31.12.2007

Vier Argumente für Seelsorge



Eins


Kah sagt mir: er habe nicht allein wohnen wollen

von wegen der abgründigen einsamkeit oftmals vorzufinden

ja bei intellektuellen. er sagt: er wolle aber nun wieder einmal

allein leben weil wer allein lebt doch ungestörter arbeiten

könne sofern sage ich ihn die einsamkeit nicht stört er nickt.

kah sagt auch: gefährlich er sagt: gefährlich könne es

sein zuviel zu wissen weil nämlich man dann gewissermaßen

kreativ würde enden können als poetus doctus. das stimmt.

ich sage ich sähe da aber keine gefahr sage ich bei ihm seine

kreativität sei sicher ich sage sicher mächtiger als

seine doctus.




Zwei


Ämm fragt mich: wie ist das? wie ist das denn so mit

lukatsch? fragt er mich. ich antworte: tja ämm mit lukatsch

ist das so eine sache denn lukatsch den habe ich noch

nie gelesen. aha meint ämm. aber brecht zum beispiel brecht

den hast du doch gelesen und lukatsch der mochte den brecht

doch nicht. brecht den sage ich auch nicht. aha macht ämm

und weiß man fragt er weiß man auch warum? man weiß

das aus büchern ämm aus brechts journalen weiß man

zum beispiel das. ok sagt ämm gut. was steht da so drin

insgesamt? knapp kläre ich knapp gesagt seine arbeits-

begleitenden überlegungen. ämm: mehr nicht? bei brecht

sag ich schließt das den rest ein. aha nickt ämm und

welcher rest fragt er wär das? geschichte ämm und

klassenkampf. aha zuckt ämm interessant. und ma

rx zum beispiel also was ist eigentlich mit dem mar

x so los? marx tja also marx der war auch so einer der sag ich

dicke bücher gemacht hat damit man nicht versuchen muß

ihn ohne seine bücher zu verstehen. verstehe murrt ämm

und was weiter? ämm sage ich du kannst es in jedem buch

laden als sakkotaschenfutter erhandeln die gebrauchswertigste

marxware die du je erhandelt hast. jaja sagt ämm schon klar

ich hab mir halt jetzt so ne einführung gekauft sekundär

literatur geht ja wohl auch oder ja sage ich ämm bei marx

bei marx schon und wie liest sie sich so die einführung? heißt

einführung in den marxismus sagt ämm beziehungsweise

ins marxistische denken also von marx so eine art basis der

theorie von marx und engels zusammengefaßt bis glaube ich

heute. das erste kapitel zum beispiel heißt vorwort gibts auch

und dann gehts da um waren wert und die beziehung zu mehr

wert und beides in den klassen der kapitalmutation und so also

schon wichtig. klar sag ich: für später.




Drei


Hegel sagt eh müßte man auch mal gelesen haben ich bin

erschüttert sage ich eh in dir einen menschen zu kennen der

keinen hegel gelesen hat. hast du denn hegel gelesen fragt

mich der hirnwurm. ich donnere ich ich habe hegel nicht nur

gelesen ich habe hegel gelernt geträumt und gebetet eh ich

hab hegel injiziert hab hegel im blut nein: blut im hegel.

Eh fragt: wie ist hegel so. hegel intoniere ich hegel

das ist sprache die glitzert vor klarheit wie eisseide

im sonnenlicht ein stil so fein und fest und dicht un-

zerreißbar vor wahrheit wie nichtsvergleichbares der

zeile auf zeile aufwärts knüpft und fern und ferner den zweifeln

führt an dem was uns aufwärtsführt an seinem denken hegels

nämlich gedanken ein strom strudel schraubender sog des denkens das

ist hegel er läßt dich nicht los eh nie mehr. deshalb also

sagt eh muß man hegel lesen. deshalb sage ich eh

muß.




Vier


Rauchend im flur vollbärtig feueräugig erspäht mich einer

von kahs bekannten ohne umschweife einleitend zukünftige

fragen ich grüßt kahs bekannter ich nenne ihn auchkah schreibe was

für ein schönes hobby grüße ich lyrik nämlich meint auchkah

schreibe er überwiegenderweise was aber nicht ausschließen müsse

daß er nicht irgendwann einst einen roman anfangen beziehungsweise

auch werde vollfertigen wollen können also so im stil von na sagen wir mal: joyce

vielleicht. joyce nicke ich ja joyce nickt er der joyce nämlich ist auch so

eine ja sagen wir mal eherecksperimentelle richtung oder nicht

fragt er mich oder ja eben. aber erst lächelt auchkah erst mal was in

lyrik machen das heißt veröffentlichen also gedichte irgendwo raus

bringen wie denn da so die chancen wären ich weiß es nicht sage ich

ehrlich aber eher nichtsogut ja nickt er ja das habe er schonmal irgendwo

gelesen und geld fragt er wie ist das ob man wohl vom lyrischen

zivilisationsbeitrag zivilisiert leben kann? es gibt behaupte ich fakire

ausgenommen nur sehr wenige die von noch weniger als selbst vom

zivilisiertesten lyrischen zivilisationsbeitrag leben und nicht viele

mehr die gedichte zu suppen machen können und wenn dann zu

schlechten. suppen? fragt er. suppen sag ich und: es gibt leute wisse

er die schrieben nacht für nacht in einer portiersloge hätten nicht selten

ganz ulkige ideen da drin und lebten auch noch nebenher. jaja stöhnt er so

nebenher aber hauptsächlich leben und schreiben was für ihn nunmal dasselbe

sei also vom schreiben leben logenausschließlich? wer nebenherausschließlich

vom schreiben leben will der darf auch nur fürs schreiben leben und sich nicht

von kunstfernen bedürfnissen wie dem nach ledersesseln festreden oder einem

warmen essen ablenken lassen. nein………………………………………...ja?

nein!



Die Pfahlsitzer - Keine Provinzkomödie in vier Akten



Anmerkung


Dieses Stück beruht auf Tatsachen.

Die Weltmeisterschaft im Pfahlsitzen gibt es. Sie findet seit 1996 alljährlich im zweitgrößten Vergnügungspark Deutschlands statt, dem „Heide-Park“ bei Soltau in der Lüneburger Heide. Im Jahr 2001 wurde der gültige Weltrekord von 167 Tagen erstmals von drei Teilnehmern gebrochen. Zwei von ihnen saßen bis zum 184.Tag und stiegen erst ab, nachdem die Temperaturen minus zehn Grad erreicht hatten. Wegen seines Vorsprungs an Stunden, den er sich durch weniger häufige Pausen erspart hatte, wurde ein Mann aus Baden-Württemberg Weltmeister. Sein Preisgeld betrug 35.000 D-Mark.

Der „Heide-Park“, 1978 gegründet von einem ehemaligen Schausteller, wurde im November 2001 zu 60% von „Tussaud’s“, dem größten europäischen Unternehmen für Freizeitattraktionen, übernommen.

Der Autor des Stückes hat die Namen tatsächlicher Personen, Orte oder Unternehmen aus Faulheit nur geringfügig verändert. Daß er sie verändert hat, heißt: sie sind nicht gemeint. Die Wirklichkeit des Stücks wertet wirkliche Personen, Orte oder Unternehmen in keiner Weise.

Gewertet werden nur solche Komponenten der Wirklichkeit, die über einzelne Namen hinausgreifen.



DRAMATIS PERSONAE


Kordula Staub

Wilko Peschke

Roland Maierle

Rafael Nymphenbach

Klaus-Dieter Wampenhäger Pfahlsitzer

Florian Gernhardt

Ibrahim Mohamed

Kalle Bockfeld

Darius Swiazek

Parkschreier, ein PR-Spezialist des Freizeitparks

Arzt

Reporterin der „Landeszeitung Lüneburger Flachland“

drei Fernsehmoderatoren

Pieter Vonderdijk, Philosoph

Mann

Frau eine Besucherfamilie

Junge

drei Putzfrauen

Wilhelm von Knoop, Kunstförderer

ein Arbeiter

drei Männer, Werbeleute

Tine Wampenhäger-Rosenzweig, Klaus-Dieters Tochter

Amos Che, ihr Sohn, etwa achtjährig

Frau Gernhardt, Florians Mutter

Herr Gernhardt, sein Vater

Fußballer des 1. FC Fellingborstel

Wettkampfbetreuer

Igor, Kordulas Freund

Bürgermeisterin von Sohlgau

ein Prolet

Gebrüder Muetz, Schweizer Künstlerduo

Nancy Nietzsche, Miss Deutschland

Vladimir Barbaros, Torschützenkönig der Bundesliga

ein Grotesk-Kostümierter/Nackter

Stimmen aus dem Radio

Besucherinnen und Besucher des Freizeitparks

Poldino, ein Clown

Leierkastenmann, ein Greis

neuer Leierkastenmann

Generalkonsul der Niederlande

Anna die Erste, Erntekönigin

japanisches Ehepaar

Parteiprovinzler stumme Rollen

Parkmitarbeiterinnen

Kapelle

Fotograf

Fernsehteams

Journalisten



Anmerkung zum Personal


  1. Nur die ersten drei der genannten Personen sind in jedem Akt anwesend (im vierten Akt als einzige). Nur fünf Sprechrollen treten mehr als einmal auf.

  2. Weniger als zwanzig Personen sprechen mehr als zehn Sätze, davon haben nur sieben (Kordula, Roland, Wilko, Klaus-Dieter, Parkschreier, Arzt, Rafael) mehr als eine Seite Text.

  3. Unter Verzicht auf Statisten und bei Mehrfachbesetzung ist das Stück mit genau einundzwanzig Schauspielern (6 Damen und 15 Herren) ohne Textkürzungen aufführbar.

  4. Das Stück ist als Ideal- oder Maximal-Fassung niedergeschrieben, mit einigen stummen und sprechenden Details, Figuren und Episoden, die die Wirklichkeit des Stückes zwar verdichten oder erweitern, aber zur Schaffung derselben Wirklichkeit nicht notwendig sind. Das Stück ist also leicht kürzbar.





Die Pfahlsitzer - Erster Akt


Das „Holland-Viertel“ im „Flachland-Park“. Im Hintergrund nachgebaute Delfter Häuserfronten inklusive Mini-Windmühle. Links am Bühnenrand die Hütte des Wettbewerbsbüros, worin sich die Betreuer aufhalten; an der Tür ein Schild mit der Aufschrift JURY. In der Nähe eine Videokamera auf einem Stativ, immer eingeschaltet. Im hinteren Bühnenabschnitt die zehn Pfähle: 2,50 m hohe Holzstämme mit einer Sitzfläche von 60 x 40 cm, die mit einer Treppe umbaut sind. An jedem Pfahl befinden sich eine Uhr, ein Telefon und Banner folgender Sponsoren: Langnese, Puma, Weltbuch, Mme Tussaud, Volksbank Lüneburger Flachland und Möbel Munter. Unterhalb der Sitzfläche befindet sich ein Schubfach, dem die Pfahlsitzer Utensilien wie Radios, Bücher, Getränke, Pokale, Akten, Hanteln, Familienfotos u.ä. entnehmen. Auf der Sitzfläche sind Kontrollsensoren installiert. Um die Pfähle, die übrigens numeriert sind, liegen Strohmatten zum Schutz von herabfallenden Sportlern. Weiße Langnese-Sonnenschirme gegen das Wetter. Während des gesamten Tages hört man das an- und abschwellende Geschrei und Geratter der nicht fernen größten Holzachterbahn der Welt. Außerdem hin und wieder Leierkastenmusik. Vor den Pfählen warten die zehn Teilnehmer auf den Beginn der Weltmeisterschaft. Links vor der Hütte das fünfköpfige Betreuerteam in der Mitarbeiteruniform des Flachland-Parks. Neben ihnen der Fotograf und die Reporterin der „Landeszeitung Lüneburger Flachland“. Etwas mehr zur Mitte der Hamburger Generalkonsul der Niederlande. Rechts Mitglieder des 1.FC Fellingborstel, Bierdosen öffnend, austrinkend und wegwerfend. Ebenfalls rechts die übrigen Begleiter der Teilnehmer: Herr und Frau Gernhardt und Amos Che, ein Junge von höchstens acht Jahren. In der Bühnenmitte, vorn an der Rampe, der Parkschreier mit Mikrofon, zum Theaterpublikum gewandt: er hält die Weltmeisterschaftseröffnungsrede. Es ist der 1. April 2001, 10.30 Uhr.


PARKSCHREIER laut: Sehr geehrte Damen und Herren! Hochverehrtes Publikum! Liebe

Teilnehmer! Ich darf Sie alle hiermit heute herzlich willkommen heißen. Der Flachland- Park, das große Freizeit- und Familienangebot im Lüneburger Flachland, freut sich riesig, Ihnen das große Ereignis der Saison präsentieren zu dürfen. In Zusammenarbeit mit Langnese, Weltbuch und Möbel Munter starten an diesem wunderschönen Morgen im berühmten „Holland-Viertel“ unseres Flachland-Parks unsere zehn Weltklasseteilnehmer zur Fünften Weltmeisterschaft im Pfahlsitzen und damit zur wahrscheinlich längsten Wettbewerbsverunstaltung, Verzeihung: -veranstaltung der Erde. Er schaut in seinen Zettel. ‚Paalsitten‘ heißt diese ebenso ungewöhnliche wie hochinteressante Sportart bei unseren niederländischen Nachbarn, die die Not erfinderisch machte, als 1952 eine große Sturmflut den niederländischen Landesteil Holland leider völlig unter Wasser setzte. Damals flüchteten sich die Menschen auf Weidepfähle, um zu überleben. Hier geht es jetzt zwar nicht ums Überleben, liebe Gäste, keine Angst, aber um immerhin sage und schreibe 20.000 Deutsche Mark und den Titel Weltmeister im Pfahlsitzen für den Sieger plus 15.000 Deutsche Mark Bonus, falls der Weltrekord gebrochen wird. Also riesige 35.000 Mark sind drin für den ersten Platz! Der zweite und dritte Platz sind mit immerhin tollen 10.000 und 5.000 D-Mark ebenfalls riesig dotiert. Alle Preise wurden gestiftet von der Volksbank Lüneburger Flachland und Puma. Und dies sind sie, die diesjährigen Wettkämpfer um den großen Weltmeistertitel im Pfahlsitzen – bei uns im Flachland-Park: auf Pfahl Numero eins wird sitzen Klaus-Dieter Wampenhäger aus Bremen, mit satten 63 Jahren der allerälteste Teilnehmer, den wir je hatten. Viel Glück! Auf Pfahl zwei, mit Außenseiterchancen: Ibrahim Mohamed aus Ägypten beziehungsweise Köln. Wir wünschen angenehmen Aufenthalt bei uns in Deutschland! Auf dem Pfahl mit der Nummer drei versucht sich die einzige Frau im Feld: Kordula Staub aus Hannover. Viel Glück, Kordula! Dann auf dem vierten Pfahl unser polnischer Mitbürger Darius Swiazek aus Danzig. Hab‘ ich das richtig ausgesprochen, ja? - Nebenan auf Pfahl Nummer fünf, als Einziger aus den neuen Ländern: Wilko Peschke, arbeitslos und aus Brandenburg - ein waschechter Preuße also. Pfahl sechs ist ab heute der Tummelplatz für unseren Flachland-Park-Clown Poldino, seit vielen Jahren der Liebling von Jung und Alt. Wir sind gespannt, was du wieder anstellst, Poldi! Auf Pfahl sieben, wieder ein Teilnehmer aus Niedersachsen: Florian Gernhardt, 27 Jahre und Lehrling. Na, Geduld scheint der ja zu haben! – Dann auf Pfahl Numero acht Herr Rafael Nymphenbach. - Sicher ein Künstlername, weil bei mir steht, Sie sind Kunstmaler. Stimmt das? Im Ernst? - Tatsächlich, Sie hören es: ein echter Picasso also hier im Flachland-Park! lacht künstlich Auf Pfahl neun, aus dem fernen Schwaben und im vergangenen Jahr schon nach vier Tagen ausgeschieden: Roland Maierle. Und schließlich, last but least sic! Kalle Bockfeld, Metzger und Rechtsaußen beim 1.FC Fellingborstel und mit 24 Jahren der jüngste Titelanwärter. Gejubel der Fußballer Alles Gute, Jungs! – Das Ziel ist klar, liebe Leute: Sitzenbleiben bis zum Umfallen. Dabei sind leider ein paar Regeln zu beachten: Schneidersitz, Hocke und Knien ist verboten. Der Sitzflächenkontakt per Hinterteil muß gewährleistet bleiben. Aufstehen außerhalb der Pausen ist verboten. Unsere Kontrollsensoren registrieren sofort, wenn jemand sich auch nur kurz vom Pfahl anhebt. Die Videoüberwachung hier zu meiner Rechten dient einer zusätzlichen Kontrolle - ausschließlich zu Ihrer eigenen Sicherheit natürlich. Eine Pause von maximal zehn Minuten ist alle zwei Stunden erlaubt. Die Zeit wird gestoppt. Gleich um die Ecke befinden sich Ihre praktischen WC- und Waschkabinen. Und eine nicht weniger luxuriöse und geschmackvolle Mahlzeit wird Ihnen dreimal täglich, solange Sie hier sitzen, kostenlos von Ihrem Flachland-Park ‚frei Pfahl‘ geliefert werden! lacht wie oben Die Einhaltung der Regeln wird von unserem speziell geschulten Pfahlsitz-Wettbewerbs-Team streng und gerecht überwacht. Zu meiner Rechten darf ich Ihnen also vorstellen - Jury, Ordnungshüter und Seelsorger in einem - ...

