus Brandenburg - ein waschechter Preuße also. Pfahl sechs ist ab heute der Tummelplatz für unseren Flachland-Park-Clown Poldino, seit vielen Jahren der Liebling von Jung und Alt. Wir sind gespannt, was du wieder anstellst, Poldi! Auf Pfahl sieben, wieder ein Teilnehmer aus Niedersachsen: Florian Gernhardt, 27 Jahre und Lehrling. Na, Geduld scheint der ja zu haben! – Dann auf Pfahl Numero acht Herr Rafael Nymphenbach. - Sicher ein Künstlername, weil bei mir steht, Sie sind Kunstmaler. Stimmt das? Im Ernst? - Tatsächlich, Sie hören es: ein echter Picasso also hier im Flachland-Park! lacht künstlich Auf Pfahl neun, aus dem fernen Schwaben und im vergangenen Jahr schon nach vier Tagen ausgeschieden: Roland Maierle. Und schließlich, last but least sic! Kalle Bockfeld, Metzger und Rechtsaußen beim 1.FC Fellingborstel und mit 24 Jahren der jüngste Titelanwärter. Gejubel der Fußballer Alles Gute, Jungs! – Das Ziel ist klar, liebe Leute: Sitzenbleiben bis zum Umfallen. Dabei sind leider ein paar Regeln zu beachten: Schneidersitz, Hocke und Knien ist verboten. Der Sitzflächenkontakt per Hinterteil muß gewährleistet bleiben. Aufstehen außerhalb der Pausen ist verboten. Unsere Kontrollsensoren registrieren sofort, wenn jemand sich auch nur kurz vom Pfahl anhebt. Die Videoüberwachung hier zu meiner Rechten dient einer zusätzlichen Kontrolle - ausschließlich zu Ihrer eigenen Sicherheit natürlich. Eine Pause von maximal zehn Minuten ist alle zwei Stunden erlaubt. Die Zeit wird gestoppt. Gleich um die Ecke befinden sich Ihre praktischen WC- und Waschkabinen. Und eine nicht weniger luxuriöse und geschmackvolle Mahlzeit wird Ihnen dreimal täglich, solange Sie hier sitzen, kostenlos von Ihrem Flachland-Park ‚frei Pfahl‘ geliefert werden! lacht wie oben Die Einhaltung der Regeln wird von unserem speziell geschulten Pfahlsitz-Wettbewerbs-Team streng und gerecht überwacht. Zu meiner Rechten darf ich Ihnen also vorstellen - Jury, Ordnungshüter und Seelsorger in einem - ...

AMOS CHE während der Parkschreier weiterspricht: Opa, ich muß mal.

KLAUS-DIETER WAMPENHÄGER: Nicht jetzt, Junge. Opa will doch Weltmeister werden.

AMOS CHE: Ich weiß... Aber ich glaub, solang kann ich nicht mehr warten.

KLAUS-DIETER: Sei doch mal still, ich versteh ja nichts! Gerade die Ordnungshüter, Junge,

das sind die zweitwichtigsten Leute hier.

AMOS CHE nach einer Pause: Opa, ich hab Angst.

PARKSCHREIER hat inzwischen weitergesprochen: ... und last but least Meinolf

Räudemann, unser Wettkampfchef, der heute höchst persönlich die Pausen stoppen und genau überwachen wird. Stimmt’s, Meinolf? - Das also unsere kompetente und sympathische Wettkampf-Jury. - Doch bevor unser Startschuß um Punkt elf Uhr fallen wird, darf ich alle Anwesenden noch sehr herzlich darauf hinweisen, daß Sie sich hier in nur geringer Entfernung von der mit Abstand größten, höchsten und schnellsten Kiefernholzachterbahn unseres Planeten befinden! Ja, Sie haben ganz richtig gehört. Die Mega-Attraktion der Freizeit und Familienparks weltweit, direkt um die Ecke: unsere neue Achterbahn TITANIA. Und hier ist Nomen Omen, liebe Gäste, denn ...

FRAU GERNHARDT während er weiterspricht: Ist alles in Ordnung, mein Junge? Bist du

bereit?

FLORIAN: Ja, ja, klar doch.

FRAU GERNHARDT: Willst du nicht doch lieber mit nach hause fahren?

HERR GERNHARDT: Jetzt laß doch den Kerl! Jetzt soll er endlich mal was leisten.

FRAU GERNHARDT ängstlich: Ich hab überhaupt nicht gewußt, wie hoch die Pfähle

da sind...Das sind ja mindestens drei Meter...

HERR GERNHARDT: Zwei Fuffzig, höchstens. Wenn er da runterplotzt, merkt er

auch, wie hart unser Geld verdient wird.

PARKSCHREIER hat inzwischen weitergesprochen; begeistert: ... 120 Stundenkilometer, 61

Grad Maximalgefälle vom 60 Meter hohen Gipfel der Strecke und 67 Grad Querneigung in der drittsteilsten 360-Grad-Schleife Westeuropas ...

1. FUSSBALLER: Echt geil, die Bahn. Haste gehört? Drittgeilste Schleife Europas.

2. FUSSBALLER: Hab’s gehört.

1. FUSSBALLER: Atze, haste gehört?

3. FUSSBALLER: Klar, 370 Grad.

4. FUSSBALLER: Ich geh gleich ma rüber. Kommt wer mit?

Schweigen.

1. FUSSBALLER: Klar. Nachher.

3. FUSSBALLER: Ja, nachher.

5. FUSSBALLER: Habt ihr Schiß, oder was? Also ich geh jetzt.

6. FUSSBALLER: Ich komm mit.

5. FUSSBALLER: Dann komm.

Die beiden gehen.

4. FUSSBALLER: Also, ich geh auch gleich.

PARKSCHREIER wie oben; euphorisch: ... 3.000 Kubikmeter

heimisches Kiefernholz, genug übrigens für mehr als 700 Dachstühle, 750.000 Nägel, 3.800 Kubikmeter Beton, 125.000 Kilo Stahlteile, 90.000 Holzteile, davon 20.000 verschiedene, 80.000 Kilogramm Muttern, Schrauben und Beilagscheiben, sage und schreibe 3.470.000 Dezimeter ...

KORDULA zu Ibrahim: Kommst du aus Kairo?

IBRAHIM: Köln-Nippes.

KORDULA: Eine Freundin von mir wohnt in Köln. Da bin ich öfters zu Besuch. Ist

eine schöne Stadt. Der Dom und so. Wir sind einmal bis ganz oben raufgestiegen. Kann man ja. Achthundert Stufen, glaub ich. Aber ich bewege mich ja sehr gern. Ich jogge auch immer am Rhein entlang, wenn ich da bin, morgens um sieben Uhr. Köln ist so eine junge, dynamische Stadt, finde ich. Das spornt einen richtig an. Als ich das letzte Mal bei meiner Freundin war, habe ich mir auch fest vorgenommen, noch mehr aus meinem Leben zu machen. Aktiver zu sein, kreativer. Deshalb nehme ich auch hier teil. Also Köln hat mich da ein bißchen animiert, sozusagen. Das war jedenfalls eine tolle Aussicht oben auf dem Dom.

IBRAHIM: Ja, ja, der Dom.

KORDULA: Aber die Pyramiden sind ja noch toller.

PARKSCHREIER wie oben; ekstatisch: ... vom weltberühmten Münchener Ingenieur

und Achterbahnpapst Walter Stummel, dessen Büro schon mehr als 440 Anlagen weltweit entworfen hat - mehr als die Hälfte aller auf dieser Erde existierenden Achterbahnen; exklusiv für den Flachland-Park haben elf hochrangige Statistiker sic! mehr als 3.000 Zeichnungen angefertigt, die Vermessungsingenieure 950 Einzelfundamente, 3.800 Fundamentpunkte, 520 großartige Richtungspunkte ...

KLAUS-DIETER: Unglaublich! Das sind noch Leistungen! Hast du das gehört,

Junge? - Dreitausend Fundamente! Weißt du, was das bedeutet? - Wir sind immer noch Weltklasse. Absolute Weltklasse! Wieder! Trotz verlorenem Krieg. Sowas haben auch die Amerikaner nicht. Trotz ihrem ganzen Geld. Da sieht man doch, daß die wirklich großen Leistungen keine Frage des Geldes sind. Klugheit, Fleiß, Disziplin - darauf kommt es an. Das sind die Stärken unseres Volkes. Ja, das sind noch Tugenden, Junge! Hast du gehört? Wahre Tugenden!

AMOS CHE steht mit gekreuzten Beinen, gequält: Opa, ich hab Angst.

PARKSCHREIER wie oben; etwas ermüdet: ... hat schon unzählige Achterbahnfans

aus aller Welt begeistert. Also lassen auch Sie sich dieses faszinierende Wunderwerk der modernsten Technik nicht durch die Lappen gehen. Absolutes Abenteuer und totaler Spaß in Ihrem Flachland-Park! Spannend, sicher, super! - Den Weg muß ich Ihnen wohl kaum erklären. Sie sehen die über 60 Meter hohe TITANIA problemlos von hier. Er zeigt die Richtung. Zwei der Fußballer drehen sich dahin um und sehen nach oben; Gekreisch von dort; der erste stößt den zweiten an mitzukommen; der nickt, bleibt aber noch einmal stehen, sieht nach oben und dreht sich wieder zu den Pfählen um; der erste geht ab und kommt im nächsten Augenblick wieder zurück. Das alles während der Parkschreier weiterspricht.

Jetzt aber, liebes Publikum, ist die große Stunde gekommen. Der Countdown läuft, es ist eine Minute vor elf. Genug Zeit also noch, Ihnen ganz herzlich unseren heutigen Ehrengast und Prominenten vorstellen zu dürfen, der extra zum Startschuß dieses größten Wettbewerbs in der Nationalsportart seiner Heimat zu uns gekommen ist: aus Hamburg der Generalkonsul der Niederlande, Willem van Sterneberg. Wir begrüßen Sie aus ganzem Herzen. Haben Sie auch Ihre Schreckpistole mitgebracht, Herr Sternenberg? - Ja, da ist sie, na das klappt ja wunderbar bei Ihnen hinterm Deich. – Achtung noch dreißig Sekunden. Auf die Plätze, liebe Pfahlsitzer. Wir sind mindestens so aufgeregt wie ihr. Hab ich recht, Herr Sternenzwerg? Sicher einer der spannendsten Wettkämpfe der Welt, meine Damen und Herren. Wer wird den Weltrekord überbieten können, den Seppl Silbermann aus München im vorigen Jahr hier aufgestellt hat: sage und schreibe 3.854 Stunden und zehn Minuten in 164 Wettkampftagen! Aber laßt euch nicht entmutigen! Denkt an die Preise – noch zehn Sekunden – bis zu 35.000 D-Mark und Ruhm und Ehre für den Titelträger. Herr Steineberg – Achtung! –Schießen Sie – los!

Der Generalkonsul gibt den Startschuß. Die Pfahlsitzer laufen die Treppen hoch. Mit Ausnahme von Kalle Bockfeld, der in einer Hand eine Bierdose balanciert und vorsichtig hinaufschwankt, während seine Kumpane ihn anfeuern. Poldino stolpert mit seinen Clownsschuhen, fällt hin, klettert wieder, springt dann über den Pfahl hinweg in die Matten, steht auf, klettert wieder usw. Schließlich sitzt er. Währenddessen hat sich der Parkschreier mit einem Tuch den Schweiß abgewischt und ist gegangen, mit müder, abgespannter Miene. Der Konsul geht ebenfalls ab. Das Betreuerteam kontrolliert die Uhren, Videokamera etc. Meinolf wacht breitbeinig und bierbäuchig vor seiner Hütte. Die Pfahlsitzer hocken still und konzentriert, die Blicke starr über das Publikum gerichtet; die Mimik etwa wie Sprinter am Start. Nach der ersten Minuten fangen sie an, sich gegenseitig möglichst unbemerkt zu beäugen. Die Reporterin macht sich mit Notizblock zum Interviewen bereit. Der Fotograf fotografiert.

FRAU GERNHARDT: Sitzt du gut, Junge?

FLORIAN entnervt: Ja, klar doch.

FRAU GERNHARDT: Wird dir auch nicht schwindlig da oben?

HERR GERNHARDT: Jetzt laß endlich den Kerl! Hier kann er jetzt zeigen, was er kann. Und

was kann er schon – außer Herumsitzen?

FRAU GERNHARDT: Aber mehr muß er hier doch auch gar nicht.

HERR GERNHARDT: Eben. Andere arbeiten, werden was, sind was, verdienen was.

Er sitzt da oben und wartet, daß man ihm Geld gibt.

FLORIAN: Ich warte nicht. Ich werde Weltmeister.

FRAU GERNHARDT: Da hörst du’s.

HERR GERNHARDT: Sehen will ich’s, nicht hören.

FLORIAN: Ihr werdet alle noch große Augen machen.

FRAU GERNHARDT: Da siehst du’s.

HERR GERNHARDT: Ich sehe zehn Affen, die auf Pfähle klettern, weil sie sonst

nirgends hochkommen. Und einer der Affen ist unser Sohn.

FLORIAN sehr entschlossen: Ich werde Weltmeister.

FRAU GERNHARDT: Jawohl. Unser Sohn wird Weltmeister. Höher kann man doch

gar nicht kommen! Und sein Vater, wie hoch ist der gekommen? Bis in die Kanäle runter – so hoch!

HERR GERNHARDT deutet auf Florian: Und er hat noch von der Scheiße schmarotzt!

FLORIAN: Wenn ich hier fertig bin, zahl ich’s dir auf den Groschen zurück.

FRAU GERNHARDT: Unsinn. Das brauchst du nicht, Junge.

HERR GERNHARDT: Werd erst mal Weltmeister. Dann kannst du abrechnen. Komm

jetzt, Helga.

FRAU GERNHARDT: Hier, Junge, deine Brote. legt ihm ein Proviantpäckchen auf die

Treppe Viel, viel Glück!

HERR GERNHARDT: Also, wir gehen.

FLORIAN: Geht nur. Ich komme in 200 Tagen nach.

HERR GERNHARDT spöttisch: Laß dir nur Zeit. wendet sich ab, zum Gehen

FRAU GERNHARDT sich im Abgehen umdrehend: Herr Jesus, wie er da sitzt – wie

auf einem Thron.

Beide ab.

Die Reporterin hat inzwischen ihre Befragung der Pfahlsitzer bei Klaus-Dieter Wampenhäger begonnen. Amos Che steht dabei, unruhig von einem Bein auf das andere tretend und die Hände in den Schoß gepreßt.

REPORTERIN: Glauben Sie denn, daß Ihr sicher eher ruhiges und unauffälliges Dasein

als Finanzbeamter und Frührentner ein Grund für Ihre jetzige Abenteuerlust ist?

KLAUS-DIETER: Ruhig, sagen Sie?! lacht Also, liebes Fräulein, Sie hätten bei uns

mal dabeisein müssen! Ich weiß noch, wie Gregor Haase, unser Praktikant, damals-

AMOS CHE unterbricht: Opa, ich muß mal.

KLAUS-DIETER böse: Jetzt reicht’s aber! Du kannst doch die Dame von der Zeitung

nicht einfach unterbrechen! Das ist hier ein Interview, Jüngchen, dein Opa kommt in die Zeitung, mit Foto und allem! Genau wie der Bundeskanzler!

REPORTERIN nutzt die Fluchtgelegenheit: Danke für das Gespräch. Sie geht zum

zweiten Pfahl, während Klaus-Dieter seinen Enkel umso erregter ausschimpft. Ibrahim unterhält sich gerade mit Kordula, d. h. er hört ihr zu, d. h. er tut so. Guten Tag, mein Name ist Inken Jägermann, ich bin Regionalkorrespondentin und Eventreporterin der „Landeszeitung Lüneburger Flachland“ und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.

IBRAHIM: Guten Tag.

REPORTERIN: Sie sind Ägypter.-

IBRAHIM unterbricht: Kölner.

REPORTERIN: Ach so, ja... Also Kölner Mitbürger mit ägyptischer Staatsangehörigkeit.

IBRAHIM verbessert: Ägyptischstämmiger Kölner mit einfacher deutscher

Staatsbürgerschaft.

REPORTERIN irritiert: Wie?... Ja... Also, Herr Mohamed, Sie nehmen zum ersten Mal an der Pfahlsitzweltmeisterschaft teil?

IBRAHIM: Jawohl.

REPORTERIN: Warum?