AMOS CHE während der Parkschreier weiterspricht: Opa, ich muß mal.

KLAUS-DIETER WAMPENHÄGER: Nicht jetzt, Junge. Opa will doch Weltmeister werden.

AMOS CHE: Ich weiß... Aber ich glaub, solang kann ich nicht mehr warten.

KLAUS-DIETER: Sei doch mal still, ich versteh ja nichts! Gerade die Ordnungshüter, Junge,

das sind die zweitwichtigsten Leute hier.

AMOS CHE nach einer Pause: Opa, ich hab Angst.

PARKSCHREIER hat inzwischen weitergesprochen: ... und last but least Meinolf

Räudemann, unser Wettkampfchef, der heute höchst persönlich die Pausen stoppen und genau überwachen wird. Stimmt’s, Meinolf? - Das also unsere kompetente und sympathische Wettkampf-Jury. - Doch bevor unser Startschuß um Punkt elf Uhr fallen wird, darf ich alle Anwesenden noch sehr herzlich darauf hinweisen, daß Sie sich hier in nur geringer Entfernung von der mit Abstand größten, höchsten und schnellsten Kiefernholzachterbahn unseres Planeten befinden! Ja, Sie haben ganz richtig gehört. Die Mega-Attraktion der Freizeit und Familienparks weltweit, direkt um die Ecke: unsere neue Achterbahn TITANIA. Und hier ist Nomen Omen, liebe Gäste, denn ...

FRAU GERNHARDT während er weiterspricht: Ist alles in Ordnung, mein Junge? Bist du

bereit?

FLORIAN: Ja, ja, klar doch.

FRAU GERNHARDT: Willst du nicht doch lieber mit nach hause fahren?

HERR GERNHARDT: Jetzt laß doch den Kerl! Jetzt soll er endlich mal was leisten.

FRAU GERNHARDT ängstlich: Ich hab überhaupt nicht gewußt, wie hoch die Pfähle

da sind...Das sind ja mindestens drei Meter...

HERR GERNHARDT: Zwei Fuffzig, höchstens. Wenn er da runterplotzt, merkt er

auch, wie hart unser Geld verdient wird.

PARKSCHREIER hat inzwischen weitergesprochen; begeistert: ... 120 Stundenkilometer, 61

Grad Maximalgefälle vom 60 Meter hohen Gipfel der Strecke und 67 Grad Querneigung in der drittsteilsten 360-Grad-Schleife Westeuropas ...

1. FUSSBALLER: Echt geil, die Bahn. Haste gehört? Drittgeilste Schleife Europas.

2. FUSSBALLER: Hab’s gehört.

1. FUSSBALLER: Atze, haste gehört?

3. FUSSBALLER: Klar, 370 Grad.

4. FUSSBALLER: Ich geh gleich ma rüber. Kommt wer mit?

Schweigen.

1. FUSSBALLER: Klar. Nachher.

3. FUSSBALLER: Ja, nachher.

5. FUSSBALLER: Habt ihr Schiß, oder was? Also ich geh jetzt.

6. FUSSBALLER: Ich komm mit.

5. FUSSBALLER: Dann komm.

Die beiden gehen.

4. FUSSBALLER: Also, ich geh auch gleich.

PARKSCHREIER wie oben; euphorisch: ... 3.000 Kubikmeter

heimisches Kiefernholz, genug übrigens für mehr als 700 Dachstühle, 750.000 Nägel, 3.800 Kubikmeter Beton, 125.000 Kilo Stahlteile, 90.000 Holzteile, davon 20.000 verschiedene, 80.000 Kilogramm Muttern, Schrauben und Beilagscheiben, sage und schreibe 3.470.000 Dezimeter ...

KORDULA zu Ibrahim: Kommst du aus Kairo?

IBRAHIM: Köln-Nippes.

KORDULA: Eine Freundin von mir wohnt in Köln. Da bin ich öfters zu Besuch. Ist

eine schöne Stadt. Der Dom und so. Wir sind einmal bis ganz oben raufgestiegen. Kann man ja. Achthundert Stufen, glaub ich. Aber ich bewege mich ja sehr gern. Ich jogge auch immer am Rhein entlang, wenn ich da bin, morgens um sieben Uhr. Köln ist so eine junge, dynamische Stadt, finde ich. Das spornt einen richtig an. Als ich das letzte Mal bei meiner Freundin war, habe ich mir auch fest vorgenommen, noch mehr aus meinem Leben zu machen. Aktiver zu sein, kreativer. Deshalb nehme ich auch hier teil. Also Köln hat mich da ein bißchen animiert, sozusagen. Das war jedenfalls eine tolle Aussicht oben auf dem Dom.

IBRAHIM: Ja, ja, der Dom.

KORDULA: Aber die Pyramiden sind ja noch toller.

PARKSCHREIER wie oben; ekstatisch: ... vom weltberühmten Münchener Ingenieur

und Achterbahnpapst Walter Stummel, dessen Büro schon mehr als 440 Anlagen weltweit entworfen hat - mehr als die Hälfte aller auf dieser Erde existierenden Achterbahnen; exklusiv für den Flachland-Park haben elf hochrangige Statistiker sic! mehr als 3.000 Zeichnungen angefertigt, die Vermessungsingenieure 950 Einzelfundamente, 3.800 Fundamentpunkte, 520 großartige Richtungspunkte ...

KLAUS-DIETER: Unglaublich! Das sind noch Leistungen! Hast du das gehört,

Junge? - Dreitausend Fundamente! Weißt du, was das bedeutet? - Wir sind immer noch Weltklasse. Absolute Weltklasse! Wieder! Trotz verlorenem Krieg. Sowas haben auch die Amerikaner nicht. Trotz ihrem ganzen Geld. Da sieht man doch, daß die wirklich großen Leistungen keine Frage des Geldes sind. Klugheit, Fleiß, Disziplin - darauf kommt es an. Das sind die Stärken unseres Volkes. Ja, das sind noch Tugenden, Junge! Hast du gehört? Wahre Tugenden!

AMOS CHE steht mit gekreuzten Beinen, gequält: Opa, ich hab Angst.

PARKSCHREIER wie oben; etwas ermüdet: ... hat schon unzählige Achterbahnfans

aus aller Welt begeistert. Also lassen auch Sie sich dieses faszinierende Wunderwerk der modernsten Technik nicht durch die Lappen gehen. Absolutes Abenteuer und totaler Spaß in Ihrem Flachland-Park! Spannend, sicher, super! - Den Weg muß ich Ihnen wohl kaum erklären. Sie sehen die über 60 Meter hohe TITANIA problemlos von hier. Er zeigt die Richtung. Zwei der Fußballer drehen sich dahin um und sehen nach oben; Gekreisch von dort; der erste stößt den zweiten an mitzukommen; der nickt, bleibt aber noch einmal stehen, sieht nach oben und dreht sich wieder zu den Pfählen um; der erste geht ab und kommt im nächsten Augenblick wieder zurück. Das alles während der Parkschreier weiterspricht.

Jetzt aber, liebes Publikum, ist die große Stunde gekommen. Der Countdown läuft, es ist eine Minute vor elf. Genug Zeit also noch, Ihnen ganz herzlich unseren heutigen Ehrengast und Prominenten vorstellen zu dürfen, der extra zum Startschuß dieses größten Wettbewerbs in der Nationalsportart seiner Heimat zu uns gekommen ist: aus Hamburg der Generalkonsul der Niederlande, Willem van Sterneberg. Wir begrüßen Sie aus ganzem Herzen. Haben Sie auch Ihre Schreckpistole mitgebracht, Herr Sternenberg? - Ja, da ist sie, na das klappt ja wunderbar bei Ihnen hinterm Deich. – Achtung noch dreißig Sekunden. Auf die Plätze, liebe Pfahlsitzer. Wir sind mindestens so aufgeregt wie ihr. Hab ich recht, Herr Sternenzwerg? Sicher einer der spannendsten Wettkämpfe der Welt, meine Damen und Herren. Wer wird den Weltrekord überbieten können, den Seppl Silbermann aus München im vorigen Jahr hier aufgestellt hat: sage und schreibe 3.854 Stunden und zehn Minuten in 164 Wettkampftagen! Aber laßt euch nicht entmutigen! Denkt an die Preise – noch zehn Sekunden – bis zu 35.000 D-Mark und Ruhm und Ehre für den Titelträger. Herr Steineberg – Achtung! –Schießen Sie – los!

Der Generalkonsul gibt den Startschuß. Die Pfahlsitzer laufen die Treppen hoch. Mit Ausnahme von Kalle Bockfeld, der in einer Hand eine Bierdose balanciert und vorsichtig hinaufschwankt, während seine Kumpane ihn anfeuern. Poldino stolpert mit seinen Clownsschuhen, fällt hin, klettert wieder, springt dann über den Pfahl hinweg in die Matten, steht auf, klettert wieder usw. Schließlich sitzt er. Währenddessen hat sich der Parkschreier mit einem Tuch den Schweiß abgewischt und ist gegangen, mit müder, abgespannter Miene. Der Konsul geht ebenfalls ab. Das Betreuerteam kontrolliert die Uhren, Videokamera etc. Meinolf wacht breitbeinig und bierbäuchig vor seiner Hütte. Die Pfahlsitzer hocken still und konzentriert, die Blicke starr über das Publikum gerichtet; die Mimik etwa wie Sprinter am Start. Nach der ersten Minuten fangen sie an, sich gegenseitig möglichst unbemerkt zu beäugen. Die Reporterin macht sich mit Notizblock zum Interviewen bereit. Der Fotograf fotografiert.

FRAU GERNHARDT: Sitzt du gut, Junge?

FLORIAN entnervt: Ja, klar doch.

FRAU GERNHARDT: Wird dir auch nicht schwindlig da oben?

HERR GERNHARDT: Jetzt laß endlich den Kerl! Hier kann er jetzt zeigen, was er kann. Und

was kann er schon – außer Herumsitzen?

FRAU GERNHARDT: Aber mehr muß er hier doch auch gar nicht.

HERR GERNHARDT: Eben. Andere arbeiten, werden was, sind was, verdienen was.

Er sitzt da oben und wartet, daß man ihm Geld gibt.

FLORIAN: Ich warte nicht. Ich werde Weltmeister.

FRAU GERNHARDT: Da hörst du’s.

HERR GERNHARDT: Sehen will ich’s, nicht hören.

FLORIAN: Ihr werdet alle noch große Augen machen.

FRAU GERNHARDT: Da siehst du’s.

HERR GERNHARDT: Ich sehe zehn Affen, die auf Pfähle klettern, weil sie sonst

nirgends hochkommen. Und einer der Affen ist unser Sohn.

FLORIAN sehr entschlossen: Ich werde Weltmeister.

FRAU GERNHARDT: Jawohl. Unser Sohn wird Weltmeister. Höher kann man doch

gar nicht kommen! Und sein Vater, wie hoch ist der gekommen? Bis in die Kanäle runter – so hoch!

HERR GERNHARDT deutet auf Florian: Und er hat noch von der Scheiße schmarotzt!

FLORIAN: Wenn ich hier fertig bin, zahl ich’s dir auf den Groschen zurück.

FRAU GERNHARDT: Unsinn. Das brauchst du nicht, Junge.

HERR GERNHARDT: Werd erst mal Weltmeister. Dann kannst du abrechnen. Komm

jetzt, Helga.

FRAU GERNHARDT: Hier, Junge, deine Brote. legt ihm ein Proviantpäckchen auf die

Treppe Viel, viel Glück!

HERR GERNHARDT: Also, wir gehen.

FLORIAN: Geht nur. Ich komme in 200 Tagen nach.

HERR GERNHARDT spöttisch: Laß dir nur Zeit. wendet sich ab, zum Gehen

FRAU GERNHARDT sich im Abgehen umdrehend: Herr Jesus, wie er da sitzt – wie

auf einem Thron.

Beide ab.

Die Reporterin hat inzwischen ihre Befragung der Pfahlsitzer bei Klaus-Dieter Wampenhäger begonnen. Amos Che steht dabei, unruhig von einem Bein auf das andere tretend und die Hände in den Schoß gepreßt.

REPORTERIN: Glauben Sie denn, daß Ihr sicher eher ruhiges und unauffälliges Dasein

als Finanzbeamter und Frührentner ein Grund für Ihre jetzige Abenteuerlust ist?

KLAUS-DIETER: Ruhig, sagen Sie?! lacht Also, liebes Fräulein, Sie hätten bei uns

mal dabeisein müssen! Ich weiß noch, wie Gregor Haase, unser Praktikant, damals-

AMOS CHE unterbricht: Opa, ich muß mal.

KLAUS-DIETER böse: Jetzt reicht’s aber! Du kannst doch die Dame von der Zeitung

nicht einfach unterbrechen! Das ist hier ein Interview, Jüngchen, dein Opa kommt in die Zeitung, mit Foto und allem! Genau wie der Bundeskanzler!

REPORTERIN nutzt die Fluchtgelegenheit: Danke für das Gespräch. Sie geht zum

zweiten Pfahl, während Klaus-Dieter seinen Enkel umso erregter ausschimpft. Ibrahim unterhält sich gerade mit Kordula, d. h. er hört ihr zu, d. h. er tut so. Guten Tag, mein Name ist Inken Jägermann, ich bin Regionalkorrespondentin und Eventreporterin der „Landeszeitung Lüneburger Flachland“ und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.

IBRAHIM: Guten Tag.

REPORTERIN: Sie sind Ägypter.-

IBRAHIM unterbricht: Kölner.

REPORTERIN: Ach so, ja... Also Kölner Mitbürger mit ägyptischer Staatsangehörigkeit.

IBRAHIM verbessert: Ägyptischstämmiger Kölner mit einfacher deutscher

Staatsbürgerschaft.

REPORTERIN irritiert: Wie?... Ja... Also, Herr Mohamed, Sie nehmen zum ersten Mal an der Pfahlsitzweltmeisterschaft teil?

IBRAHIM: Jawohl.

REPORTERIN: Warum?

IBRAHIM: Aus finanziellen Gründen.

REPORTERIN: Sind Sie arbeitslos?

IBRAHIM: Nein.

REPORTERIN: Sie arbeiten also?

IBRAHIM: Ja.

REPORTERIN: Aber nicht im Moment.

IBRAHIM: Nein. Im Moment sitze ich auf einem Pfahl.

REPORTERIN: Sie sind also derzeit beurlaubt?

IBRAHIM: Genau.

REPORTERIN: Fein. Alter?

IBRAHIM: Wie bitte?

REPORTERIN: Wie alt sind Sie?

IBRAHIM: Sechsundzwanzig.

REPORTERIN: Beruf?

IBRAHIM: Arzt im Praktikum.

KLAUS-DIETER noch immer beim selben Thema: ... Verstehst du das? Und was der

Herr Doktor Kohl im Staat ist und der Lothar im Fußball, das wird dein Opa hier im Pfahlsitzen. Oder wie der Derrick im Fernsehen. Verstehst du das?

AMOS CHE: Ja, Opa, aber ich-

KLAUS-DIETER unterbricht, gereizt: Du sollst mich nicht immer unterbrechen.