IBRAHIM: Aus finanziellen Gründen.

REPORTERIN: Sind Sie arbeitslos?

IBRAHIM: Nein.

REPORTERIN: Sie arbeiten also?

IBRAHIM: Ja.

REPORTERIN: Aber nicht im Moment.

IBRAHIM: Nein. Im Moment sitze ich auf einem Pfahl.

REPORTERIN: Sie sind also derzeit beurlaubt?

IBRAHIM: Genau.

REPORTERIN: Fein. Alter?

IBRAHIM: Wie bitte?

REPORTERIN: Wie alt sind Sie?

IBRAHIM: Sechsundzwanzig.

REPORTERIN: Beruf?

IBRAHIM: Arzt im Praktikum.

KLAUS-DIETER noch immer beim selben Thema: ... Verstehst du das? Und was der

Herr Doktor Kohl im Staat ist und der Lothar im Fußball, das wird dein Opa hier im Pfahlsitzen. Oder wie der Derrick im Fernsehen. Verstehst du das?

AMOS CHE: Ja, Opa, aber ich-

KLAUS-DIETER unterbricht, gereizt: Du sollst mich nicht immer unterbrechen.

Furchtbar ist das! Genau wie dein Vater, dieser - beherrscht sich Hör lieber zu und lern was. Ich wäre in deinem Alter froh gewesen, wenn ich einen so klugen Opa gehabt hätte, der mir etwas fürs Leben hätte beibringen können ...

REPORTERIN inzwischen bei Kordula Staub: ... Sie waren im letzten Jahr schon

einmal dabei, obwohl-

KORDULA unterbricht: Genau. Und da bin ich nachts vom Pfahl gefallen, als es so

windig war. Die Früjahrsstürme waren ja damals. Hat aber nicht wehgetan. Da hatten sie noch solche dicken Profiturnermatten. Die waren ihnen dieses Jahr zu teuer, hab ich gehört. Na klar, jetzt wo sie diese neue Achterbahn-

REPORTERIN unterbricht: Sie sind achtundzwanzig Jahre alt?

KORDULA: 23.7.1972. Löwin. Und meinen Neunundzwanzigsten möchte ich auf dem

Pfahl feiern. Mein Freund will sogar extra herkommen. Das ist ein ganz Lieber. Sie können auch gerne kommen, wenn’s Ihnen paßt.

REPORTERIN: Herzlichen Dank. Sie sind Finanzbuchhalterin?

KORDULA lacht: Um Himmels willen, schon ewig nicht mehr. Ich bin jetzt

selbständig. Vor zwei Jahren habe ich mit einer Freundin eine kleine Partnervermittlung gegründet. Ich wollte näher am Menschen sein. Auch wegen meiner sozialen Ader. Als kleines Mädchen wollte ich sogar immer ins Kloster gehen. Das kam mir vor wie eine große Familie. Na, ich lese ja auch sehr gern. ...

Während des Gesprächs zwischen Kordula und der Reporterin hat Darius Swiazek nach einigen reaktionslosen Versuchen den Betreuerchef Meinolf Räudemann zu seinem Pfahl herbeigewunken und ihn anscheinend gefragt, ob er schon zur Toilette dürfe. Meinolf nickt müde, und Darius verschwindet sehr eilig von der Bühne. Meinolf steht breitbeinig vor dem Pfahl und stoppt die Zeit. Die Fußballer stehen weiterhin mit ihren Bierdosen um Pfahl 10. Drei von ihnen drängt es, etwas Ausdrucksvolles zu tun; also versuchen sie, eine Vereinsfahne des 1. FC Fellingborstel, selbstangefertigt, irgendwo am Pfahl zu befestigen.

1. FUSSBALLER: Habt ihr gehört? Heiner hat eben von der Achterbahn gekotzt.

Sie lachen. Heiner kommt, grün im Gesicht, und setzt sich auf die Treppe von Pfahl 10. Man drückt ihm eine Dose in die Hand; er trinkt.

2. FUSSBALLER: He, steh mal auf. Wir wickeln da die Fahne drum.

Heiner steht auf, ungern.

KALLE BOCKFELD: Moment mal, Kameraden. Ich geh noch gerade pinkeln.

1. FUSSBALLER: Pinkel doch einfach runter.

Sie lachen. Kalle steigt ab und geht. Die Drei warten nicht auf ihn, sondern wickeln sofort die Fahne um Treppe und Pfahl. Ein Betreuer kommt.

BETREUER: Das geht nicht.

1. FUSSBALLER: Was is?

BETREUER zupft an der Fahne: Hier, das geht nicht.

1. FUSSBALLER: Und wieso?

BETREUER: Ihr verdeckt die Sponsoren.

2. FUSSBALLER: Wen?

3. FUSSBALLER: Na und?

1. FUSSBALLER: FC Fellingborstel ist wichtiger.

BETREUER: Macht das ab. Sonst gibt’s Ärger.

4. FUSSBALLER tritt vor: Mit wem? Mit dir?

BETREUER: Mit Puma, Weltbuch und Langnese. Und mit der Volksbank Lüneburger

Flachland.

Schweigen.

2. FUSSBALLER leise zum 4. Fußballer: Das geht nich. Ich hab da’n Kredit am Laufen.

BETREUER jovial: Also los, Jungs. Weg damit.

1. FUSSBALLER zieht eine Deutschlandfahne aus der Jacke: Und das hier?

BETREUER während alle ihn ansehen, überlegt: Moment. Er geht in die Betreuerhütte.

Während der Fahnendebatte ist die Reporterin zum vierten Pfahl gekommen, vor dem Meinolf mit der Stoppuhr steht. Er sieht sie deutlich abweisend an, und sie geht weiter zum fünften Pfahl, wo sie inzwischen begonnen hat, Wilko zu befragen.

WILKO: Aus Klüterbog, Brandenburg.

REPORTERIN: Sie sind Maurer?

WILKO: Ja. Aber ohne Arbeit.

REPORTERIN: Sie haben 1998 schon einmal teilgenommen. Was haben Sie sich für

dieses Jahr vorgenommen?

WILKO: Also erstmal hier sitzenbleiben. Vielleicht Weltmeister werden. Und mit dem

Geld dann meine Freundin heiraten. Das heißt ohne Geld auch.

REPORTERIN: Sie wären der Erste, der den Titel in die neuen Bundesländer holen könnte...

WILKO: Ja. Stimmt.

REPORTERIN: Bedeutet Ihnen das was?

WILKO: Klar, eigentlich schon. Vor drei Jahren hab ich viel Post bekommen, also aus

Brandenburg. Aus Thüringen auch. Die haben mich angefeuert. Sowas hilft. Diesmal gewinnen wir.

Während des Folgenden kehrt Darius auf die Bühne zurück, so eilig wie er abgegangen ist; er läuft zum Pfahl 4 und will hinauf. Meinolf verstellt ihm den Weg und schüttelt den Kopf, wobei er auf seine Stoppuhr zeigt. Darius sieht verzweifelt aus. Meinolf winkt drei Betreuer aus der Hütte zu sich heran; der erste sammelt Darius‘ Utensilien ein – ein Heiligenbild oder Kreuz und ein paar Bücher, die Bibel u.a. -, die beiden anderen führen den Polen ab wie einen Häftling. Meinolf sieht ihnen zufrieden zu und geht als letzter der Fünf langsam ab. Dieser Vorgang verläuft genau gleichzeitig zu der zweiten Unterhaltung zwischen den Fußballern und dem Betreuer über die Fahne.

BETREUER kehrt zurück: Nein, tut uns leid.

1. FUSSBALLER immer noch die Fahne haltend: Was?

BETREUER: Überklebung, Verbarrikadierung oder Beflaggung der Pfähle und jede

andere Beeinträchtigung der Erkennbarkeit der Sponsorenbanner ist strengstens untersagt.

Protestlaute.