Furchtbar ist das! Genau wie dein Vater, dieser - beherrscht sich Hör lieber zu und lern was. Ich wäre in deinem Alter froh gewesen, wenn ich einen so klugen Opa gehabt hätte, der mir etwas fürs Leben hätte beibringen können ...

REPORTERIN inzwischen bei Kordula Staub: ... Sie waren im letzten Jahr schon

einmal dabei, obwohl-

KORDULA unterbricht: Genau. Und da bin ich nachts vom Pfahl gefallen, als es so

windig war. Die Früjahrsstürme waren ja damals. Hat aber nicht wehgetan. Da hatten sie noch solche dicken Profiturnermatten. Die waren ihnen dieses Jahr zu teuer, hab ich gehört. Na klar, jetzt wo sie diese neue Achterbahn-

REPORTERIN unterbricht: Sie sind achtundzwanzig Jahre alt?

KORDULA: 23.7.1972. Löwin. Und meinen Neunundzwanzigsten möchte ich auf dem

Pfahl feiern. Mein Freund will sogar extra herkommen. Das ist ein ganz Lieber. Sie können auch gerne kommen, wenn’s Ihnen paßt.

REPORTERIN: Herzlichen Dank. Sie sind Finanzbuchhalterin?

KORDULA lacht: Um Himmels willen, schon ewig nicht mehr. Ich bin jetzt

selbständig. Vor zwei Jahren habe ich mit einer Freundin eine kleine Partnervermittlung gegründet. Ich wollte näher am Menschen sein. Auch wegen meiner sozialen Ader. Als kleines Mädchen wollte ich sogar immer ins Kloster gehen. Das kam mir vor wie eine große Familie. Na, ich lese ja auch sehr gern. ...

Während des Gesprächs zwischen Kordula und der Reporterin hat Darius Swiazek nach einigen reaktionslosen Versuchen den Betreuerchef Meinolf Räudemann zu seinem Pfahl herbeigewunken und ihn anscheinend gefragt, ob er schon zur Toilette dürfe. Meinolf nickt müde, und Darius verschwindet sehr eilig von der Bühne. Meinolf steht breitbeinig vor dem Pfahl und stoppt die Zeit. Die Fußballer stehen weiterhin mit ihren Bierdosen um Pfahl 10. Drei von ihnen drängt es, etwas Ausdrucksvolles zu tun; also versuchen sie, eine Vereinsfahne des 1. FC Fellingborstel, selbstangefertigt, irgendwo am Pfahl zu befestigen.

1. FUSSBALLER: Habt ihr gehört? Heiner hat eben von der Achterbahn gekotzt.

Sie lachen. Heiner kommt, grün im Gesicht, und setzt sich auf die Treppe von Pfahl 10. Man drückt ihm eine Dose in die Hand; er trinkt.

2. FUSSBALLER: He, steh mal auf. Wir wickeln da die Fahne drum.

Heiner steht auf, ungern.

KALLE BOCKFELD: Moment mal, Kameraden. Ich geh noch gerade pinkeln.

1. FUSSBALLER: Pinkel doch einfach runter.

Sie lachen. Kalle steigt ab und geht. Die Drei warten nicht auf ihn, sondern wickeln sofort die Fahne um Treppe und Pfahl. Ein Betreuer kommt.

BETREUER: Das geht nicht.

1. FUSSBALLER: Was is?

BETREUER zupft an der Fahne: Hier, das geht nicht.

1. FUSSBALLER: Und wieso?

BETREUER: Ihr verdeckt die Sponsoren.

2. FUSSBALLER: Wen?

3. FUSSBALLER: Na und?

1. FUSSBALLER: FC Fellingborstel ist wichtiger.

BETREUER: Macht das ab. Sonst gibt’s Ärger.

4. FUSSBALLER tritt vor: Mit wem? Mit dir?

BETREUER: Mit Puma, Weltbuch und Langnese. Und mit der Volksbank Lüneburger

Flachland.

Schweigen.

2. FUSSBALLER leise zum 4. Fußballer: Das geht nich. Ich hab da’n Kredit am Laufen.

BETREUER jovial: Also los, Jungs. Weg damit.

1. FUSSBALLER zieht eine Deutschlandfahne aus der Jacke: Und das hier?

BETREUER während alle ihn ansehen, überlegt: Moment. Er geht in die Betreuerhütte.

Während der Fahnendebatte ist die Reporterin zum vierten Pfahl gekommen, vor dem Meinolf mit der Stoppuhr steht. Er sieht sie deutlich abweisend an, und sie geht weiter zum fünften Pfahl, wo sie inzwischen begonnen hat, Wilko zu befragen.

WILKO: Aus Klüterbog, Brandenburg.

REPORTERIN: Sie sind Maurer?

WILKO: Ja. Aber ohne Arbeit.

REPORTERIN: Sie haben 1998 schon einmal teilgenommen. Was haben Sie sich für

dieses Jahr vorgenommen?

WILKO: Also erstmal hier sitzenbleiben. Vielleicht Weltmeister werden. Und mit dem

Geld dann meine Freundin heiraten. Das heißt ohne Geld auch.

REPORTERIN: Sie wären der Erste, der den Titel in die neuen Bundesländer holen könnte...

WILKO: Ja. Stimmt.

REPORTERIN: Bedeutet Ihnen das was?

WILKO: Klar, eigentlich schon. Vor drei Jahren hab ich viel Post bekommen, also aus

Brandenburg. Aus Thüringen auch. Die haben mich angefeuert. Sowas hilft. Diesmal gewinnen wir.

Während des Folgenden kehrt Darius auf die Bühne zurück, so eilig wie er abgegangen ist; er läuft zum Pfahl 4 und will hinauf. Meinolf verstellt ihm den Weg und schüttelt den Kopf, wobei er auf seine Stoppuhr zeigt. Darius sieht verzweifelt aus. Meinolf winkt drei Betreuer aus der Hütte zu sich heran; der erste sammelt Darius‘ Utensilien ein – ein Heiligenbild oder Kreuz und ein paar Bücher, die Bibel u.a. -, die beiden anderen führen den Polen ab wie einen Häftling. Meinolf sieht ihnen zufrieden zu und geht als letzter der Fünf langsam ab. Dieser Vorgang verläuft genau gleichzeitig zu der zweiten Unterhaltung zwischen den Fußballern und dem Betreuer über die Fahne.

BETREUER kehrt zurück: Nein, tut uns leid.

1. FUSSBALLER immer noch die Fahne haltend: Was?

BETREUER: Überklebung, Verbarrikadierung oder Beflaggung der Pfähle und jede

andere Beeinträchtigung der Erkennbarkeit der Sponsorenbanner ist strengstens untersagt.

Protestlaute.

1. FUSSBALLER: Wir sind doch hier in Deutschland, oder?

4. FUSSBALLER: Eben!

3. FUSSBALLER: Genau!

BETREUER amtlich: Sie befinden sich bei einer Veranstaltung des Flachland-Parks,

der finanziell unterstützt wird von-

4. FUSSBALLER unterbricht: Aber Kalle hier sitzt für Deutschland.

3. FUSSBALLER: Und den FC!

1. FUSSBALLER: Und nicht für euern Scheiß-Park!

BETREUER: Das ist ganz egal, von welchen persönlichen Gefühlen Herr Bockfeld-

1. FUSSBALLER brüllt: Deutschland ist doch kein Gefühl!

3. FUSSBALLER: Und der FC!

4. FUSSBALLER: Wir sind Deutsche!

3. FUSSBALLER: Und Fellingborsteler!

1. FUSSBALLER: Das hat nix mit Gefühl zu tun. Das ist Blutssache.

4. FUSSBALLER: Bist du denn kein Deutscher, oder was?

3. FUSSBALLER: Gefühl! Der ist wohl schwul.

BETREUER: Noch einmal: Langnese zahlt, Langnese wirbt, und jeder hier sitzt für

Langnese. Punkt. Und Puma. Und Weltbuch.

2. FUSSBALLER hinter den andern: Und die Volksbank?

BETREUER: Und die Volksbank. Richtig. Und das läuft in Deutschland genauso wie in

Frankreich, China oder Amerika. Werbung gibt’s überall, wo es Firmen gibt. Und die gibt’s überall. Auch bei uns im Flachland. Punkt. Er geht.

3. FUSSBALLER laut: Sauerei!

2. FUSSBALLER ängstlich: Pssst!

1. FUSSBALLER: Alles Hochverräter.

4. FUSSBALLER: Sind wir etwa nicht in Deutschland? - unserm Vaterland?

3. FUSSBALLER: Wahrscheinlich sind wir in Langneseland.

Heiner, der die ganze Zeit stumm und schwankend dabeistand, übergibt sich.

KLAUS-DIETER noch immer in seinem Sermon: ... Der war mit seinem

Schäferhundzuchtverein fast jede Woche in der Zeitung, ohne je was Richtiges geleistet zu haben. Und dein Opa hat vierzig Jahre lang gearbeitet, immer solide und verläßlich und fast gern, trotz Bandscheiben, Krieg und jeden Winter Schnupfen ...

Die Reporterin ist inzwischen bei Pfahl 7 angelangt – Poldino ist nicht interviewt worden – und führt ein Gespräch mit Florian Gernhardt.

FLORIAN: Meine Motivation ist klar. Mein Ziel heißt: Sieger, Weltmeister und Weltrekord.

REPORTERIN: Der gültige Weltrekord liegt bei immerhin 164 Tagen. Eine große

körperliche Herausforderung...

FLORIAN: Sagen Sie das den anderen hier. Die werden das früher merken als ich.

REPORTERIN: Sie klingen sehr siegessicher. Haben Sie sich konditionell lange auf

diese Weltmeisterschaft vorbereitet?

FLORIAN: Klar doch. Mental vor allem.

REPORTERIN: Treiben Sie auch andere Sportarten, außer Sitzen?

FLORIAN: Ich hab als Kind jahrelang intensiv in der F-Jugend Fußball gespielt. Das

war auch nicht immer ein Kinderspiel. Einmal hab ich zwei Tore gemacht – in einer Halbzeit. Also im Schnitt vier pro Spiel.

Ibrahim Mohamed steigt während des Folgenden vom Pfahl, nachdem er von Kordulas Kommunikationsfanatismus eine Pause nötig und schon mehrmals vergeblich und möglichst unauffällig Zeichen zur Betreuerhütte gegeben hat. Schließlich erscheint Meinolf mit Stoppuhr, und er geht ab. Kaum ist Ibrahim verschwunden, winkt Meinolf seine drei Büttel heran und dirigiert sie: während der erste das Objektiv der Videokamera zuhält, wirft der zweite Ibrahims Utensilien in eine ALDI-Tüte, der dritte hält die Uhr am Pfahl an. Kordula beobachtet sie verblüfft, aber schweigend. Bevor Meinolf und der Kamera-Betreuer grinsend in die Hütte zurück gehen, schickt Meinolf die beiden anderen los, um Ibrahim abzufangen, der dann auch nicht wieder auf der Bühne erscheint. Wiederum genau gleichzeitig zu diesen Vorgängen verteilt Poldino kleine Deutschlandfähnchen an die Fußballer. Anschließend kehrt er mit einem davon und einem zweiten Fähnchen mit Flachland-Park-Logo auf den Pfahl zurück. In dem Moment, wo Meinolf mit seinen Helfern nach getaner Arbeit die Bühne verläßt, wedelt er lustig mit den Fähnchen, und die Fußballer tun es ihm nach.

KLAUS-DIETER noch immer beim Thema: ... und diese Gelegenheit ist jetzt für deinen Opa

gekommen, verstehst du? Der kleine Mann – auch wenn ich nicht wirklich zu denen gehöre, ich war ja immerhin Beamter – kann hier ganz groß rauskommen, mit Fernsehen und allem Drum und Dran. Hier muß er nicht buckeln und ducken, hier wird er nicht von den Großkopferten rumgegängelt. Hier sitzt er mal höher. Und jeder kann Weltmeister werden. Jeder hat die gleichen Bedingungen. Wie früher. Und dein Opa kann jetzt mal so richtig zeigen, wie er da mithält – trotz Bandscheiben und verlorenem Krieg und-

AMOS CHE unterbricht, verzweifelt: Opa, Opa, ich muß mal ganz, ganz dringend! Schnell!

KLAUS-DIETER aufbrausend: Na, dann geh endlich, du kleiner Hosenpisser! Los, mach,

daß du fortkommst! Brauchst gar nicht mehr zurückzukommen zu mir. Hörst ja doch nicht zu. Also verschwinde! Wenn deine Mutter kommt, sag ich ihr, du wartest am Ausgang. Los, lauf! Ich will dich nicht mehr hier sehen! Weg mit dir! Amos Che läuft erschrocken und weinend ab. Nach einer Pause, gedämpft und gehässig: Der kleine Bastard! Pause, verächtlich Das ist die Demokratie!

REPORTERIN inzwischen bei Pfahl acht mit Rafael Nymphenbach im Gespräch:

Wollen Sie denn auf dem Pfahl auch malen?

RAFAEL NYMPHENBACH: Ja und nein. Meine Teilnahme hier ist Teil eines Art-Projekts,

das ich initiiert und mit meinem Berliner Galeristen, Doktor Claussen-Schukowski, und mit Unterstützung der Nordrhein-Westfälischen Kunstförderung realisiert habe beziehungsweise realisieren werde. Es geht dabei um die Dialektik der Freiheit, des Einzelnen und des Ganzen im finalkapitalistischen Raum. Das Projekt ist trilogisch strukturiert. Sie stehen gegenwärtig vor part one: „wooden destiny“, als gerade stattfindender Bio-Installation, zu der ich den Pfahlsitzwettbewerb erklärt habe. Mit mir nimmt die Metaebene also selbst teil, der Künstler als sein eigenes Kunstwerk, als part of his mental body, das ist intentionskonstituierend: wer das Ganze beschreibt oder kritisiert, bleibt trotzdem ein Teil des Ganzen. Mit ihm beschreibt sich also immer auch das Ganze selbst, wenn Sie so wollen.

REPORTERIN nach kurzer Pause: Verstehe. Sie sitzen also durchaus in Ihrer Eigenschaft

als Künstler auf dem Pfahl?

RAFAEL: Nein, nein, das ist ja schon reichlich überinterpretiert. Gar keine Eigenschaft:

ich sitze hier ichlos. Als Variable des Einzelnen im Ganzen. Sie müssen das Arrangement sehen. Der bewußte Entscheidungsakt des Pfahlbesteigens ist eine Metapher der autokratischen und autokreativen Identitätssetzung unter dem scheinbar freien, jedenfalls leeren Himmel postmoderner Indeterminismusgläubigkeit. Andererseits drückt ja der Titel „wooden destiny“, zusammen mit dem Ausgeliefertseinscharakter des Auf-Einem-Pfahl-Sitzens kontrapunktisch dazu konzipiert, schon die eigentliche Heteronomie dieser symbolisierten Daseinssituation aus.

REPORTERIN: Das sehen unsere Leserinnen und Leser sicher genauso. Aber lassen Sie mich

noch einmal zu unserer Ausgangsfrage zurückkommen: wollen Sie denn auf dem Pfahl auch malen?

FLORIAN der bisher mißmutig seinem Nebenmann zugehört hat, wendet sich an den Clown:

Sag mal, sitzt du auch so schlecht? Ich mein immer, hier stimmt was mit dem Holz nicht...

Poldino erhebt sich und zieht ein großes, buntes Kissen unter sich hervor.

FLORIAN: Ach so, na dann sitzt du ja bequem. Ich wußte gar nicht, daß das erlaubt ist.

Poldino bedeutet ihm, daß es keineswegs erlaubt ist und nur er ein Kissen benutzen darf.

FLORIAN: Na prima. Für dich gibt’s also Sonderregeln. Und was ist, wenn du gewinnst?

Kriegst du dann auch das Geld?

Poldino zieht die Schublade unterhalb seiner Sitzfläche auf, die mit Spielgeld, bunten und zu großen 100-D-Mark-Scheinen u.a. gefüllt ist, greift hinein und bewirft Florian damit.