1. FUSSBALLER: Wir sind doch hier in Deutschland, oder?

4. FUSSBALLER: Eben!

3. FUSSBALLER: Genau!

BETREUER amtlich: Sie befinden sich bei einer Veranstaltung des Flachland-Parks,

der finanziell unterstützt wird von-

4. FUSSBALLER unterbricht: Aber Kalle hier sitzt für Deutschland.

3. FUSSBALLER: Und den FC!

1. FUSSBALLER: Und nicht für euern Scheiß-Park!

BETREUER: Das ist ganz egal, von welchen persönlichen Gefühlen Herr Bockfeld-

1. FUSSBALLER brüllt: Deutschland ist doch kein Gefühl!

3. FUSSBALLER: Und der FC!

4. FUSSBALLER: Wir sind Deutsche!

3. FUSSBALLER: Und Fellingborsteler!

1. FUSSBALLER: Das hat nix mit Gefühl zu tun. Das ist Blutssache.

4. FUSSBALLER: Bist du denn kein Deutscher, oder was?

3. FUSSBALLER: Gefühl! Der ist wohl schwul.

BETREUER: Noch einmal: Langnese zahlt, Langnese wirbt, und jeder hier sitzt für

Langnese. Punkt. Und Puma. Und Weltbuch.

2. FUSSBALLER hinter den andern: Und die Volksbank?

BETREUER: Und die Volksbank. Richtig. Und das läuft in Deutschland genauso wie in

Frankreich, China oder Amerika. Werbung gibt’s überall, wo es Firmen gibt. Und die gibt’s überall. Auch bei uns im Flachland. Punkt. Er geht.

3. FUSSBALLER laut: Sauerei!

2. FUSSBALLER ängstlich: Pssst!

1. FUSSBALLER: Alles Hochverräter.

4. FUSSBALLER: Sind wir etwa nicht in Deutschland? - unserm Vaterland?

3. FUSSBALLER: Wahrscheinlich sind wir in Langneseland.

Heiner, der die ganze Zeit stumm und schwankend dabeistand, übergibt sich.

KLAUS-DIETER noch immer in seinem Sermon: ... Der war mit seinem

Schäferhundzuchtverein fast jede Woche in der Zeitung, ohne je was Richtiges geleistet zu haben. Und dein Opa hat vierzig Jahre lang gearbeitet, immer solide und verläßlich und fast gern, trotz Bandscheiben, Krieg und jeden Winter Schnupfen ...

Die Reporterin ist inzwischen bei Pfahl 7 angelangt – Poldino ist nicht interviewt worden – und führt ein Gespräch mit Florian Gernhardt.

FLORIAN: Meine Motivation ist klar. Mein Ziel heißt: Sieger, Weltmeister und Weltrekord.

REPORTERIN: Der gültige Weltrekord liegt bei immerhin 164 Tagen. Eine große

körperliche Herausforderung...

FLORIAN: Sagen Sie das den anderen hier. Die werden das früher merken als ich.

REPORTERIN: Sie klingen sehr siegessicher. Haben Sie sich konditionell lange auf

diese Weltmeisterschaft vorbereitet?

FLORIAN: Klar doch. Mental vor allem.

REPORTERIN: Treiben Sie auch andere Sportarten, außer Sitzen?

FLORIAN: Ich hab als Kind jahrelang intensiv in der F-Jugend Fußball gespielt. Das

war auch nicht immer ein Kinderspiel. Einmal hab ich zwei Tore gemacht – in einer Halbzeit. Also im Schnitt vier pro Spiel.

Ibrahim Mohamed steigt während des Folgenden vom Pfahl, nachdem er von Kordulas Kommunikationsfanatismus eine Pause nötig und schon mehrmals vergeblich und möglichst unauffällig Zeichen zur Betreuerhütte gegeben hat. Schließlich erscheint Meinolf mit Stoppuhr, und er geht ab. Kaum ist Ibrahim verschwunden, winkt Meinolf seine drei Büttel heran und dirigiert sie: während der erste das Objektiv der Videokamera zuhält, wirft der zweite Ibrahims Utensilien in eine ALDI-Tüte, der dritte hält die Uhr am Pfahl an. Kordula beobachtet sie verblüfft, aber schweigend. Bevor Meinolf und der Kamera-Betreuer grinsend in die Hütte zurück gehen, schickt Meinolf die beiden anderen los, um Ibrahim abzufangen, der dann auch nicht wieder auf der Bühne erscheint. Wiederum genau gleichzeitig zu diesen Vorgängen verteilt Poldino kleine Deutschlandfähnchen an die Fußballer. Anschließend kehrt er mit einem davon und einem zweiten Fähnchen mit Flachland-Park-Logo auf den Pfahl zurück. In dem Moment, wo Meinolf mit seinen Helfern nach getaner Arbeit die Bühne verläßt, wedelt er lustig mit den Fähnchen, und die Fußballer tun es ihm nach.

KLAUS-DIETER noch immer beim Thema: ... und diese Gelegenheit ist jetzt für deinen Opa

gekommen, verstehst du? Der kleine Mann – auch wenn ich nicht wirklich zu denen gehöre, ich war ja immerhin Beamter – kann hier ganz groß rauskommen, mit Fernsehen und allem Drum und Dran. Hier muß er nicht buckeln und ducken, hier wird er nicht von den Großkopferten rumgegängelt. Hier sitzt er mal höher. Und jeder kann Weltmeister werden. Jeder hat die gleichen Bedingungen. Wie früher. Und dein Opa kann jetzt mal so richtig zeigen, wie er da mithält – trotz Bandscheiben und verlorenem Krieg und-

AMOS CHE unterbricht, verzweifelt: Opa, Opa, ich muß mal ganz, ganz dringend! Schnell!

KLAUS-DIETER aufbrausend: Na, dann geh endlich, du kleiner Hosenpisser! Los, mach,

daß du fortkommst! Brauchst gar nicht mehr zurückzukommen zu mir. Hörst ja doch nicht zu. Also verschwinde! Wenn deine Mutter kommt, sag ich ihr, du wartest am Ausgang. Los, lauf! Ich will dich nicht mehr hier sehen! Weg mit dir! Amos Che läuft erschrocken und weinend ab. Nach einer Pause, gedämpft und gehässig: Der kleine Bastard! Pause, verächtlich Das ist die Demokratie!

REPORTERIN inzwischen bei Pfahl acht mit Rafael Nymphenbach im Gespräch:

Wollen Sie denn auf dem Pfahl auch malen?

RAFAEL NYMPHENBACH: Ja und nein. Meine Teilnahme hier ist Teil eines Art-Projekts,

das ich initiiert und mit meinem Berliner Galeristen, Doktor Claussen-Schukowski, und mit Unterstützung der Nordrhein-Westfälischen Kunstförderung realisiert habe beziehungsweise realisieren werde. Es geht dabei um die Dialektik der Freiheit, des Einzelnen und des Ganzen im finalkapitalistischen Raum. Das Projekt ist trilogisch strukturiert. Sie stehen gegenwärtig vor part one: „wooden destiny“, als gerade stattfindender Bio-Installation, zu der ich den Pfahlsitzwettbewerb erklärt habe. Mit mir nimmt die Metaebene also selbst teil, der Künstler als sein eigenes Kunstwerk, als part of his mental body, das ist intentionskonstituierend: wer das Ganze beschreibt oder kritisiert, bleibt trotzdem ein Teil des Ganzen. Mit ihm beschreibt sich also immer auch das Ganze selbst, wenn Sie so wollen.

REPORTERIN nach kurzer Pause: Verstehe. Sie sitzen also durchaus in Ihrer Eigenschaft

als Künstler auf dem Pfahl?

RAFAEL: Nein, nein, das ist ja schon reichlich überinterpretiert. Gar keine Eigenschaft:

ich sitze hier ichlos. Als Variable des Einzelnen im Ganzen. Sie müssen das Arrangement sehen. Der bewußte Entscheidungsakt des Pfahlbesteigens ist eine Metapher der autokratischen und autokreativen Identitätssetzung unter dem scheinbar freien, jedenfalls leeren Himmel postmoderner Indeterminismusgläubigkeit. Andererseits drückt ja der Titel „wooden destiny“, zusammen mit dem Ausgeliefertseinscharakter des Auf-Einem-Pfahl-Sitzens kontrapunktisch dazu konzipiert, schon die eigentliche Heteronomie dieser symbolisierten Daseinssituation aus.

REPORTERIN: Das sehen unsere Leserinnen und Leser sicher genauso. Aber lassen Sie mich

noch einmal zu unserer Ausgangsfrage zurückkommen: wollen Sie denn auf dem Pfahl auch malen?

FLORIAN der bisher mißmutig seinem Nebenmann zugehört hat, wendet sich an den Clown:

Sag mal, sitzt du auch so schlecht? Ich mein immer, hier stimmt was mit dem Holz nicht...