RAFAEL der inzwischen weitergesprochen hat: ... Es gibt Freiheit – aber unter welchen

Bedingungen? Kurz: zu welcher Synthese führt uns der Gegensatz zwischen der relativen Autonomie innerhalb des dezentralistischen Wertepluralismus im Sinne des „Anything goes!“ und der relativierender Heteronomie innerhalb des zentralistischen Interessenmonopolismus im Sinne des „It’s the economy, stupid“? Kürzer: das Selbstbestimmte ist fremdbestimmt.

REPORTERIN hat nicht zugehört: Ganz bestimmt. Aber lassen Sie mich vielleicht für unsere

Leserinnen und Leser noch einmal zu der einfachen Frage zurückkehren: wenn Sie denn auf dem Pfahl schon nicht malen wollen – wollen Sie Ihre Zeit vielleicht anderweitig künsterisch nutzen?

RAFAEL: Ja. Ich werde hier bereits am zweiten Teil meiner Trilogie arbeiten, der aus

Zeichnungen, Fotos und Gedichten bestehen wird. Ziel ist eine multidisziplinäre Introspektion einer solchen Pfahlsitzerexistenz im metaphorischen Sinne. Die gesamten Texte werden mit den Fotos und Zeichungen als Ausstellung exponiert, unter dem Titel part two: „how high is your Lowness?“ Zentral ist hier die Frage nach den Orientierungsweisen des kleinen Einzelnen im großen Ganzen, das heißt: wie sieht das Subjekt diese Relation? Wie schon der Werktitel impliziert, läßt sich dieses Problem auf das Spannungsfeld von Ego und Status reduzieren. Zweifellos existiert ja auch eine Wechselbeziehung zwischen der monströsen Superiorität des Ganzen und der Bedeutung von Status und Prestige als Rettungsboot eines im Meer der Globalisierungsmegalomanie verschwindenden Egos.

Während Rafaels Darlegung hat Wilko aus seinem Schubfach eine Hantel genommen und zu trainieren begonnen. Kordula ist inzwischen im Gespräch mit Klaus-Dieter.

KORDULA: ... Das Meer, die Sonne, die Natur und die Menschen vor allem. Das ist mein

Lebenselixier sozusagen. Ich bin ein Menschenfresser, sagt meine Freundin immer. Im Spaß natürlich. Aber Kontakt zu Menschen ist ja für jeden wichtig, denke ich. Da entwickelt man sich auch weiter. Man lernt ja von anderen. Aber man kann auch von der Natur lernen, glaube ich. Kontakt zur Natur ist mindestens genauso wichtig. Für die innere Harmonie. Das befreit einen innerlich, sozusagen. Man darf nicht wie ein Hamster mit Scheuklappen in seinem Alltagsrädchen laufen. Ich finde, man muß kreativ sein.

KLAUS DIETER: Das stimmt. Aber ein bißchen Zucht und Disziplin kann auch nicht

schaden.

RAFAEL noch immer im Referat: ... Deshalb heißt der dritte Teil des Projekts part three:

„the planet on which you run forward revolves around zero.“ – Wie finden Sie das? Ist leider nicht von mir, sondern von einem befreundeten Dramatiker.

REPORTERIN längst ohne jede Aufmerksamkeit: Ja, es gibt leider immer mehr Fanatiker.

Danke für das Gespräch. will gehen

RAFAEL: Moment bitte. Ich gebe Ihnen noch eine Projektbeschreibung mit –

glücklicherweise habe ich gerade eine griffbereit. Er zieht seine Pfahlschublade auf und gibt ihr ein kapitales Blätterkonvolut Das ist der Wortlaut des Förderungsantrags für die Nordrhein-Westfälische Kunstförderung. Übrigens ist part three interaktiv. Jeder ist Teil des Werks. Sie können also gern mitmachen. Es gibt eine Drive-In-Vernissage mit vegetarischem Essen. In den Ausstellungsräumen wird die größte solarbetriebene Modellachterbahn Europas vorgeführt, von mir handsigniert alle zwei Schienenmeter. Um Mitternacht wird dann das gesamte Projekt versteigert, einschließlich Pfahl, Zeichnungen, Fotos und Modellachterbahn. Und vom Gewinn kaufe ich mir einen Maserati.

REPORTERIN: Gute Fahrt. Auf Wiedersehen.

RAFAEL ruft ihr nach: Sagen Sie, Ihr Diktiergerät hatten Sie doch eingeschaltet, oder?

KLAUS-DIETER weiterhin im Gespräch mit Kordula: ... Ich kann mich noch gut an den

Tag erinnern, als mein Vater aus dem Krieg heimkam. Aus Rußland - zu Fuß, meine Liebe! Stalingrad, äußerer Ring, und dann Gefangenschaft. Ohne Daumen, den hatten ihm die Russen mit dem Gewehrkolben abgehauen – ich sage Ihnen, das waren keine Menschen, die Kommunisten! Da war ich neun Jahre alt. Und ich kann mich noch genau erinnern, wie er am Küchentisch saß: vor sich eine Tasse Kartoffelkaffee – den hat meine Mutter aus den Schalen aufgebrüht -, mit nacktem Oberkörper, ausgehungert und überall Striemen, Wunden und Brandmale. Seine Tätowierung hatten sie ihm weggebrannt. Da hat er sich noch geweigert – ich sag Ihnen, das war schon ein doller Haudrauf, mein Vater! -, deshalb haben sie ihm den Daumen abgeschlagen. Und ich kann mich noch genau erinnern, wie er mich auf dem Schoß hält und vor sich hinstarrt, während von gegenüber jeden Abend diese Negermusik kommt, und wie er mit Tränen in den Augen sagt: Jetzt ist alles aus...

KORDULA betroffen: Schrecklich...

REPORTERIN inzwischen im Gespräch mit Roland Maierle: Sie kommen aus Baden-

Württemberg?

ROLAND im adäquaten Idiom: Ja, sicher.

REPORTERIN: Achtunddrißig Jahre alt, von Beruf Elektromonteur-

ROLAND unterbricht: Nein, das ist falsch.

REPORTERIN: O Entschuldigung. Da stimmen wohl meine Informationen nicht ganz.

ROLAND: Ja, das ist klar.

REPORTERIN: Wie meinen Sie?

ROLAND: Ganz klar. Das war schon im letzten Jahr genauso. Da hat’s auch nie

gestimmt bei euch.

REPORTERIN: Entschuldigung nochmals. Sie sind also von Beruf was?

ROLAND: Wachmann.

REPORTERIN notiert: Also Wachmann.

ROLAND: Ja, bei der Bundeswehr gelernt.

REPORTERIN: Aha. Wohnen in Schneebronn und sind unverheiratet.

ROLAND schweigt.

REPORTERIN in deutlichem Fragetonfall: Wohnen in Schneebronn und sind unverheiratet?

ROLAND rasch und mißmutig, als wolle er das nicht nochmal hören: Ja.-

REPORTERIN nach kurzer Pause: Sie waren bereits vergangenes Jahr einer der Teilnehmer-

ROLAND unterbricht: Ja, aber da wollten sie hier keinen Schwaben als Weltmeister haben.

REPORTERIN wie oben: Wer, meinen Sie, wollte keinen Schwaben-

ROLAND wie oben: Ihr.

REPORTERIN: Wer wir?

ROLAND: Die Norddeutschen.

REPORTERIN wie oben: Sie sind damals ausgeschieden, weil-

ROLAND wie oben: Weil ich kein Norddeutscher war.

REPORTERIN: Aber der Weltmeister kam aus München.

ROLAND: München ist was anderes.

REPORTERIN: Inwiefern?

ROLAND: Der hatte Beziehungen.

REPORTERIN gibt es auf: Herr Maierle, welche Zielvorstellungen verbinden Sie denn mit

Ihrer diesjährigen Teilnahme?

ROLAND: Daß der Titel nach Schwaben kommt. Ich kämpfe für Baden-Württemberg. Und

diesmal gewinnen wir.

REPORTERIN: Vielen Dank.

Während dieses Gesprächs ist Kalle Bockfeld schwankend auf die Bühne zurückgekehrt und hat sehr mühsam wieder seinen Pfahl erklettert. Niemand scheint seine überlange Pause bemerkt zu haben. Poldino steigt sogar eigens von seinem Pfahl herunter, um Kalle auf seinen hinaufzuhelfen und ihm, als er sitzt, noch zwei Deutschlandfähnchen in die Hände zu drücken. Im folgenden ‚Gespräch‘ mit Kalle wird die Reporterin ausdauernd von Heiner, demjenigen Vereinsmitglied, das zuvor erbrochen hat, begrapscht. Der Fotograf versucht, ihn von seiner Kollegin fernzuhalten. Ein paar andere grinsen dazu. Kalle sieht übel aus, trinkt jedoch unermüdlich Bier und wedelt glücklich mit seinen Fähnchen.

REPORTERIN: Hallo, ich bin Inken Jägermann von der „Landeszeitung Lüneburger

Flachland“ –

DIE FUSSBALLER reagieren vegetativ auf den Namen ihrer Heimatregion und gröhlen:

Ole ole ole ole, wir sind vom Flachland, ole!

REPORTERIN kämpft sich mit ihrer Stimme durch den entstandenen Tumult: Herr

Bockfeld, Sie sind Metzger und wohnen in Fellingborstel-

DIE FUSSBALLER Reaktion wie oben, skandieren: F-C-Fel-ling-bors-tel-macht-euch-platt!

REPORTERIN wie oben: Sie sind der jüngste Anwärter auf den Titel. Welche Hoffnungen

machen Sie sich? Kalle antwortet nicht. Herr Fellingborstel-

DIE FUSSBALLER stimmen bei diesem Versprecher aufs neue ein: F-C-Fel-ling-bors-tel-

macht-euch-platt! Hipp hipp – hau rein!

REPORTERIN: Herr Bockfeld! Hören Sie mich?

1. FUSSBALLER: Kalle, hau rein!

3. FUSSBALLER: Gib’s ihr, Kalle!

REPORTERIN nervös: Sie müssen kein Statement abgeben, wenn Sie nicht wollen...

KALLE lallend: Und ob...will ich...

Stille tritt ein.

4. FUSSBALLER: Los, Kalle!

KALLE wie oben: Ich...äh...Wir...Fellingborseler...gewinnen.

Jubel und erneutes Skandieren. Reporterin und Fotograf schnell ab. Heiner will hinterher, wird aber von einem Vereinskameraden zurückgehalten. Ihnen entgegen kommt eine knapp dreißigjährige Frau im Alternativlook, mit deutlich demonstrierten linksradikalen Neigungen (z.B. aufgenähter roter Stern o.ä.). Es ist Tine Wampenhäger-Rosenzweig, die Mutter von Amos Che. Sie beäugt ohne jeden Solidaritätsanflug die Pfahlsitzer, bis sie Klaus-Dieter entdeckt hat und zu ihm hintritt.

KLAUS-DIETER verlegen: Ach, guten Tag, Tine.

TINE WAMPENHÄGER-ROSENZWEIG: Wo ist Amos Che?

KLAUS-DIETER: Ach, er mußte mal... Er... muß gleich kommen.

TINE: Okay. Ich warte.

KLAUS-DIETER: Ja, gern... Tu das... Pause Na? Wie geht’s dir so?

TINE ihn musternd: Wenn ich dich hier so hocken sehe, bin ich noch regelrecht dankbar.

Pause.

KLAUS-DIETER: Hast du dir den Park angesehen?

TINE: Nein.

KLAUS-DIETER: Aber du mußtest doch durchgehen.

TINE: Eben.

KLAUS-DIETER: Toll, was? Was die heute so alles hinkriegen.

TINE: Ja. Riesenhamsterrad. Und die Hamster bezahlen auch noch.

KLAUS-DIETER: Sei doch nicht immer so pessimistisch. Ist doch schön, wenn es den

Leuten Freude macht. Was kann schon daran schlecht sein?

TINE: Es gibt auch Leute, denen hat das Vergasen Freude gemacht.

KLAUS-DIETER mit künstlicher Empörung: Na komm. Jetzt hör aber auf! Du weißt, daß

ich damit keinen Spaß verstehe.

TINE spöttisch: Das weiß ich...

KLAUS-DIETER: Überhaupt so einen Vergleich anzustellen! Wo bleibt denn da die

Moral? Wo heute doch überall Freiheit herrscht!

TINE: Vor allem „herrscht“.

KLAUS-DIETER aus Unachtsamkeit in mißbilligendem Ton: Freiheit, Freiheit über alles!

Das ist doch euer Motto heute. Keiner will noch irgendwelche Pflichten übernehmen. beherrscht sich, wieder demokratisch Und das ist ja auch gar nicht schlecht, diese Freiheit. Im Gegenteil.

TINE nur aus Reflex diskutierend, ohne Überzeugungsehrgeiz: Die Freiheit zu wählen

zwischen Achterbahn, Bob-Bahn und Looping-Bahn. Und die Freiheit zu zahlen. Pause. Che bleibt aber lange weg. Pause. Wo sind denn hier die Toiletten.

KLAUS-DIETER: Das ist schon ein kleines Stück... Vielleicht... Weißt du, ihm war hier

ein bißchen langweilig...Vielleicht ist er schon vorgegangen... zum Eingang womöglich...

TINE mißtrauisch: Haste ihn wieder zugequatscht? Pause. Am Eingang ist er nicht, da

hätte ich ihn ja gesehen. Den kann er auch gar nicht allein finden von hier.

KLAUS-DIETER: Tja...

TINE: Hast du ihm denn nicht gesagt, daß er sofort hierher zurückkommen soll?

KLAUS-DIETER: Sicher, sicher!-

Pause.

TINE: Hoffentlich hat er sich nicht verlaufen... Ich geh ihn mal suchen. Im Abgehen: Und

dir viel Spaß auf deiner Hühnerleiter. Ab.

KLAUS-DIETER leis und gehässig: Judendirne!

Lange Pause. Es beginnt zu dämmern. Die Pfahlsitzer verhalten sich ruhig: Wilko hört auf zu hanteln, Kordula unterhält sich nicht, die Fußballer gehen ab – mit Ausnahme von Heiner, der am Fuß des Pfahls eingeschlafen und nicht aufzuwecken ist. Rafael schreibt oder zeichnet auf einen Notizblock, bis es zu dunkel wird. Poldino steigt vom Pfahl, zieht sein Clownskostüm aus - Perücke, Überschuhe, Obelixhose usw. – und entpuppt sich als Skinhead in voller Identitätsmontur, mit Glatze, Springerstiefeln und Reichsadler-Shirt o.ä. Er nimmt einen Baseballschläger hinterm Pfahl hervor und geht ab.

FLORIAN zu Rafael: Sag mal, ist mit deinem Holz alles in Ordnung?

RAFAEL sieht vom Schreiben auf: Was bitte?

FLORIAN: Dein Holz. Dein Pfahl. Ist der nicht zu hart?

RAFAEL: Ich bin Künstler und habe bis vor zwei Jahren regelmäßig mit Holz und sogar

noch härteren Werkstoffen gearbeitet.

FLORIAN: Aber wohl nicht darauf gesessen, oder?

RAFAEL: Sogar darauf geschlafen. Und zwar auf Alabaster, eine ganze Ausstellung lang.

FLORIAN: Aha.

RAFAEL: Ja. Das Werk hieß „emotion of an avaricious heart“. Und ich war nackt. Nackt auf

Alabaster.

Pause.

FLORIAN: Also mit meinem Pfahl stimmt was nicht.

Wieder lange Pause. Das Geschrei und Geratter der Achterbahn verstummt, dann auch die Leierkastenmusik. Der Leierkastenmann überquert kurz darauf die Bühne, sehr langsam: es ist ein Greis mit Stock in Flachland-Park-Uniform. Die anschließende Stille wird gebrochen von den näherkommenden Putzfrauen; man hört sie schon hinter der Szene sprechen. Sie sind zu dritt und tragen Putzkittel und –gerät.

1.PUTZFRAU: Ich komm also den Weg von der Haltestelle her und denk schon von weitem:

wer hat denn da wieder unsern Bürgersteig verparkt. Seit der Sohn von den Nachbarn jetzt auch noch so einen Geländekasten hat, ist bei uns oben in der Straße gar nix mehr mit Parken. Und da steht dann noch auf einmal so ein silberner Leichenwagen vor der Tür.

2.PUTZFRAU: Ein Leichenwagen?

1.PUTZFRAU: Na so lang und eckig. Mercedes war’s. Natürlich. Ich komm also und denk:

er ist sowieso noch nicht da, also was sich aufregen. Bis der heimkommt, ist das Ding weg, da ist ja immer Mitternacht rum, aber das ist wieder ein andres Elend. Also ich mach die Tür auf – sitzt er da. Ich sag: wo hasten geparkt. Er: draußen. Ich sag: aufm Dach oder wo? Er: nee, vor der Tür. Der silberne. Heute gekauft. Gekauft, sagt er! Ich frag: und wovon? Ratenzahlung, sagt er...

Sie gehen vorüber. Stille. Während des Folgenden steigt Kalle sehr unsicher vom Pfahl und schwankt nach rechts ab.

FLORIAN: Hallo? Stille. Hallo?

KORDULA: Was gibt’s?

FLORIAN: Ich... Also, ich weiß nicht, wie das bei euch ist, aber... Sitzt ihr alle gut?

KORDULA: Ich sitz gut.

WILKO: Ganz normal.

RAFAEL: Wie im Atelier.

Pause.

FLORIAN: Ich auch.

Pause. Florian fängt an zu pfeifen. Hört auf. Stille.

FLORIAN: Also, ich hab nicht gedacht, daß es so gut laufen würde. Pause. Und ihr?

KORDULA: Doch, ich schon.

WILKO: Ich eigentlich auch.

RAFAEL: Ohne Zweifel.

Pause.

FLORIAN: Also, klar, ich meine, schon gut, aber daß es so gut laufen würde... ändert

die Taktik: Findet ihr nicht auch, daß trotzdem die Organisation hier ziemlich mittelmäßig ist? Stille. Also, ich meine die Betreuung zum Beispiel... oder?

KORDULA: Ab morgen früh gibt’s Essen auf die Pfähle.

WILKO: Dreimal täglich.

ROLAND: Gratis!

KORDULA: Außerdem Telefon.

Florians Pfahltelefon klingelt. Er hebt ab.

FLORIAN: Ja?... ach, hallo Mama... gut, also... nein, nicht zu kalt... nein, zu warm

auch nicht... och... eigentlich bequem... ja... ich meine, nur die Betreuung ist halt sehr schlecht... ja, die Organisation... mhm... klappt hinten und vorne nicht hier... doch, doch! Ich meine die Verwaltung und die, mit mir ist alles klar, bin in Topform... nein, überhaupt nicht müde... nein, nein... aber eben die Versorgung, weißt du... tja, dadurch wird’s wohl doppelt schwer werden... ja... eben... na ja... zur Not... ja... Dann kann man halt auch nichts machen... immer noch besser als Verhungern... klar... hast ja recht... ja, stimmt schon... gut... mach ich... schön...also dann... ja, danke...tschüß.

Er hängt ein. Stille. Von links torkelt Kalle wieder auf die Bühne; er ist offenbar nicht mehr orientierungsfähig und geht zum leerstehenden Pfahl 2, den er kompliziert und fluchend erklimmt. Es ist mittlerweile so dunkel geworden, daß man ihn nur noch als Umriß erkennt. Sowie er auf dem Pfahl sitzt: vollständige Dunkelheit und im nächsten Moment ein dumpfer Aufprall auf die Strohmatten. Stille und Pause. Das Licht geht wieder an. Zweiter Tag. Kalle liegt verrenkt auf der Matte. Zwei Betreuer kommen auf die Bühne und tragen ihn weg. Pfahl 7 ist nun ebenfalls unbesetzt; Florian Gernhardt ist in der Nacht davongeschlichen. Die übrigen fünf Pfahlsitzer frühstücken gerade. Klaus-Dieter und Rafael sehen übernächtigt und entmutigt aus; beide essen lustlos und langsam. Die anderen drei scheinen wohlauf; Roland schlingt sein Essen gierig hinunter. Der Leierkastenmann überquert wieder, diesmal in der anderen Richtung, die Bühne. Kurz darauf Leierkastenmusik und etwas später die Achterbahngeräusche. Heiner, der die Nacht vor Pfahl 10 verbracht hat, in die große Deutschandfahne gehüllt, erwacht und geht zerschlagen ab.

KORDULA essend und munter, an alle: Na ihr, gut geschlafen?

WILKO: Geht so.

KLAUS-DIETER: Miserabel. Und keine Minute. Mein Rücken hat mich gequält. Mein

Rheuma, wissen Sie, die Bandscheiben. Miserabel. macht ein Leidensgesicht.

KORDULA mitleidend: O das tut mir leid. Sie haben Rheuma?

KLAUS-DIETER: Seit Jahrzehnten schon. Wissen Sie, die Arbeit im Amt, das viele Sitzen,

dann Aufstehen, Aktenheben, Wiederhinsetzen. Tag für Tag. Und dann noch die Gartenarbeit. Ich bin immer schon ein Arbeitstier gewesen. Tja, und dann bekommt man natürlich irgendwann die Rechnung...

KORDULA: Schrecklich, ja...

KLAUS-DIETER: Und wissen Sie, meine Gesundheit ist mir sehr wichtig. Das habe ich im

Laufe der Jahre gelernt. Man darf sich nicht so kaputtmachen. Leistung – ja, sicher. Aber die Gesundheit geht vor. ...

Roland hat sein Frühstück als Erster beendet und beginnt sofort danach, Akten zu ordnen, die er aus seinem Schubfach nimmt; was er übrigens durch das ganze Drama hindurch immer wieder und mit großer Leidenschaft tut; man sollte den Eindruck haben, daß Ordnen die einzige Tätigkeit ist, die er mit Leidenschaft verfolgt. Wilko nimmt nach seinem Frühstück einen Expander hervor und trainiert wieder. Rafael hat mit Essen aufgehört.

ROLAND spricht mit sich selbst: Ordnung muß sein.

RAFAEL sieht ihn an, fühlt sich zu einer Reaktion verpflichtet: Sie ordnen wohl Akten, wie?

ROLAND ohne innezuhalten oder ihn anzusehen: Ja, sicher.

Rafael seufzt. Pause.

ROLAND wieder zu sich selbst: Die Zeit nutzen.

RAFAEL wie oben: Die Zeit läßt sich nicht nutzen.

Roland sieht ihn an.

RAFAEL: Die Zeit zersetzt den Nutzen.

Roland hört auf zu ordnen.

RAFAEL: Nutzen ist eine Buchhalterillusion. Ein pantoffelweicher Traum, geboren aus den

Neurosen der Bürgerlichkeit. Der Planet, auf dem wir Akten ordnen, kreist im Chaos.

Pause. Roland wendet sich ab und macht weiter.

ROLAND zu sich selbst, aber lauter: Ordnung muß sein!

Rafael gibt ihn auf, nimmt seinen Notizblock hervor und schreibt wieder.

KLAUS-DIETER der währenddessen zu Kordula weitergesprochen hat: ... Und ich finde,

das ist immerhin auch eine Leistung, meinen Sie nicht? Gerade weil die Zeiten ja nicht gerade einfach waren. Erst der verlorene Krieg, dann eine Gallenblasenentzündung, und in den Siebzigern hat sich meine Frau beim Frühjahrsputz das Schulterblatt gebrochen.

KORDULA automatisch: Wie schrecklich...

KLAUS-DIETER: Ja, sehen Sie. So kämpft man sich durch. Von einer Katastrophe zur

nächsten. Und dann noch der Unfall mit der Katze meiner Tochter. Die übrigens geistig ziemlich darunter gelitten hat. Sowohl die Katze wie auch meine Tochter. Na ja. Aber wissen Sie, ich finde doch, so ein leidvolles und arbeitsreiches Leben zu meistern und es dabei immerhin fast zum Finanzobersekretär gebracht zu haben, das ist doch schon allerhand, und ich sage Ihnen ohne Scheu: darauf bin ich sogar ein bißchen stolz. Kordula schweigt. Finden Sie nicht auch, daß ich darauf ein kleines bißchen stolz sein kann?

KORDULA hat nicht recht zugehört: Ja. Doch. Finde ich auch.

KLAUS-DIETER befriedigt: Na, sehen Sie. Das denke ich auch.

Pause. Kordula nimmt ein Buch aus ihrer Schublade und beginnt zu lesen. Klaus-Dieter macht plötzlich ein schmerzverzerrtes Gesicht. Als er sieht, daß Kordula es nicht bemerkt, stöhnt er dazu, erst leise, dann lauter. Schließlich ein Schmerzensschrei.

KORDULA besorgt: Um Gottes willen, stimmt was nicht? Sind Sie nicht in Ordnung?

KLAUS-DIETER leidend: Doch, doch. Geht schon. Verzeihung. Pause. Sie liest

weiter. Die Bandscheiben, wissen Sie. Bandscheibenrückfall. Vom langen Sitzen.

Pause. Kordula liest wieder. Klaus-Dieter macht wieder ein Schmerzensgesicht, stöhnt etc., wie oben. Als sie erneut aufsieht: Also, machen Sie’s gut. Ich wünsche Ihnen viel Glück, mein Kind. Und halten Sie durch, das ist das Wichtigste. Immer weitermachen. Ich habe mich auch mein Leben lang niemals von meinem Weg abbringen lassen. Nur wenn ich wußte, daß er falsch war. Aber das ist bisher noch nicht vorgekommen. Ich war immer schon der Meinung, die Gesundheit geht vor, wissen Sie. Also, mein Kind, überanstrengen Sie sich nicht. Wenn’s nicht mehr geht, sollten Sie’s nicht erzwingen wollen. Steigen Sie einfach ab. Sie vergeben sich nichts. Verlierer sind immer diejenigen, die unbedingt gewinnen wollen. Er beginnt, mit Schmerzensmiene herabzusteigen. Das sind innerlich ganz arme Würstchen. Glauben Sie mir. Ich weiß es. Er ist unten angelangt. Ein Betreuer kommt. Also auf Wiedersehen, junge Frau.

KORDULA die längst wieder ins Buch sieht: Ja, auf Wiedersehen. Sie haben recht.

Auf Wiedersehen.

BETREUER zu Klaus-Dieter: Wollen Sie zum WC?

KLAUS-DIETER: Nein, nein, junger Mann. Ich steige endgültig ab. Das reicht vorerst. Ich

bin zu alt für diese Albereien.

Der Betreuer stützt Klaus-Dieter, der sich bemüht, wie ein schwerrheumatischer Greis daherzutapsen. So gehen sie langsam ab.

KLAUS-DIETER zum Betreuer, der letzte Satz hinter der Szene: Wissen Sie, ich blicke auf

ein erfülltes Leben zurück. Ich bin mit meiner Leistung immerhin zufrieden. Ja, ich bin sogar ein wenig stolz. Finden Sie nicht auch, daß ich ein klein wenig stolz sein darf?

Rafael hat inzwischen die „Kunstzeitung“ hervorgenommen und liest darin. Wilko hat aufgehört zu trainieren und langweilt sich.

WILKO: Krieg ich die nachher mal?

Rafael liest weiter.

WILKO: Hallo?... Tschuldigung... Du mit der Zeitung... Krieg ich die nachher, wenn du fertig

bist?

RAFAEL: Ist Ihnen das Holz zu hart?

WILKO: Nein, wieso? Ich will sie ja lesen und nicht drauf sitzen.

RAFAEL hält ihm das Titelblatt hin: Das ist die „Kunstzeitung“. „BILD“ habe ich leider

nicht da.

WILKO: Ach, so... Schade.

Pause.

RAFAEL: Ich bin Künstler, wissen Sie.

WILKO: Aha. Maler.

RAFAEL: Ja und Nein. Vor allem Bioinstallationen. Beziehungsweise Humaninstallationen.

WILKO: Aha.

Pause.

RAFAEL legt die Zeitung weg: Übrigens, Sie gehören dazu. So, wie Sie dahocken, sind Sie

Teil eines Werkes. Verstehen Sie?

WILKO nach Pause: Nein.

RAFAEL zu Roland: Und Sie auch, Herr Aktenordner. Sie sind gewissermaßen selbst eine

Akte. Ein Baustein im Installationsgefüge. Kordula hört zu lesen auf; alle drei sehen ihn an; zu Kordula Und Sie natürlich genauso. Funktionale Humanpartikel. Alle drei. Objekte des wooden destiny. Euer Sitzen ist kein Sitzen: sondern Gesetztwordensein.

Pause. Er wartet auf Reaktion.

WILKO zu Roland: Bestimmt Zeuge Jehovas.

ROLAND: Oder drogensüchtig.

KORDULA: Jedenfalls was Politisches.

RAFAEL: Ich bin Künstler. Das Politische interessiert mich nur als Material. Als Werkstoff.

Das war bei Brecht nicht anders. Und Beuys. Und Faßbinder. Als Werkstoff für Bio-Installationen. Als soziale Plastik.

Pause.

KORDULA: Ich interessiere mich auch für Kunst. Ich war schon mal in Paris.

RAFEL: Wissen Sie, wofür ich mich gar nicht interessiere? Für Menschen. - Für

Darstellungen von Menschen - das schon! Oder für Ideen von Menschen. Für die Sphären der Menschen. Aber für die Leben von Menschen? Nicht im geringsten. Da geht es mir wie Lenin. Kurze Pause. Er seufzt. Der Einzelne ist eine todlangweilige Geschichte ohne Stil, Ironie und Pointe. Sie beginnt immer gleich und endet immer gleich, und die Möglichkeiten dazwischen haben sich seit dem Paläolithikum nicht wesentlich erweitert. – Ich meine den Einzelnen nicht als Begriff, der ist in humanen Gedankenspielen eine lobenswerte Größe. – Sondern als Einzel-Fall und Konkretum: der essende, arbeitende und liebende Einzeller. Der Nachbar. Der Pfahlsitzer. Unergiebig bis zum Verzweifeln!

WILKO: Aber Sie sitzen doch selber hier.

RAFAEL während er absteigt: Ich will mich ja auch gar nicht ausnehmen. Ich bin

nicht von dem Drang besessen, eine Ausnahme sein zu wollen. Ganz und gar nicht. Im übrigen ist man sowieso desto mehr eine Ausnahme, wenn man keine sein will. Jeder will sich ja ausnehmen. Da gibt es ganze Ausnahme-Ideologien: Individualimus und Kollektivismus, Nationalismus und Anti-Nationalismus, Moralismus und Immoralismus, Fundamentalismus und Terrorismus, Neoliberalismus und Sozialismus - gewissermaßen ist jede platte Weltanschauung eine Ego-Strategie: schließlich ist man immer auf der richtigen Seite. – Und die meisten anderen lebenslangen und kurzatmigen Bemühungen fallen in dieselbe Schublade. – Entweder es macht sich einer vom kleinen zum großen Einzelnen, oder er verschwindet unter so Vielen, daß sie gemeinsam groß sind. Die Lust, größer als klein zu sein, ist universal. Der eine glaubt, er schafft sich selbst zur Welt, der andere glaubt, er findet eine, für die er geschaffen ist. Jeder will Welt sein und keiner allein der Welt gegenüberstehen. Das ist verständlich. Das ist unmöglich.

Pause.

KORDULA: Das ist traurig.

RAFEAL: Nehmen Sie das nicht so ernst. Ich bin schließlich Künstler. Ein Freund von mir,

ein Stückeschreiber, sagt in solchen Fällen: Wenn du ernst sein willst, erschieß dich – hier sind wir im Theater!- Er verbeugt sich vor dem Publikum und geht schwungvoll ab.


Vorhang.



Die Pfahlsitzer - Zweiter Akt


Bühnenbild wie im ersten Akt. Allerdings sind die Pfähle ein Stück weiter nach vorn gerückt – was übrigens auch jeweils für die beiden letzten Akte gilt, so daß sie im vierten Akt am weitesten vorne stehen.



ERSTE SZENE


Regen. Die Pfahlsitzer sind in Planen gehüllt; die Umstehenden tragen Schirme oder Capes. In der Bühnenmitte steht wieder der Parkschreier und spricht zum Publikum. Links das Betreuerteam vor der Hütte. Rechts eine Traube Flachland-Park-Besucher, darunter ein japanisches Ehepaar, und Poldino, der den Japanern immer wieder mit einer Art Pappeprügel, wie sie im Puppenspiel das Kasperle hat, auf die Köpfe klopft. Natürlich mit so lustiger Miene, daß die Japaner darüber lachen müssen.