Poldino erhebt sich und zieht ein großes, buntes Kissen unter sich hervor.

FLORIAN: Ach so, na dann sitzt du ja bequem. Ich wußte gar nicht, daß das erlaubt ist.

Poldino bedeutet ihm, daß es keineswegs erlaubt ist und nur er ein Kissen benutzen darf.

FLORIAN: Na prima. Für dich gibt’s also Sonderregeln. Und was ist, wenn du gewinnst?

Kriegst du dann auch das Geld?

Poldino zieht die Schublade unterhalb seiner Sitzfläche auf, die mit Spielgeld, bunten und zu großen 100-D-Mark-Scheinen u.a. gefüllt ist, greift hinein und bewirft Florian damit.

RAFAEL der inzwischen weitergesprochen hat: ... Es gibt Freiheit – aber unter welchen

Bedingungen? Kurz: zu welcher Synthese führt uns der Gegensatz zwischen der relativen Autonomie innerhalb des dezentralistischen Wertepluralismus im Sinne des „Anything goes!“ und der relativierender Heteronomie innerhalb des zentralistischen Interessenmonopolismus im Sinne des „It’s the economy, stupid“? Kürzer: das Selbstbestimmte ist fremdbestimmt.

REPORTERIN hat nicht zugehört: Ganz bestimmt. Aber lassen Sie mich vielleicht für unsere

Leserinnen und Leser noch einmal zu der einfachen Frage zurückkehren: wenn Sie denn auf dem Pfahl schon nicht malen wollen – wollen Sie Ihre Zeit vielleicht anderweitig künsterisch nutzen?

RAFAEL: Ja. Ich werde hier bereits am zweiten Teil meiner Trilogie arbeiten, der aus

Zeichnungen, Fotos und Gedichten bestehen wird. Ziel ist eine multidisziplinäre Introspektion einer solchen Pfahlsitzerexistenz im metaphorischen Sinne. Die gesamten Texte werden mit den Fotos und Zeichungen als Ausstellung exponiert, unter dem Titel part two: „how high is your Lowness?“ Zentral ist hier die Frage nach den Orientierungsweisen des kleinen Einzelnen im großen Ganzen, das heißt: wie sieht das Subjekt diese Relation? Wie schon der Werktitel impliziert, läßt sich dieses Problem auf das Spannungsfeld von Ego und Status reduzieren. Zweifellos existiert ja auch eine Wechselbeziehung zwischen der monströsen Superiorität des Ganzen und der Bedeutung von Status und Prestige als Rettungsboot eines im Meer der Globalisierungsmegalomanie verschwindenden Egos.

Während Rafaels Darlegung hat Wilko aus seinem Schubfach eine Hantel genommen und zu trainieren begonnen. Kordula ist inzwischen im Gespräch mit Klaus-Dieter.

KORDULA: ... Das Meer, die Sonne, die Natur und die Menschen vor allem. Das ist mein

Lebenselixier sozusagen. Ich bin ein Menschenfresser, sagt meine Freundin immer. Im Spaß natürlich. Aber Kontakt zu Menschen ist ja für jeden wichtig, denke ich. Da entwickelt man sich auch weiter. Man lernt ja von anderen. Aber man kann auch von der Natur lernen, glaube ich. Kontakt zur Natur ist mindestens genauso wichtig. Für die innere Harmonie. Das befreit einen innerlich, sozusagen. Man darf nicht wie ein Hamster mit Scheuklappen in seinem Alltagsrädchen laufen. Ich finde, man muß kreativ sein.

KLAUS DIETER: Das stimmt. Aber ein bißchen Zucht und Disziplin kann auch nicht

schaden.

RAFAEL noch immer im Referat: ... Deshalb heißt der dritte Teil des Projekts part three:

„the planet on which you run forward revolves around zero.“ – Wie finden Sie das? Ist leider nicht von mir, sondern von einem befreundeten Dramatiker.

REPORTERIN längst ohne jede Aufmerksamkeit: Ja, es gibt leider immer mehr Fanatiker.

Danke für das Gespräch. will gehen

RAFAEL: Moment bitte. Ich gebe Ihnen noch eine Projektbeschreibung mit –

glücklicherweise habe ich gerade eine griffbereit. Er zieht seine Pfahlschublade auf und gibt ihr ein kapitales Blätterkonvolut Das ist der Wortlaut des Förderungsantrags für die Nordrhein-Westfälische Kunstförderung. Übrigens ist part three interaktiv. Jeder ist Teil des Werks. Sie können also gern mitmachen. Es gibt eine Drive-In-Vernissage mit vegetarischem Essen. In den Ausstellungsräumen wird die größte solarbetriebene Modellachterbahn Europas vorgeführt, von mir handsigniert alle zwei Schienenmeter. Um Mitternacht wird dann das gesamte Projekt versteigert, einschließlich Pfahl, Zeichnungen, Fotos und Modellachterbahn. Und vom Gewinn kaufe ich mir einen Maserati.

REPORTERIN: Gute Fahrt. Auf Wiedersehen.

RAFAEL ruft ihr nach: Sagen Sie, Ihr Diktiergerät hatten Sie doch eingeschaltet, oder?

KLAUS-DIETER weiterhin im Gespräch mit Kordula: ... Ich kann mich noch gut an den

Tag erinnern, als mein Vater aus dem Krieg heimkam. Aus Rußland - zu Fuß, meine Liebe! Stalingrad, äußerer Ring, und dann Gefangenschaft. Ohne Daumen, den hatten ihm die Russen mit dem Gewehrkolben abgehauen – ich sage Ihnen, das waren keine Menschen, die Kommunisten! Da war ich neun Jahre alt. Und ich kann mich noch genau erinnern, wie er am Küchentisch saß: vor sich eine Tasse Kartoffelkaffee – den hat meine Mutter aus den Schalen aufgebrüht -, mit nacktem Oberkörper, ausgehungert und überall Striemen, Wunden und Brandmale. Seine Tätowierung hatten sie ihm weggebrannt. Da hat er sich noch geweigert – ich sag Ihnen, das war schon ein doller Haudrauf, mein Vater! -, deshalb haben sie ihm den Daumen abgeschlagen. Und ich kann mich noch genau erinnern, wie er mich auf dem Schoß hält und vor sich hinstarrt, während von gegenüber jeden Abend diese Negermusik kommt, und wie er mit Tränen in den Augen sagt: Jetzt ist alles aus...

KORDULA betroffen: Schrecklich...

REPORTERIN inzwischen im Gespräch mit Roland Maierle: Sie kommen aus Baden-

Württemberg?

ROLAND im adäquaten Idiom: Ja, sicher.

REPORTERIN: Achtunddrißig Jahre alt, von Beruf Elektromonteur-

ROLAND unterbricht: Nein, das ist falsch.

REPORTERIN: O Entschuldigung. Da stimmen wohl meine Informationen nicht ganz.

ROLAND: Ja, das ist klar.

REPORTERIN: Wie meinen Sie?

ROLAND: Ganz klar. Das war schon im letzten Jahr genauso. Da hat’s auch nie

gestimmt bei euch.

REPORTERIN: Entschuldigung nochmals. Sie sind also von Beruf was?

ROLAND: Wachmann.

REPORTERIN notiert: Also Wachmann.

ROLAND: Ja, bei der Bundeswehr gelernt.

REPORTERIN: Aha. Wohnen in Schneebronn und sind unverheiratet.

ROLAND schweigt.

REPORTERIN in deutlichem Fragetonfall: Wohnen in Schneebronn und sind unverheiratet?

ROLAND rasch und mißmutig, als wolle er das nicht nochmal hören: Ja.-

REPORTERIN nach kurzer Pause: Sie waren bereits vergangenes Jahr einer der Teilnehmer-

ROLAND unterbricht: Ja, aber da wollten sie hier keinen Schwaben als Weltmeister haben.

REPORTERIN wie oben: Wer, meinen Sie, wollte keinen Schwaben-

ROLAND wie oben: Ihr.

REPORTERIN: Wer wir?

ROLAND: Die Norddeutschen.

REPORTERIN wie oben: Sie sind damals ausgeschieden, weil-

ROLAND wie oben: Weil ich kein Norddeutscher war.

REPORTERIN: Aber der Weltmeister kam aus München.

ROLAND: München ist was anderes.