PARKSCHREIER: Liebe Gäste! Ganz gewiß spechen wir in Ihrem Sinne, wenn wir

bekanntgeben, wie sehr wir es bedauern, daß sich das Feld unserer Pfahlsitzer schon so schnell geleert hat. Gestern ist bereits der siebte Teilnehmer ausgeschieden, und viele Freunde des Pfahlsitzsports scheinen zu befürchten, daß wir in dieser Saison den kürzesten Wettkampf seit Bestehen das Flachland-Parks bekommen. Wir glauben aber, daß wir Ihnen noch durchaus das Gegenteil beweisen können! - Gerade erst habe ich mir unsere drei übriggebliebenen Wettkämpfer einmal genau angesehen, und ich muß gestehen, ich war beeindruckt: von der Kraft, der Geschmeidigkeit und dem Siegeswillen, der in diese drei Gesichter geradezu eingemeißelt ist! Wir vom Flachland-Park, und auch ich ganz persönlich, sind optimistisch und fest überzeugt, daß wir noch einen rentablen –Verzeihung: veritablen Weltmeisterschaftskampf erleben dürfen. Und das heißt, wie Sie wissen, nicht nur faszinierender Sport, fulminante Athletik und nervenzerreißende Spannung, sondern auch attraktive Mega-Attraktionen hier bei uns im „Holland-Viertel“ – und zwar sowohl für die Wettkämpfer als auch die Gäste. Hören Sie also unser Sommer-Sonder-Programm und lassen Sie sich die Namen hochkarätiger Prominenter auf der Zunge zergehen! Ja, Sie haben richtig gehört, Ihrem Flachland-Park ist es gelungen, eine ganze Riege populärer Stars aus dem In- und Ausland zu verpflichten, die sich – im Vertrauen – wohl auch nicht die Gelegenheit entgehen lassen wollten, sich im Licht einer so originellen Veranstaltung zu sonnen. Um nur einige Highlights zu nennen: liest ab am 15. April wird an dieser Stelle stehen und eine Autogrammstunde geben der Torschützenkönig der Bundesliga Vladimir Barbaros vom Hamburger Sportverein. Begleiten wird ihn niemand Geringerer als das schönste weibliche Wesen unseres Landes, nämlich die amtierende Miss Deutschland Nancy Nietzsche aus Erfurt. Zu den Pfahlsitzern: Also, wenn das mal kein Grund ist, noch zwei Wochen hier durchzuhalten! lacht künstlich, wieder zum Publikum: Doch damit längst nicht genug: das hochrangige Schweizer Künstlerduo Gebrüder Muetz wird vom 1.Mai bis zum 1.Juni hier zur Erinnerung an die Deutsche Einheit sein Mauerdenkmal präsentieren. Original Berliner Mauer also bei uns im Flachland-Park - bemalt mit Motiven zur Integration aller Deutschen vom 9.November 1989 bis heute. Und last and least, sic! liebe Gäste, haben sich für den 10.Mai musikalische Gäste bei uns angemeldet: die Jugendblaskapelle Helmstadt wollte es sich nicht nehmen lassen, der größten Holzachterbahn der Welt ein paar musikalische Grüße zu überbringen. ganz schlecht schauspielernd: Die größte Holzachterbahn der Welt? Wie bitte? – Ja, haben Sie denn das nicht gewußt? Sie haben ganz richtig gehört: ein wahres Weltwunder der Vergnügungsarchitektur, und das gleich nebenan in Ihrem Flachland-Park! Sage und schreibe 3.000 Kubikmeter heimisches Kiefernholz, mehr als genug für über 700 Dachstühle, 3.800 Kubikmeter Beton, 750.000 Nägel, 125.000 Kilogramm Stahlteile...

Dunkel.



ZWEITE SZENE


15. Wettkampftag. Die Pfahlsitzer ohne Regenplanen. Wilko mit Bart. Einige Besucher stehen umher. Roland ordnet Akten.


ÄLTERE BESUCHERIN zu Wilko: Und machen Sie das denn hauptberuflich... das

Pfahlsitzen?

WILKO: Nee, nee. Nur so. Ich bin Maurer.

ÄLTERE BESUCHERIN: Mein Mann ist Maurerpolier.

Pause.

ÄLTERE BESUCHERIN: Und haben Sie da jetzt Urlaub, so lang Sie wollen?

WILKO: Ich bin momentan arbeitslos.

ÄLTERE BESUCHERIN mustert ihn: Aha. Na dann. Sie Glücklicher. Sie entfernt sich. JÜNGERER BESUCHER zu Kordula: Nett hier. Ehrlich. Ich bin ja ein Wettkampffan.

Früher hab ich auch sowas gemacht. Halt noch ein paar Nummern härter. Triathlon. Ich war sogar ganz gut. Hawai und so. Aber nett hier. Nicht zu langweilig?

KORDULA: Gar nicht. Ich lese viel, höre Musik. Und dann bekommen wir auch schon eine

ganze Menge Post.

JÜNGERER BESUCHER lacht: Fanpost, wie?

KORDULA: Ja. Und Autogrammwünsche gibt’s auch schon.

JÜNGERER BESUCHER: Ja, klar, das kenn ich.

Von rechts erscheinen mit Begleitern und Flachland-Park-Mitarbeitern Vladimir Barbaros und Nancy Nietzsche, ersterer in seinem Bundesliga-Trikot, letztere mit Miss-Deutschland-Schärpe. Außerdem Poldino, wieder mit seinem Kasperleprügel. Die Besucher – mit Ausnahme des Jüngeren Besuchers – umringen sie. Die aus dem vorigen Akt bekannten Mitglieder des 1.FC Fellingborstel folgen dem Torschützenkönig mit HSV- und Deutschland-Fahnen. Als Vladimir stehenbleibt und anfängt Autogramme zu schreiben, drängen sie sich zu ihm.

1. FUSSBALLER: Wir sind Fellingborsteler HSV-Fans.

2. FUSSBALLER: Unser Vereinskumpel Kalle hat auch hier auf so nem Pfahl gehockt.

3. FUSSBALLER: Der spielt Rechtsaußen bei uns.

4. FUSSBALLER: Würden Sie uns die Fahne signieren? hält ihm eine Fahne hin

VLADIMIR BARBAROS russischer Akzent: Kein Problem. Kyrillisch oder... lateinisch?

Die Fußballer sehen einander an.

1. FUSSBALLER: Äh... Am liebsten Deutsch...

Poldino schlägt Vladimir mit seinem Pappprügel auf den Kopf. Der dreht sich wütend um, grinst aber, als er den Clown sieht.

NANCY NIETZSCHE vor Kordulas Pfahl:

gleichzeitig: Würden Sie mir bitte ein

KORDULA: Autogramm geben?

Dunkel.



DRITTE SZENE


40. Wettkampftag. Die sieben unbesetzten Pfähle sind spätestens jetzt entfernt. An ihrer Stelle die Wanderausstellung der Gebrüder Muetz: drei Mauertrümmer und ein Trabant. Letzterer ist bemalt mit Motiven aus der Geschichte der Mauer von 1961-89 (rätselhafterweise nicht mit Motiven zur ‚Integration aller Deutschen von 1989 bis heute‘, wie vom Parkschreier angekündigt). Dazwischen zwei Männer um die Dreißig, Urs Muetz und Max Muetz, im Gespräch mit Besuchern. Über ihnen ein Transparent mit dem Ausstellungstitel: „TRIUMPH DER FREIHEIT“. Vor den Pfählen einige Schaulustige. Kordula schreibt gerade Autogramme, übrigens fast nur für weibliche Fans. Wilko liest eine Regionalzeitung. Roland eine Akte. Aus einiger Entfernung hört man die Blasmusik der Jugendkapelle Helmstadt, die sich allmählich nähert und bis zum Ende der Szene immer lauter wird.


WILKO liest aus der Zeitung vor: „... Mittlerweile ist das ‚Holland-Viertel‘, in dem derzeit

die 5. Weltmeisterschaft im Pfahlsitzen ausgetragen wird, wieder zu dem großen Kommunikationspunkt im Flachland-Park geworden. Seit fast vierzig Tagen harren die verbliebenen drei Teilnehmer nun schon aus und ziehen Hunderte von Neugierigen an. Laut Park-Sprecher Rolf Metzger locken diesen Sommer daneben zahlreiche Veranstaltungen und prominente Gäste. Gerade wegen des schlechten Wetters in dieser Saison, so Metzger, könne der Park von der Aufmerksamkeit profitieren, die der kuriose Sport erregt.“

KORDULA ein Autogramm gebend: Hört sich gut an.

WILKO: Meinolf hat gesagt, in der „Märkischen Allgemeinen“ steht wieder extra was über

mich. Er blättert sie durch.

KORDULA: Ich hab heute zwölf Briefe bekommen.

BESUCHERIN für die Kordula gerade das Autogramm geschrieben hat: Schreiben Sie doch

bitte dazu: „Dem lieben Dietmar zum fünften Hochzeitstag.“

KORDULA: Äh...ja. zu Wilko Eine hat auf dem Umschlag Pfahl neun statt drei geschrieben,

und trotzdem ist es angekommen.

WILKO: Und du, Roland?

ROLAND liest die Akte: Was?

WILKO: Wieviel Post kriegst du so?

KORDULA: Aus Schwaben kommt nix. Denen ist das Porto zu teuer.

BESUCHERIN: Nein: Dietmar, nicht Dieter!

KORDULA: Ach so. Entschuldigung.

ROLAND: Ich bekomme jeden Tag dutzendweise Emails. Wer schreibt denn heutzutag noch

per Post? Bei uns in Baden-Württemberg höchstens ein paar Zugereiste.

WILKO fündig: Ah, hier steht’s: „Brandenburg auf dem Weg zum Weltrekord.“

BESUCHERIN zu den anderen: Würden Sie bitte auch unterschreiben?

WILKO ins Lesen vertieft: Moment...

ROLAND klappt sofort die Akte zu: Wenn Sie meinen...

EIN ÄLTERER HERR zu Urs Muetz: Entschuldigen Sie, ich habe gehört, hier soll

momentan eine bedeutende Ausstellung stattfinden. Können Sie mir sagen, wo genau das ist?

URS MUETZ schweizerdeutscher Akzent: Ja, Sie stehen schon mittendrin. Guten Tag. Er

gibt dem Herrn die Hand.

DER ÄLTERE HERR: Ach, das ist ja originell. Wissen Sie, ich bin selbst im Kunstbetrieb

tätig.

URS MUETZ: Was Sie nicht sagen. Und hier oben, sehen Sie, „Triumph der Freiheit“, so

heißt die Ausstellung.

DER ÄLTERE HERR: Ach, das ist ja tiefsinnig. Wissen Sie, ich bin über einen guten Freund,

den bekannten Berliner Galeristen Doktor Claussen-Schukowski, gewissermaßen selbst an der Ausstellung beteiligt. Wilhelm von Knoop übrigens mein Name. Guten Tag. Sie geben sich wieder die Hand. Ich bin Mitglied im Stiftungsrat der Nordrhein-Westfälischen Kunstförderung. Irgendwo habe ich doch noch den Förderungsantrag, das war so eine kreative Projektbeschreibung... Moment mal... Er sucht in seiner Aktenmappe.

URS MUETZ: Da weiß ich jetzt gar nicht...an wen genau mein Bruder unsere Anträge

geschickt hat... Also, soweit ich weiß, ist da hauptsächlich der Eidgenössische Kulturfonds unser Partner... Andererseits...

WILHELM VON KNOOP zieht den kapitalen Antrag heraus: Aha. Hier hab ich es.

Augenblick... blättert, liest Trilogie... part one: ‚wooden destiny‘... aha, aha... Bioinstallation im Flachland-Park... Pfahlsitzer als Metapher pseudoautokreativer Identität im Kontext der Archiökonomisierung...- Ach, das ist ja originell. Gut, daß wir das gefördert haben...

URS MUETZ im Irrtum, einen Antrag seines Bruders rechtfertigen zu müssen: Ja, wir sehen

die Mauer freilich nur als Metapher...

WILHELM VON KNOOP liest: ... subjekt-objekt-dialektische Formel der fremdbestimmten

Selbstbestimmung... - Sehr gut, sehr gut...

URS MUETZ: Ja... die friedliche Revolution damals, diese Selbstbestimmung des Volkes war

ja gewissermaßen nur möglich... durch eine fremdbestimmte historische Situation...

EIN ANDERER BESUCHER zu Max Muetz: Gehören Sie hier dazu, ja?

MAX MUETZ: Ja, mein Bruder und ich, wir sind die Aussteller. Muetz, Max. Er gibt ihm

die Hand.

BESUCHER: Sind Sie von der PDS oder sonstwas Linkes?

MAX MUETZ: Bitte? Nein, wir sind aus der Schweiz.

BESUCHER: Ach so. Da muß man ja keine Angst haben, daß Sie die Mauer wieder aufbauen

wollen, was? lacht

MAX MUETZ: Sicher nicht. Wir sind Demokraten.

BESUCHER: Eben. Und Deutsche ja auch, mehr oder weniger...

WILHELM VON KNOOP liest: ... So wird auch die monströse Dynamik des

Fortschrittsfundamentalismus und der Maximierungs-... ähm... Maximierungsmegalomanie... - mein lieber Schwan, toll formuliert! – letztlich demaskierbar als obstinate Statik und Intransigenz gesellschaftlicher und politischer Gruppen...

URS MUETZ überfordert: Ja, da... also... Gewissermaßen ist ja der Fortschritt zur Deutschen

Einheit, diese Dynamik der Freiheit insofern statisch als... das Land ja früher schon einmal eins war... Man müßte also sogar eher von Rückschritt als von Fortschritt sprechen...

WILHELM VON KNOOP: Ja, das leuchtet mir ein.

DER ANDERE BESUCHER dabei, Max Muetz die Einheit zu erklären: ... Schließlich wurde

dadurch der Osten endlich dem westlichen Fortschritt zugänglich gemacht. Also nicht nur eine Erweiterung Deutschlands – des eigentlichen Deutschlands, die DDR hat ja zu Moskau gehört -, sondern des Westens, also der Demokratie und Freiheit.

MAX MUETZ: Vor allem der Freiheit.

WILHELM VON KNOOP liest, inzwischen ist die Blasmusik so laut, daß er fast schreien

muß: ... So daß sich die Demokratie westlicher Prägung folgerichtig beschreiben läßt als marktgesteuerte Illusion einer prosperitätssteigernden Verbesserungsbewegung, die de facto einen globalisierenden Interessenmonopolismus zementiert, der ausschließlich seiner eigenen Totalität gehorcht... – Na ja, also ich weiß nicht...

URS MUETZ bemüht: Sie verstehen das falsch... Mein Bruder meint die Demokratie

östlicher Prägung... Beziehungsweise... er imitiert ja hier eindeutig den sozialistischen Jargon der DDR...

DER ANDERE BESUCHER schreit in die Blasmusik hinein: ... Goethe, Mozart, Einstein

und wie sie alle heißen! Diese eine große deutsche Kultur braucht ein einiges großes deutsches Volk, das ihre Werte weiterträgt und die großen deutschen Traditionen für die ganze Welt bewahrt!

Die Blasmusik hinter der Szene ist jetzt so laut, daß sie die Gespräche übertönt. Alle halten sich die Ohren zu. Nach einigen Sekunden Stille und Dunkel.



VIERTE SZENE


82. Wettkampftag: die Hälfte des Weltrekords ist abgesessen. Die Mauer-Ausstellung abgebaut. An der Kleidung der Pfahlsitzer kann man erkennen, daß heute ein besonderer Tag ist. Wilko ist glattrasiert, Roland trägt Krawatte. Vor den Pfählen die Bürgermeisterin von Sohlgau. Mindestens ein Parteiprovinzler im Anzug. Links das Betreuerteam und der Leierkastenmann. Rechts eine Besuchergruppe.


BÜRGERMEISTERIN mit Merkzettel: Anläßlich dieses besonderen Tages nicht nur für

mich, sondern auch für die gesamte Region, möchte ich Ihnen meine ganz persönlichen Glückwünsche-

EIN PROLET unsichtbar in der Besuchergruppe, ruft: Asoziale! Geht lieber arbeiten!

BÜRGERMEISTERIN professionell: -meine ganz persönlichen Glückwünsche zur Halbzeit

auf dem Weg zum Weltrekord aussprechen. sieht auf den Zettel Zweiundachtzig Tage auf einem Pfahl zu sitzen-

PROLET wie oben: Faulenzer! Schmarotzer!

BÜRGERMEISTERIN wie oben: -ist ja tatsächlich eine Leistung ganz besonderer Art.

Insofern ist dies auch ein besonderer Tag... für uns alle.-

PROLET: Streber! Wichtigtuer!

BÜGERMEISTERIN: -Ich wünsche Ihnen daher hiermit ganz persönlich alles Gute,

weiterhin viel Erfolg und dieser ebenso ungewöhnlichen wie interessanten Sportveranstaltung-

PROLET: Klugscheißer!

BÜRGERMEISTERIN: -auch in Zukunft die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Schließlich

würde ich mich auch persönlich freuen, Ihnen in zweiundachtzigen Tagen noch einmal gratulieren zu dürfen. Daß es dazu kommt, das wünsche ich Ihnen heute, auf halber Strecke zum Weltrekord, sehr herzlich.

Der/die Parteikriecher lachen herzhaft, die Bürgermeisterin schüttelt den Pfahlsitzern die Hände, der Leiermann dreht die Leier, die Besucher applaudieren. Dann alle ab außer dem Proleten.

PROLET wartet bis alle anderen verschwunden sind, stellt sich dann vor die

Pfähle: Penner! Asoziale! Zigeuner! Geht mal arbeiten! Sich hier wichtig machen! Von meinen Steuergeldern! Schmarotzer! Asylanten! Dem Staat auf der Tasche sitzen! Von unsern Renten! Scheiß Sozialstaat! Alles korrupt! Ihr Breitärsche! So welche wie ihr machen uns die Wirtschaft kaputt! Holen uns die Arbeitsplätze weg! Geht doch zurück nach Kuba!

Zwei Betreuer kommen und führen ihn ab.

PROLET im Abgehen: Scheißamis!

KORDULA schreit ihm nach: Hau ab! Pause. Da muß irgendwo ein Nest sein.

WILKO: Ich kenn das. Bei uns in Klüterbog werd ich auch schon mal angemault, wenn ich

den ganzen Tag lang unterm Auto liege. Da kommt dann einer aus der Straße: ham Sie aber viel Zeit heute.

ROLAND: Wie, du hast ein Auto?

WILKO: Nee, aber meine Freundin.

Pause.

KORDULA: Siehste jetzt, Roland, daß es nicht an seinem Bart gelegen hat, wenn irgendeiner

mit ‚Asoziale‘ und so weiter loslegt!

ROLAND: Guckt euch doch mal eure Pfähle an! Wie bei Zigeunern sieht das aus. Er die

ganzen alten Zeitungen. Bei dir die Bücher und alles.

KORDULA

gleichzeitig, imitieren ihn: Ordnung muß sein!

WILKO

ROLAND: Ich nutze eben meine Zeit.

KORDULA: Wir kommen leider nicht dazu vor lauter Fanpost und Emails-Beantworten.

ROLAND: Und ich bekomme soviel, daß ich sie gar nicht beantworten kann.

KORDULA: Gestern hatte ich neunzehn Mails und fünfzehn Briefe.

ROLAND: Mit Zählen verschwende ich gar nicht meine Zeit. Dauert zu lange.

Pause.

KORDULA: Wenn ich den Weltrekord hab, geht’s erst richtig los. Dann bin ich die erste

Frau, die Weltmeisterin im Pfahlsitzen ist!

WILKO: Und ich der Erste aus den neuen Ländern!

ROLAND: Und ich der erste Schwabe!

Pause.

KORDULA: Frauen sind wichtiger als Schwaben.

ROLAND: In Schwaben nicht.

Pause.

KORDULA: Ich bin Einheimische. Hinter mir steht Niedersachsen und die gesamte Region.

Der Park! Die Landeszeitung! Und die Frauen in aller Welt!

WILKO: Hinter mir Brandenburg. Berlin! Der Osten! Und die Arbeitslosen in ganz

Deutschland!

ROLAND: Baden-Württemberg! Süddeutschland! Aufschwung! Fortschritt!

Vollbeschäftigung!

Pause. Von links ein Mann mit drei Regenschirmen, die er stumm an die Pfahlsitzer verteilt. Ihm folgt ein Zweiter, der eine Fotoausrüstung trägt und eilig ein Stativ aufbaut. Kurz danach ein dritter Mann im hellen Anzug, ohne Krawatte.

DRITTER MANN immer in Bewegung: So, spannen Sie mal bitteschön die Schirmchen auf

alle. Sie zun es. Bravo! zum Fotografen Hast du’s?

FOTOGRAF baut auf, sieht durchs Okular etc.: Zehn Sekunden...

KORDULA: Wer sind Sie?

DRITTER MANN zu Roland: He, Sie mit der Krawatte, grinsen Sie mal nicht so! Ach so,

alle mal herhören: Sie dürfen nicht grinsen, okay? Nicht äh... happy aussehen. Mehr Tristesse bitteschön! Mehr Regengesichtsausdruck alle! zum Fotografen Hast du’s?

FOTOGRAF: Fünf Sekunden...

KORDULA lauter: Hallo! Wer sind Sie denn überhaupt?

ERSTER MANN: René Malter, Studio für Werbe- und Architekturfotografie.

KORDULA: Und was soll das hier werden?

DRITTER MANN zu Kordula: Sie dürfen nicht so ärgerlich schauen! Und Sie mit der

Krawatte bitteschön: mal mehr Emotion! Tristesse bitte alle!

KORDULA: Verdammt, ich will wissen, was das hier soll!

WILKO: Laß nur. Der knipst uns doch.

DRITTER MANN: Werbefotos, okay? Für Betriebe der Region. Sie sind berühmt. Also

bitteschön! Hast du’s?

FOTOGRAF: Jawohl... Es klickt zehnmal. Okay.

DRITTER MANN: Perfekt!

KORDULA: Für welche Betriebe denn?

ERSTER MANN nimmt die Schirme zurück: Das hier war für Fred Zinne GmbH. Klasse

Motiv. Ihr drei auf dem Pfahl, mit Schirm, und drunter: „Ist bei Ihnen noch alles dicht? – Fred Zinne, Bedachungen und Abdichtungstechnik.“

DRITTER MANN: Jetzt ohne. Einfach so. Hast du’s? Sehen Sie mal ein bißchen blöd aus

bitte... Proletarisch! Frustriert! Das kann Ihnen doch nicht so schwerfallen. Nehmen Sie sich mal ein Beispiel an dem Herrn mit Krawatte hier! Hast du’s?

FOTOGRAF: Jawohl... Es klickt zehnmal.

DRITTER MANN: Perfekt!

KORDULA: Und das da?

ERSTER MANN: Das Foto von euch, frustriert, proletarisch, blöd und so weiter, und drüber:

„Nicht für jeden. Autohaus Obermaier – Coupés und Cabrios.“

DRITTER MANN: Jetzt noch für Möbel Munter.

ERSTER MANN zu den Pfahlsitzern: „Man kann bequemer sitzen.“

FOTOGRAF knipst: Jawohl.

DRITTER MANN: Fertig? Perfekt. Also alle ab bitteschön! Ab.

Die anderen wollen ihm folgen.

ROLAND: Moment mal... Ähm... Wir haben doch jetzt hier Werbung gemacht. Dafür kriegt

man doch was, oder?

ERSTER MANN im Abgehen: Vertragspartner ist der Flachland-Park. Mit dem Fotografen

ab.

Pause.

WILKO: Jetzt kommen wir sogar noch auf Plakate oder sowas. Nicht schlecht.

KORDULA: Und ich war nicht geschminkt!

Dunkel.



FÜNFTE SZENE


113. Wettkampftag: Kordulas Geburtstag. Sie ist geschminkt. Links wieder die Betreuer und Poldino. Rechts stehen die drei Putzfrauen und der Leierkastenmann. Vor Kordulas Pfahl haben sich Besucher(innen) gesammelt; eine(r) nach dem/der anderen gratuliert ihr und stellt sich dann links vor die Betreuerhütte, während von rechts dafür ein(e) neue(r) auftritt, so daß vor Kordulas Pfahl immer etwa zehn Personen stehen. Roland odnet Akten. Wilko, mit Bart, hält ein Geschenkpäckchen auf dem Schoß.


KORDULA im Gespräch mit einer Besucherin: Ich hab mich ja auch konzentriert

vorbereitet. Habe zuhause auf dem Küchentisch geübt. Mich mit Buddhismus beschäftigt. Und jetzt läuft alles bestens.

1.BESUCHERIN: Toll. Viel Glück weiterhin. Geht nach links.

KORDULA: Danke.

2.BESUCHERIN tritt vor, Händeschütteln: Herzlichen Glückwunsch, Kordula. Erkennst du

mich nicht? Ich bin die Ulla. Wir waren zusammen in einer Klasse. Auf der Realschule. Ulla Schmalz. Weißt du noch? Ich hab Bankkauffrau gemacht. Apropos: hab ich dich nicht nach der Schule im Penny an der Kasse gesehen? Das warst du doch, oder?

KORDULA: Nee. Ich hab eine Ausbildung als Finanzbuchhalterin gemacht und bin jetzt

selbständig. Mit einer Partnervermittlung.

2.BESUCHERIN: Na sowas! Unsere kleine Kordula. Ich weiß noch, wie du die Fünf in

Englisch hattest und mit der Frau Dings gestritten hast, bis sie dich rausgeworfen hat, weißt du noch? Und jetzt hier auf dem Pfahl und fast schon Weltmeisterin! Sag mal, ist das nicht nervig mit dem schlechten Wetter? Nein? Also du, ich muß los, wir fliegen morgen nach Casablanca, der Ralf und ich. Ralf Renner, weißt du noch, in den warst du doch mal so doll verliebt. Hat er mir erzählt. Mit den Männern warst du ja leider nie so glücklich. Weißt du noch? Nach links, da der Nächste sich vordrängelt.

3.BESUCHER: Hallo, ich bin der Karsten.

KORDULA: Hallo, Karsten.

3.BESUCHER: Sag mal, onanierst du auch auf dem Pfahl? Oder mal auf’m Klo? Wie isses?

Haste’n Freund?

KORDULA: Ja. Hab ich.

3.BESUCHER: Und was sagt der dazu, daß er’s sich seit hundertdreizehn Tagen

selbermachen muß? Scheint ja ne olle Lusche zu sein.

KORDULA: Der hält das schon aus.

3.BESUCHER: Sag mal, haste heute abend schon was vor?

KORDULA: Ja, mein Freund kommt nämlich auch zum Geburtstag.

3.BESUCHER: Aha. Na dann mal los. Nach links.

4.BESUCHERIN: Tag. Glückwunsch. Ich heiße Gudrun.

KORDULA: Tag, Gudrun. Danke.

4.BESUCHERIN: Ich hab mal an der Weltmeisterschaft im Auf-Einem-Bein-Stehen

teilgenommen. Nächstes Jahr wieder. Dann schaff ich‘s. Nach links.

5.BESUCHER ist Ibrahim Mohamed, mit Kopfverband und Krücke: Hallo und herzlichen

Glückwunsch.

KORDULA: Danke. Hallo. Wir kennen uns doch. Hast du nicht am Anfang hier neben mir

gesessen? Du bist doch der aus Kairo, stimmt’s?

IBRAHIM: Ja, ich bin der Ibrahim. Ich komm gerade hier aus dem Krankenhaus.

KORDULA während Poldino hineilt und Ibrahim stützt, ihm dabei ins Gesicht sehend:

Hattest du einen Unfall?

IBRAHIM: Na ja... so ähnlich... Eigentlich war’s eher.. Poldino führt ihn rasch nach links.

6.BESUCHER ist der Jüngere Besucher aus der zweiten Szene: Hi. Glückwunsch. Na?

Immer noch soviel Fanpost?

KORDULA: Jeden Tag mehr. 250 Emails bis jetzt.

6.BESUCHER: Na klasse. Und werden die auch alle schön beantwortet?

KORDULA: Wieso nicht? Ich hab ja Zeit.

6.BESUCHER: Ja, eben, die fehlt mir immer für sowas. Kurze Pause. Morgen geht’s ab

nach Rußland: Trans-Sibirien-Triathlon. Nach links.

KORDULA: Viel Erfolg.

7.BESUCHERIN: Du, Kordula, ich bin die Annemie – Glückwunsch erstmal...

KORDULA: Danke schön, Annemie.

7.BESUCHERIN: Du bist doch auch Löwin. Und ich auch. Jetzt wollte ich diesen Freikletter-

Frauen-Kurs machen, also richtig da an so ‘ner Wand hängen... Und jetzt weiß ich nicht recht... Meinst du, ich schaff das?

KORDULA: Also, ich weiß nicht, ich kenn dich gerade nicht so gut...

7.BESUCHERIN: Ja, schon klar. Und so vom Gefühl her? Du bist auch Löwin und genauso

alt wie ich und sitzt hier deine hundertnochwas Tage nur so runter. Wir sind doch starke Frauen, oder? Wir schaffen das doch, oder nicht? Also nur nicht zweifeln, Kordula! Wer zweifelt verzweifelt. Wir machen das! Wir zeigen’s ihnen! Nach links.

8.BESUCHER ist Klaus-Dieter Wampenhäger: Guten Tag, Frau Kordula. Vielleicht erinnern

Sie sich an mich: Wampenhäger, Klaus-Dieter, Finanzobersekretär a.D.

KORDULA: Ich erinnere mich.

KLAUS-DIETER leutselig: Ganz schöne Ausdauer habt ihr hier. Muß man ja sagen. Aber

mein Rücken, wissen Sie? Der Arzt sagt, das ist das pure Gift hier. Rückenzugrundesitzen, sagt er. – Übrigens ein sehr guter Arzt, ein alter Bekannter von mir...

KORDULA: Ich stehe dreimal am Tag auf, um Gymnastik zu machen. Ich hab auch ein Buch

über Sitzgymnastik dabei. Und ich meditiere.

KLAUS-DIETER: Ja, ja, das sind so diese modischen Sperenzchen. Sie sind ja noch jung.

Aber Sie werden sehen, in zehn Jahren kommen Sie nicht mehr aus dem Bett.

KORDULA: Wir haben hier einen Parkarzt. Der sagt, wir sind fit.

KLAUS-DIETER: Ja, ja, der Rücken, wissen Sie... Die Bandscheiben... Erst der verlorene

Krieg... Und jetzt ist auch noch mein Enkel verschwunden, stellen Sie sich das vor. Meine Tochter hat ihn verschlampt...

KORDULA betroffen: Der kleine Junge, der hier war? O Gott, der Arme... Haben Sie ihn

denn suchen lassen? Oder vermißt gemeldet?

KLAUS-DIETER: Ja, ja, sicher... Nichts... Tja... Da sehen Sie... Es ist nicht leicht...Wie soll

man da gewinnen? Nach links.

9.BESUCHER stört die ehrlich mitleidende Kordula: Schönen guten Tag und herzlichen

Glückwunsch. Mein Name ist Hoffmann, ich bin Ihr Weltbuch-Bücherexperte und möchte Ihnen ein ganz persönliches Geschenk unseres Hauses überreichen. Lesen Sie gerne, Frau...?

KORDULA: Ja, sehr gern.

9.BESUCHER: Na, sehen Sie. Dann darf ich Ihnen hiermit den neuesten Band aus der

Historischen Reihe von Gilberto Nepp, „Die große Judenvernichtung“, sowie den Bestseller vom selben Autor, „Hitlers Händler“, überreichen. Außerdem dieses modische T-Shirt. Überreicht ihr alles. Wenn Sie das jetzt bitte gleich anziehen würden.

KORDULA: Also, ich weiß nicht... Sie zieht es trotzdem an, mit Riesen-„Weltbuch“-

Schriftzug, häßlich.

9.BESUCHER gibt ihr die Hand: Wir von Weltbuch drücken Ihnen alle fest die Daumen und

hoffen, daß Sie mit diesem originellen Talismann-Shirt noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als Sie verdient haben. Äh. Hier ist noch die passende Mütze und ein Weltbuch-Wimpelchen. Gibt ihr auch das, dann nach links.

Von rechts tritt eine Art Parade auf: an der Spitze, mit Mikro oder Megaphon, der Parkschreier; dahinter einige Mädchen in Flachland-Park-Uniformen, deren eines eine Torte trägt; dahinter die Erntekönigin Anna I. mit einem Korb; dahinter Kordulas Freund Igor; am Schluß eine kleine Kapelle, wie bei Faschingsumzügen, die eine ziemlich unmusikalische Musik produziert.