REPORTERIN: Inwiefern?

ROLAND: Der hatte Beziehungen.

REPORTERIN gibt es auf: Herr Maierle, welche Zielvorstellungen verbinden Sie denn mit

Ihrer diesjährigen Teilnahme?

ROLAND: Daß der Titel nach Schwaben kommt. Ich kämpfe für Baden-Württemberg. Und

diesmal gewinnen wir.

REPORTERIN: Vielen Dank.

Während dieses Gesprächs ist Kalle Bockfeld schwankend auf die Bühne zurückgekehrt und hat sehr mühsam wieder seinen Pfahl erklettert. Niemand scheint seine überlange Pause bemerkt zu haben. Poldino steigt sogar eigens von seinem Pfahl herunter, um Kalle auf seinen hinaufzuhelfen und ihm, als er sitzt, noch zwei Deutschlandfähnchen in die Hände zu drücken. Im folgenden ‚Gespräch‘ mit Kalle wird die Reporterin ausdauernd von Heiner, demjenigen Vereinsmitglied, das zuvor erbrochen hat, begrapscht. Der Fotograf versucht, ihn von seiner Kollegin fernzuhalten. Ein paar andere grinsen dazu. Kalle sieht übel aus, trinkt jedoch unermüdlich Bier und wedelt glücklich mit seinen Fähnchen.

REPORTERIN: Hallo, ich bin Inken Jägermann von der „Landeszeitung Lüneburger

Flachland“ –

DIE FUSSBALLER reagieren vegetativ auf den Namen ihrer Heimatregion und gröhlen:

Ole ole ole ole, wir sind vom Flachland, ole!

REPORTERIN kämpft sich mit ihrer Stimme durch den entstandenen Tumult: Herr

Bockfeld, Sie sind Metzger und wohnen in Fellingborstel-

DIE FUSSBALLER Reaktion wie oben, skandieren: F-C-Fel-ling-bors-tel-macht-euch-platt!

REPORTERIN wie oben: Sie sind der jüngste Anwärter auf den Titel. Welche Hoffnungen

machen Sie sich? Kalle antwortet nicht. Herr Fellingborstel-

DIE FUSSBALLER stimmen bei diesem Versprecher aufs neue ein: F-C-Fel-ling-bors-tel-

macht-euch-platt! Hipp hipp – hau rein!

REPORTERIN: Herr Bockfeld! Hören Sie mich?

1. FUSSBALLER: Kalle, hau rein!

3. FUSSBALLER: Gib’s ihr, Kalle!

REPORTERIN nervös: Sie müssen kein Statement abgeben, wenn Sie nicht wollen...

KALLE lallend: Und ob...will ich...

Stille tritt ein.

4. FUSSBALLER: Los, Kalle!

KALLE wie oben: Ich...äh...Wir...Fellingborseler...gewinnen.

Jubel und erneutes Skandieren. Reporterin und Fotograf schnell ab. Heiner will hinterher, wird aber von einem Vereinskameraden zurückgehalten. Ihnen entgegen kommt eine knapp dreißigjährige Frau im Alternativlook, mit deutlich demonstrierten linksradikalen Neigungen (z.B. aufgenähter roter Stern o.ä.). Es ist Tine Wampenhäger-Rosenzweig, die Mutter von Amos Che. Sie beäugt ohne jeden Solidaritätsanflug die Pfahlsitzer, bis sie Klaus-Dieter entdeckt hat und zu ihm hintritt.

KLAUS-DIETER verlegen: Ach, guten Tag, Tine.

TINE WAMPENHÄGER-ROSENZWEIG: Wo ist Amos Che?

KLAUS-DIETER: Ach, er mußte mal... Er... muß gleich kommen.

TINE: Okay. Ich warte.

KLAUS-DIETER: Ja, gern... Tu das... Pause Na? Wie geht’s dir so?

TINE ihn musternd: Wenn ich dich hier so hocken sehe, bin ich noch regelrecht dankbar.

Pause.

KLAUS-DIETER: Hast du dir den Park angesehen?

TINE: Nein.

KLAUS-DIETER: Aber du mußtest doch durchgehen.

TINE: Eben.

KLAUS-DIETER: Toll, was? Was die heute so alles hinkriegen.

TINE: Ja. Riesenhamsterrad. Und die Hamster bezahlen auch noch.

KLAUS-DIETER: Sei doch nicht immer so pessimistisch. Ist doch schön, wenn es den

Leuten Freude macht. Was kann schon daran schlecht sein?

TINE: Es gibt auch Leute, denen hat das Vergasen Freude gemacht.

KLAUS-DIETER mit künstlicher Empörung: Na komm. Jetzt hör aber auf! Du weißt, daß

ich damit keinen Spaß verstehe.

TINE spöttisch: Das weiß ich...

KLAUS-DIETER: Überhaupt so einen Vergleich anzustellen! Wo bleibt denn da die

Moral? Wo heute doch überall Freiheit herrscht!

TINE: Vor allem „herrscht“.

KLAUS-DIETER aus Unachtsamkeit in mißbilligendem Ton: Freiheit, Freiheit über alles!

Das ist doch euer Motto heute. Keiner will noch irgendwelche Pflichten übernehmen. beherrscht sich, wieder demokratisch Und das ist ja auch gar nicht schlecht, diese Freiheit. Im Gegenteil.

TINE nur aus Reflex diskutierend, ohne Überzeugungsehrgeiz: Die Freiheit zu wählen

zwischen Achterbahn, Bob-Bahn und Looping-Bahn. Und die Freiheit zu zahlen. Pause. Che bleibt aber lange weg. Pause. Wo sind denn hier die Toiletten.

KLAUS-DIETER: Das ist schon ein kleines Stück... Vielleicht... Weißt du, ihm war hier

ein bißchen langweilig...Vielleicht ist er schon vorgegangen... zum Eingang womöglich...

TINE mißtrauisch: Haste ihn wieder zugequatscht? Pause. Am Eingang ist er nicht, da

hätte ich ihn ja gesehen. Den kann er auch gar nicht allein finden von hier.

KLAUS-DIETER: Tja...

TINE: Hast du ihm denn nicht gesagt, daß er sofort hierher zurückkommen soll?

KLAUS-DIETER: Sicher, sicher!-

Pause.

TINE: Hoffentlich hat er sich nicht verlaufen... Ich geh ihn mal suchen. Im Abgehen: Und

dir viel Spaß auf deiner Hühnerleiter. Ab.

KLAUS-DIETER leis und gehässig: Judendirne!

Lange Pause. Es beginnt zu dämmern. Die Pfahlsitzer verhalten sich ruhig: Wilko hört auf zu hanteln, Kordula unterhält sich nicht, die Fußballer gehen ab – mit Ausnahme von Heiner, der am Fuß des Pfahls eingeschlafen und nicht aufzuwecken ist. Rafael schreibt oder zeichnet auf einen Notizblock, bis es zu dunkel wird. Poldino steigt vom Pfahl, zieht sein Clownskostüm aus - Perücke, Überschuhe, Obelixhose usw. – und entpuppt sich als Skinhead in voller Identitätsmontur, mit Glatze, Springerstiefeln und Reichsadler-Shirt o.ä. Er nimmt einen Baseballschläger hinterm Pfahl hervor und geht ab.

FLORIAN zu Rafael: Sag mal, ist mit deinem Holz alles in Ordnung?

RAFAEL sieht vom Schreiben auf: Was bitte?

FLORIAN: Dein Holz. Dein Pfahl. Ist der nicht zu hart?

RAFAEL: Ich bin Künstler und habe bis vor zwei Jahren regelmäßig mit Holz und sogar

noch härteren Werkstoffen gearbeitet.

FLORIAN: Aber wohl nicht darauf gesessen, oder?

RAFAEL: Sogar darauf geschlafen. Und zwar auf Alabaster, eine ganze Ausstellung lang.

FLORIAN: Aha.

RAFAEL: Ja. Das Werk hieß „emotion of an avaricious heart“. Und ich war nackt. Nackt auf

Alabaster.

Pause.

FLORIAN: Also mit meinem Pfahl stimmt was nicht.

Wieder lange Pause. Das Geschrei und Geratter der Achterbahn verstummt, dann auch die Leierkastenmusik. Der Leierkastenmann überquert kurz darauf die Bühne, sehr langsam: es ist ein Greis mit Stock in Flachland-Park-Uniform. Die anschließende Stille wird gebrochen von den näherkommenden Putzfrauen; man hört sie schon hinter der Szene sprechen. Sie sind zu dritt und tragen Putzkittel und –gerät.

1.PUTZFRAU: Ich komm also den Weg von der Haltestelle her und denk schon von weitem:

wer hat denn da wieder unsern Bürgersteig verparkt. Seit der Sohn von den Nachbarn jetzt auch noch so einen Geländekasten hat, ist bei uns oben in der Straße gar nix mehr mit Parken. Und da steht dann noch auf einmal so ein silberner Leichenwagen vor der Tür.

2.PUTZFRAU: Ein Leichenwagen?

1.PUTZFRAU: Na so lang und eckig. Mercedes war’s. Natürlich. Ich komm also und denk:

er ist sowieso noch nicht da, also was sich aufregen. Bis der heimkommt, ist das Ding weg, da ist ja immer Mitternacht rum, aber das ist wieder ein andres Elend. Also ich mach die Tür auf – sitzt er da. Ich sag: wo hasten geparkt. Er: draußen. Ich sag: aufm Dach oder wo? Er: nee, vor der Tür. Der silberne. Heute gekauft. Gekauft, sagt er! Ich frag: und wovon? Ratenzahlung, sagt er...

Sie gehen vorüber. Stille. Während des Folgenden steigt Kalle sehr unsicher vom Pfahl und schwankt nach rechts ab.

FLORIAN: Hallo? Stille. Hallo?

KORDULA: Was gibt’s?

FLORIAN: Ich... Also, ich weiß nicht, wie das bei euch ist, aber... Sitzt ihr alle gut?

KORDULA: Ich sitz gut.

WILKO: Ganz normal.

RAFAEL: Wie im Atelier.

Pause.

FLORIAN: Ich auch.

Pause. Florian fängt an zu pfeifen. Hört auf. Stille.

FLORIAN: Also, ich hab nicht gedacht, daß es so gut laufen würde. Pause. Und ihr?

KORDULA: Doch, ich schon.

WILKO: Ich eigentlich auch.

RAFAEL: Ohne Zweifel.

Pause.

FLORIAN: Also, klar, ich meine, schon gut, aber daß es so gut laufen würde... ändert

die Taktik: Findet ihr nicht auch, daß trotzdem die Organisation hier ziemlich mittelmäßig ist? Stille. Also, ich meine die Betreuung zum Beispiel... oder?

KORDULA: Ab morgen früh gibt’s Essen auf die Pfähle.

WILKO: Dreimal täglich.

ROLAND: Gratis!

KORDULA: Außerdem Telefon.

Florians Pfahltelefon klingelt. Er hebt ab.

FLORIAN: Ja?... ach, hallo Mama... gut, also... nein, nicht zu kalt... nein, zu warm

auch nicht... och... eigentlich bequem... ja... ich meine, nur die Betreuung ist halt sehr schlecht... ja, die Organisation... mhm... klappt hinten und vorne nicht hier... doch, doch! Ich meine die Verwaltung und die, mit mir ist alles klar, bin in Topform... nein, überhaupt nicht müde... nein, nein... aber eben die Versorgung, weißt du... tja, dadurch wird’s wohl doppelt schwer werden... ja... eben... na ja... zur Not... ja... Dann kann man halt auch nichts machen... immer noch besser als Verhungern... klar... hast ja recht... ja, stimmt schon... gut... mach ich... schön...also dann... ja, danke...tschüß.

Er hängt ein. Stille. Von links torkelt Kalle wieder auf die Bühne; er ist offenbar nicht mehr orientierungsfähig und geht zum leerstehenden Pfahl 2, den er kompliziert und fluchend erklimmt. Es ist mittlerweile so dunkel geworden, daß man ihn nur noch als Umriß erkennt. Sowie er auf dem Pfahl sitzt: vollständige Dunkelheit und im nächsten Moment ein dumpfer Aufprall auf die Strohmatten. Stille und Pause. Das Licht geht wieder an. Zweiter Tag. Kalle liegt verrenkt auf der Matte. Zwei Betreuer kommen auf die Bühne und tragen ihn weg. Pfahl 7 ist nun ebenfalls unbesetzt; Florian Gernhardt ist in der Nacht davongeschlichen. Die übrigen fünf Pfahlsitzer frühstücken gerade. Klaus-Dieter und Rafael sehen übernächtigt und entmutigt aus; beide essen lustlos und langsam. Die anderen drei scheinen wohlauf; Roland schlingt sein Essen gierig hinunter. Der Leierkastenmann überquert wieder, diesmal in der anderen Richtung, die Bühne. Kurz darauf Leierkastenmusik und etwas später die Achterbahngeräusche. Heiner, der die Nacht vor Pfahl 10 verbracht hat, in die große Deutschandfahne gehüllt, erwacht und geht zerschlagen ab.

KORDULA essend und munter, an alle: Na ihr, gut geschlafen?

WILKO: Geht so.

KLAUS-DIETER: Miserabel. Und keine Minute. Mein Rücken hat mich gequält. Mein

Rheuma, wissen Sie, die Bandscheiben. Miserabel. macht ein Leidensgesicht.

KORDULA mitleidend: O das tut mir leid. Sie haben Rheuma?

KLAUS-DIETER: Seit Jahrzehnten schon. Wissen Sie, die Arbeit im Amt, das viele Sitzen,

dann Aufstehen, Aktenheben, Wiederhinsetzen. Tag für Tag. Und dann noch die Gartenarbeit. Ich bin immer schon ein Arbeitstier gewesen. Tja, und dann bekommt man natürlich irgendwann die Rechnung...

KORDULA: Schrecklich, ja...

KLAUS-DIETER: Und wissen Sie, meine Gesundheit ist mir sehr wichtig. Das habe ich im

Laufe der Jahre gelernt. Man darf sich nicht so kaputtmachen. Leistung – ja, sicher. Aber die Gesundheit geht vor. ...

Roland hat sein Frühstück als Erster beendet und beginnt sofort danach, Akten zu ordnen, die er aus seinem Schubfach nimmt; was er übrigens durch das ganze Drama hindurch immer wieder und mit großer Leidenschaft tut; man sollte den Eindruck haben, daß Ordnen die einzige Tätigkeit ist, die er mit Leidenschaft verfolgt. Wilko nimmt nach seinem Frühstück einen Expander hervor und trainiert wieder. Rafael hat mit Essen aufgehört.

ROLAND spricht mit sich selbst: Ordnung muß sein.

RAFAEL sieht ihn an, fühlt sich zu einer Reaktion verpflichtet: Sie ordnen wohl Akten, wie?

ROLAND ohne innezuhalten oder ihn anzusehen: Ja, sicher.

Rafael seufzt. Pause.

ROLAND wieder zu sich selbst: Die Zeit nutzen.

RAFAEL wie oben: Die Zeit läßt sich nicht nutzen.

Roland sieht ihn an.

RAFAEL: Die Zeit zersetzt den Nutzen.

Roland hört auf zu ordnen.

RAFAEL: Nutzen ist eine Buchhalterillusion. Ein pantoffelweicher Traum, geboren aus den

Neurosen der Bürgerlichkeit. Der Planet, auf dem wir Akten ordnen, kreist im Chaos.

Pause. Roland wendet sich ab und macht weiter.

ROLAND zu sich selbst, aber lauter: Ordnung muß sein!

Rafael gibt ihn auf, nimmt seinen Notizblock hervor und schreibt wieder.

KLAUS-DIETER der währenddessen zu Kordula weitergesprochen hat: ... Und ich finde,

das ist immerhin auch eine Leistung, meinen Sie nicht? Gerade weil die Zeiten ja nicht gerade einfach waren. Erst der verlorene Krieg, dann eine Gallenblasenentzündung, und in den Siebzigern hat sich meine Frau beim Frühjahrsputz das Schulterblatt gebrochen.

KORDULA automatisch: Wie schrecklich...

KLAUS-DIETER: Ja, sehen Sie. So kämpft man sich durch. Von einer Katastrophe zur

nächsten. Und dann noch der Unfall mit der Katze meiner Tochter. Die übrigens geistig ziemlich darunter gelitten hat. Sowohl die Katze wie auch meine Tochter. Na ja. Aber wissen Sie, ich finde doch, so ein leidvolles und arbeitsreiches Leben zu meistern und es dabei immerhin fast zum Finanzobersekretär gebracht zu haben, das ist doch schon allerhand, und ich sage Ihnen ohne Scheu: darauf bin ich sogar ein bißchen stolz. Kordula schweigt. Finden Sie nicht auch, daß ich darauf ein kleines bißchen stolz sein kann?

KORDULA hat nicht recht zugehört: Ja. Doch. Finde ich auch.

KLAUS-DIETER befriedigt: Na, sehen Sie. Das denke ich auch.

Pause. Kordula nimmt ein Buch aus ihrer Schublade und beginnt zu lesen. Klaus-Dieter macht plötzlich ein schmerzverzerrtes Gesicht. Als er sieht, daß Kordula es nicht bemerkt, stöhnt er dazu, erst leise, dann lauter. Schließlich ein Schmerzensschrei.

KORDULA besorgt: Um Gottes willen, stimmt was nicht? Sind Sie nicht in Ordnung?

KLAUS-DIETER leidend: Doch, doch. Geht schon. Verzeihung. Pause. Sie liest

weiter. Die Bandscheiben, wissen Sie. Bandscheibenrückfall. Vom langen Sitzen.

Pause. Kordula liest wieder. Klaus-Dieter macht wieder ein Schmerzensgesicht, stöhnt etc., wie oben. Als sie erneut aufsieht: Also, machen Sie’s gut. Ich wünsche Ihnen viel Glück, mein Kind. Und halten Sie durch, das ist das Wichtigste. Immer weitermachen. Ich habe mich auch mein Leben lang niemals von meinem Weg abbringen lassen. Nur wenn ich wußte, daß er falsch war. Aber das ist bisher noch nicht vorgekommen. Ich war immer schon der Meinung, die Gesundheit geht vor, wissen Sie. Also, mein Kind, überanstrengen Sie sich nicht. Wenn’s nicht mehr geht, sollten Sie’s nicht erzwingen wollen. Steigen Sie einfach ab. Sie vergeben sich nichts. Verlierer sind immer diejenigen, die unbedingt gewinnen wollen. Er beginnt, mit Schmerzensmiene herabzusteigen. Das sind innerlich ganz arme Würstchen. Glauben Sie mir. Ich weiß es. Er ist unten angelangt. Ein Betreuer kommt. Also auf Wiedersehen, junge Frau.

KORDULA die längst wieder ins Buch sieht: Ja, auf Wiedersehen. Sie haben recht.

Auf Wiedersehen.

BETREUER zu Klaus-Dieter: Wollen Sie zum WC?

KLAUS-DIETER: Nein, nein, junger Mann. Ich steige endgültig ab. Das reicht vorerst. Ich

bin zu alt für diese Albereien.

Der Betreuer stützt Klaus-Dieter, der sich bemüht, wie ein schwerrheumatischer Greis daherzutapsen. So gehen sie langsam ab.

KLAUS-DIETER zum Betreuer, der letzte Satz hinter der Szene: Wissen Sie, ich blicke auf

ein erfülltes Leben zurück. Ich bin mit meiner Leistung immerhin zufrieden. Ja, ich bin sogar ein wenig stolz. Finden Sie nicht auch, daß ich ein klein wenig stolz sein darf?

Rafael hat inzwischen die „Kunstzeitung“ hervorgenommen und liest darin. Wilko hat aufgehört zu trainieren und langweilt sich.

WILKO: Krieg ich die nachher mal?

Rafael liest weiter.

WILKO: Hallo?... Tschuldigung... Du mit der Zeitung... Krieg ich die nachher, wenn du fertig

bist?

RAFAEL: Ist Ihnen das Holz zu hart?

WILKO: Nein, wieso? Ich will sie ja lesen und nicht drauf sitzen.

RAFAEL hält ihm das Titelblatt hin: Das ist die „Kunstzeitung“. „BILD“ habe ich leider

nicht da.

WILKO: Ach, so... Schade.

Pause.

RAFAEL: Ich bin Künstler, wissen Sie.

WILKO: Aha. Maler.

RAFAEL: Ja und Nein. Vor allem Bioinstallationen. Beziehungsweise Humaninstallationen.

WILKO: Aha.

Pause.

RAFAEL legt die Zeitung weg: Übrigens, Sie gehören dazu. So, wie Sie dahocken, sind Sie

Teil eines Werkes. Verstehen Sie?

WILKO nach Pause: Nein.

RAFAEL zu Roland: Und Sie auch, Herr Aktenordner. Sie sind gewissermaßen selbst eine

Akte. Ein Baustein im Installationsgefüge. Kordula hört zu lesen auf; alle drei sehen ihn an; zu Kordula Und Sie natürlich genauso. Funktionale Humanpartikel. Alle drei. Objekte des wooden destiny. Euer Sitzen ist kein Sitzen: sondern Gesetztwordensein.

Pause. Er wartet auf Reaktion.

WILKO zu Roland: Bestimmt Zeuge Jehovas.

ROLAND: Oder drogensüchtig.

KORDULA: Jedenfalls was Politisches.

RAFAEL: Ich bin Künstler. Das Politische interessiert mich nur als Material. Als Werkstoff.

Das war bei Brecht nicht anders. Und Beuys. Und Faßbinder. Als Werkstoff für Bio-Installationen. Als soziale Plastik.

Pause.

KORDULA: Ich interessiere mich auch für Kunst. Ich war schon mal in Paris.

RAFEL: Wissen Sie, wofür ich mich gar nicht interessiere? Für Menschen. - Für

Darstellungen von Menschen - das schon! Oder für Ideen von Menschen. Für die Sphären der Menschen. Aber für die Leben von Menschen? Nicht im geringsten. Da geht es mir wie Lenin. Kurze Pause. Er seufzt. Der Einzelne ist eine todlangweilige Geschichte ohne Stil, Ironie und Pointe. Sie beginnt immer gleich und endet immer gleich, und die Möglichkeiten dazwischen haben sich seit dem Paläolithikum nicht wesentlich erweitert. – Ich meine den Einzelnen nicht als Begriff, der ist in humanen Gedankenspielen eine lobenswerte Größe. – Sondern als Einzel-Fall und Konkretum: der essende, arbeitende und liebende Einzeller. Der Nachbar. Der Pfahlsitzer. Unergiebig bis zum Verzweifeln!

WILKO: Aber Sie sitzen doch selber hier.

RAFAEL während er absteigt: Ich will mich ja auch gar nicht ausnehmen. Ich bin

nicht von dem Drang besessen, eine Ausnahme sein zu wollen. Ganz und gar nicht. Im übrigen ist man sowieso desto mehr eine Ausnahme, wenn man keine sein will. Jeder will sich ja ausnehmen. Da gibt es ganze Ausnahme-Ideologien: Individualimus und Kollektivismus, Nationalismus und Anti-Nationalismus, Moralismus und Immoralismus, Fundamentalismus und Terrorismus, Neoliberalismus und Sozialismus - gewissermaßen ist jede platte Weltanschauung eine Ego-Strategie: schließlich ist man immer auf der richtigen Seite. – Und die meisten anderen lebenslangen und kurzatmigen Bemühungen fallen in dieselbe Schublade. – Entweder es macht sich einer vom kleinen zum großen Einzelnen, oder er verschwindet unter so Vielen, daß sie gemeinsam groß sind. Die Lust, größer als klein zu sein, ist universal. Der eine glaubt, er schafft sich selbst zur Welt, der andere glaubt, er findet eine, für die er geschaffen ist. Jeder will Welt sein und keiner allein der Welt gegenüberstehen. Das ist verständlich. Das ist unmöglich.

Pause.

KORDULA: Das ist traurig.

RAFEAL: Nehmen Sie das nicht so ernst. Ich bin schließlich Künstler. Ein Freund von mir,

ein Stückeschreiber, sagt in solchen Fällen: Wenn du ernst sein willst, erschieß dich – hier sind wir im Theater!- Er verbeugt sich vor dem Publikum und geht schwungvoll ab.


Vorhang.



Keine Kommentare:

 
Email-Abonnement
Blogverzeichnis - Blog Verzeichnis bloggerei.de Gelistet im Blog Verzeichnis Blog Directory Blog Top Liste - by TopBlogs.de blog-o-rama.de blogCloud frisch gebloggt

kostenloser Counter