PARKSCHREIER ins Megaphon, wieder zum Saal: Liebste Leute! Willkommen zum

heutigen Top-Ereignis im Flachlandpark: Kordula Staub wird neunundzwanzig. Happy Birthday! Während des Folgenden spielt die Kapelle „Happy Birthday“, aber viel zu langsam und nicht fehlerfrei. Der Parkschreier spricht dagegen – als Kontrapunkt – wie immer sehr schnell. Und das sind unsere Geschenke, ja eine ganze Riege, ein halbes Heer von aufwendigen, liebevollen und ganz persönlichen Geschenken. Von wem? – Na, von Ihrem Flachland-Park natürlich, dem zweitgrößten Freizeitpark in Deutschland mit der größten Holzachterbahn des Universums, konkurrenzloses Abenteuer und totaler Spaß für die ganze Familie – spannend, sicher, super! Helau! Und hier unser Geschenk Nummer eins: Erntekönigin Anna die Erste aus Stahlfleck. Sie tritt vor und gratuliert. Sie schenkt unserem Pfahlsitzstar zwei exquisite Flaschen Heidelbeerwein aus den Kellern der Firma Edelheide in Sohlgau, des drittgrößten Winzerbetriebs am Ort. Währenddessen hält Anna I. die beiden Flaschen hoch, zeigt sie dem Publikum und überreicht sie Kordula einzeln, ohne Korb. Aber geben wir uns damit zufrieden? – Nein! Hier kommt Geschenk Nummer zwei - bittesehr, Monika! Die Dame mit der Torte tritt vor. Eine Original-Heidelbeercremetorte Flachländer Art, gebacken im Bäckereibetrieb Schlunz&Sohn aus Sohlgau und Liebe zum Pfahlsport! Die Torte wird überreicht. Und jetzt das dritte Geschenk – aufgepaßt, liebes Publikum, jetzt kommen die Gefühle zum Zug! Er hebt die Stimme. Seien Sie live dabei! Kordulas Lebensgefährte - - Igor aus Hannover! Herzlich Willkommen!

Heftiger Applaus und anzügliche Pfiffe. Igor tritt vor den Pfahl. Die Besucher und das Parkpersonal ziehen sich ganz zu den Bühnenseiten zurück, die verdunkelt werden, so daß um das Paar ein scheinbar leerer, ‚intimsphärischer Raum‘ entsteht. Stille. Auch der Parkschreier wird unsichtbar, seine Stimme klingt jedoch, noch immer elektrisch verstärkt, jetzt näher als zuvor, weil er leiser spricht, das Intime des Schauspiels unterstreichend, doch weiterhin eilig, als wolle er die Intimität nur kurz stören.

PARKSCHREIER flüstert: Und Ruhe bitte! Jetzt das Wiedersehen... Kordulas große Liebe

Igor... Seit sage und schreibe hundertunddreizehn Tagen haben sich diese jungen Liebenden nicht gesehen... seit hundertunddreizehn Tagen und Nächten... kein Kuß, keine Berührung... Doch jetzt!... Lodernde Leidenschaft im Flachland-Park... Pssst!... Was für ein Moment!... Pssssst... Die Tageskarte nur neunundvierzig Mark neunzig... Pssssst... Kinder und Studenten die Hälfte... So preiswert kann Liebe sein...

KORDULA verliebt: Hallo, Igor, mein Schatz. Pause. Ich bin so froh...

IGOR verlegen, aber sanft: Herzlichen Glückwunsch. Er gibt ihr die Hand.

Pause. Stille.

KORDULA: Ich bin so froh, daß du hier bist.

IGOR: Ja. Hallo.

Pause.

KORDULA: Geht’s dir gut?

IGOR: Ja. Klar.

Pause.

KORDULA kokett: Auch ohne mich?

Er schweigt.

KORDULA: Hast du mich vermißt?... ein bißchen?... ja?

IGOR: Ja. Hab ich.

Pause.

KORDULA: Ich denke so oft an dich. Weißt du, es ist einsam hier oben...

Pause.

IGOR: Hier unten auch.

Pause.

KORDULA: Soll ich auf einen Kuß absteigen?

IGOR: Nee, laß nur... Das heißt... Kurze Pause. Wann willste denn absteigen... so allgemein,

mein ich?

Pause.

KORDULA: Du meinst, ganz absteigen? Schluß machen mit dem Pfahl?

IGOR: Genau.

Raunen unter den Anwesenden.

PARKSCHREIER wie oben: Haben wir richtig gehört? Kordulas Freund will, daß sie den

Wettkampf abbricht? Die Weltmeisterschaft aufgibt? Könnte der Pfahlsitzsport diesen Verlust verkraften? Wie wird Kordula sich entscheiden? Eine Frau zwischen Liebe und Weltruhm! Kann Sie das ohne Bedenkzeit entscheiden? Wir haben bis 18 Uhr geöffnet...

KORDULA: Aber... wieso? Ich bin in guter Form. Und in fünfzig Tagen habe ich den Titel.

Igor...

IGOR: Ja, ich weiß, aber...

KORDULA: Vermißt du mich so?

IGOR ungeduldig: Ja... Mensch... Du fehlst mir halt, verstehste?

Pause.

KORDULA: Ach so, du meinst...

IGOR wie oben: Genau!

Pause. Kurzes Kichern und Gemurmel unter den Zuhörern.

KORDULA: Aber du hast mir doch gesagt, das ginge. Daß das kein Problem wäre... Das Jahr

im Knast hast du doch auch durchgestanden ohne...

IGOR: Im Knast gings ja nicht anders...

Pause.

KORDULA: Aber jetzt geht’s doch auch nicht anders... Ich meine, ich bin doch gar nicht da...

Pause.

KORDULA: Du, Igor... Sag mal...

IGOR unterbricht: Ja... Eben...

Pause.

IGOR: Genau.

Längere Pause.

KORDULA zitternde Stimme: Soll das heißen, daß du...

IGOR: Ja.

Längere Pause. Kordula beginnt, leise zu weinen.

IGOR verlegen, gibt ihr ein kleines Päckchen: Hier. Tschuldigung... Pause. Sie reagiert

nicht. Und Grüße noch von Olga, die konnte nicht kommen... ist krank...

KORDULA weinend: Danke. Pause. Bin ich jetzt schuld, Igor? Er antwortet nicht. Pause.

Grüß Olga von mir. Pause. Und jetzt geh bitte. Er bleibt stehen. Los, geh!

Igor verschwindet schleichend nach links. Darauf vollständige Dunkelheit. Pause. Stille. Plötzlich, zusammen mit dem ersten Wort des Parkschreiers, geht das Licht an und die Bühne ist wieder voll ausgeleuchtet, greller noch als zu Beginn der Szene. Die Besucher strömen wieder zur Bühnenmitte, während des Schlußworts immer mehr applaudierend. Der Parkschreier steht wieder in der Mitte. Gleich hinter ihm im Halbkreis die Kapelle.

PARKSCHREIER wieder laut: Haben wir zuviel versprochen? Also, Mensch, wenn das

keine Emotionen sind! Und zwar gefühlsecht und zum Anpacken hier im Flachland-Park! Freuen wir uns also mit diesem bezaubernden jungen Paar! Ist das Leben nicht eine tolle Sache? Und zwar für nur Neunundsiebzig-Neunzig für die Zwei-Personen-Karte! Also noch einmal an unser Geburtstagskind: alles Liebe vom Flachland-Park, Kordula, und beste Wünsche für Dein ganz persönliches Glück!

Währenddessen spielt die Kapelle erneut „Happy Birthday“ , diesmal zu schnell. Mit dem Ende der ersten Phrase, also nach acht Takten, und in pathetischem Ritardando, endet die Szene unter heftigem Applaus. Die Musik, der letzte Satz des Parkschreiers und der Applaus enden also in demselben Moment. Dunkel.



SECHSTE SZENE


Ein Tag zwischen dem 120. und 150. Wettkampftag. Abenddämmerung. Regen. Die Pfahlsitzer wieder in Planen gehüllt. Sie sind allein. Stille. Roland durchblättert, vom Langnese-Schirm gegen das Wetter geschützt, fieberhaft Zeitungen, die auf seinem Schoß gestapelt liegen. Wilko, mit Bart und inzwischen langen Haaren, und Kordula, blaß, starren müde ins Publikum.

WILKO: Das ist ein Sommer.

Pause.

KORDULA: Und immer diese Aussicht.

WILKO: Öd. Dunkel.

Pause.

KORDULA: Trotzdem besser als alle die Gesichter im Licht.

WILKO: Das stimmt.

Pause.

KORDULA: Wenn wir hier allein wären, würde mir der Job richtig Spaß machen.

WILKO: Nee. Dafür wird er zu schlecht bezahlt.

KORDULA: Stimmt.

Pause.

KORDULA: Abend für Abend diesen Langweilern gegenüber.

WILKO sieht genauer hin: Ja. Arme Schlucker.

KORDULA: So stell ich mir das Altenheim vor. Pause. Nur daß man da bequemer sitzt.

Pause.

KORDULA: Da sitzt man dann am Fenster und guckt denen da zu.

WILKO: Ist bestimmt ABM. Hab ich auch mal gemacht.

KORDULA: Echt? Müllpicker?

WILKO: Alles.

Der Leierkastenmann überquert mit Schirm und Leierkasten die Bühne. Wenn Roland aufschreit, zuckt er zusammen, bleibt stehen, sieht ins Publikum und seufzt tief; zieht dann weiter.

ROLAND glücklich!: Ahaha!-

Pause. Er liest mit fliegenden Lippen einen Artikel. Die anderen sehen ruhig zu ihm hinüber.

WILKO: Er steht wieder irgendwo.

KORDULA: Vielleicht auch die ideale Heiratsanzeige. „Millionärin sucht schwäbischen

Pfahlsitzer zwecks Gütergemeinschaft.“

WILKO: Liest er denn Heiratsanzeigen?

KORDULA: Ja. Im Schlaf formuliert er manchmal noch an seinen Antwortbriefen.

ROLAND zu den beiden, euphorisch: Sie haben den Bürgermeister Schleicher nach mir

gefragt! Den Bürgermeister von Schneebronn! Ich bin ein ruhiger Bürger, unauffällig und fleißig und interessiere mich sehr für meine Heimat! Er liest nochmals den Artikel.

Pause.

WILKO: Stehn wir da auch drin?

KORDULA: Ja. Ist die „Sohlgauer Stimme“ von letzter Woche. Meine Ausgabe. Er ist ja zu

geizig.

WILKO: Was steht denn drin?

KORDULA: Abgeschrieben von der „Landeszeitung.“ Nur daß Roland auch vorkommt, also

nicht nur mit dem Namen.

WILKO: Und?

KORDULA leiser: Er hätte sich ein großes, altes Bauernhaus gekauft. Und daran schuftet er

jetzt. Außerdem steht drin, daß er Einzelgänger ist und keinem Verein angehört.

WILKO: Logisch.

Pause. Die drei Putzfrauen treten auf. Wie im ersten Akt: man hört sie bereits hinter der Szene, sie tragen Putzkittel und -gerät.

1.PUTZFRAU: Ich hab’s ihm gleich gesagt: und wovon willst du das Haus abbezahlen? Das

geht ja wohl vor. Und dann er: unser Sparbuch. Wer hat gespart? Ich. Zusammengeputzt. Viertausend Mark in zwei Jahren. Weil wir letztes nicht im Urlaub gewesen sind. Bei seiner Mutter in Stahlfleck warn wir. Und dann fragt mich die Frau Klopps beim Straßekehren auf einmal, wie wir zurück sind: hat’s Ihnen denn gefallen in... – wo noch? – in Neufundland! – Das hat er wohl in einem Quiz aufgeschnappt, der Prahlbock! – Und ich schnell: ja, ja, und wie, nur sehr heiß war’s halt. - Ja, in Stahlfleck war’s heiß!

2.PUTZFRAU: Und in Neufundland?

1.PUTZFRAU: Na , in Stahlfleck warn wir! Zum Sparen. Und jetzt? Anderthalb Tausend sind

noch übrig nach den ersten Raten. Zu Weihnachten können wir einen Kredit nehmen. Aber im Benz zur Bank fahren! Draußen den Bauch raus und drinnen dann betteln! Ich hab ihn kleingemacht, und ich sag dir was: geheult hat er. Jawohl. Durch den Türritz hab ich’s gesehen...

Die Drei ab. Währenddessen haben sich die Pfahlsitzer zum Schlafen zurechtgesetzt: alle drei mit auf die Beine geneigtem Oberkörper und geschlossenen Augen. Es wird jetzt schnell, zeitlich gerafft, nachtdunkel. Vollmond.

ROLAND im Schlaf murmelnd: Kunst... Segeln... Golf... ich auch... vielseitig... flexibel...

weltoffen... auch... Ski... Reiten... ich auch... Golf... Pause. ich auch...



SIEBTE SZENE


164. Wettkampftag. Countdown zum Weltrekord. Sonnenschein, Besucherlärm. Im Vordergrund drei Fernsehteams: Kameras, Kameramänner, Kabelträger, Regisseure, Moderatoren. Die Pfahlsitzer feierlich herausgeputzt: Roland und Wilko mit Krawatte, rasiert und frisiert, Kordula geschminkt und mit auffälligen Ohrringen. Alle sind nervös, Roland am meisten. Zu Beginn der Szene erscheint links der Leierkastenmann und wird von einem der Fernsehleute rasch aus dem Bild geschoben. Das Gleiche widerfährt wenig später den drei Putzfrauen, die von rechts erscheinen. Die Besucher kreuzen hinter den Pfählen die Bühne, behindern also nicht die Aufnahmen und bleiben unbehelligt; unter ihnen die Japaner, Poldino, Fellingborsteler Fußballer und einige der Besucher aus der fünften Szene. Sie kommen einzeln oder in Gruppen, auch Familien, essen Eis, trinken Bier, fotografieren, streiten, küssen sich usw. Manche bleiben stehen und winken in die Kamera, rufen dazwischen und grüßen ihre Freunde. Andere laufen rasch zu einem der Pfahlsitzer und lassen sich ein Autogramm geben. Allen sollte man aber ansehen, daß sie nicht etwa zufällig vorbeigehen, sondern sich dort wegen der Kameras so zahlreich aufhalten. Freilich sollte man ihnen ebenfalls ansehen, daß sie genau das verbergen wollen. Vor den drei Pfählen steht je ein Moderator mit Mikro: vor Kordulas Pfahl eine Dame von N3, vor Wilkos ein Herr vom ORB und vor Rolands Pfahl der Kulturmensch vom ZDF (Hannover).


N3-MODERATORIN: Herzlich Willkommen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, zu

unserer heutigen Ausgabe der N3-„Regionalzeit“ aus dem Flachland-Park Sohlgau. Hier findet seit sage und schreibe hundertvierundsechzig Tagen der wohl längste Sportwettkampf der Welt statt. Während sie weiterspricht:

ORB-MODERATOR hat bereits begonnen: ... Vor fünf Jahren wurde im zweitgrößten

Familienpark Westdeutschlands erstmals eine Weltmeisterschaft im Pfahlsitzen ausgetragen, die inzwischen Ausdauernde aus den alten und neuen Bundesländern anlockt. Nicht zuletzt wohl wegen eines Preisgeldes von 20.000 Mark für den Sieger, der sich ab dem heutigen Tage auch auf den Weltrekord-Bonus von 15.000 Mark freuen kann. Während er weiterspricht:

ZDF-MODERATOR bereits auf Sendung: ... Gerade erst hat Parkinhaber Hans-Jörg

Hartmann zu Beginn der Saison die angeblich größte Holzachterbahn der Welt präsentiert, da hat die Vergnügungsmaschinerie bereits ihren nächsten Superlativ hervorgebracht. Mit einhundertvierundsechzig Tagen Dauerhocken ist heute der Weltrekord im sogenannten Pfahlsitzen gefallen. Während er weiterspricht:

N3-MODERATORIN hat inzwischen weitergesprochen: ... Hinter mir sitzt nun eine der drei

Weltmeister und Weltmeisterinnen, nämlich Kordula Staub aus Hannover, neundundzwanzig Jahr alt und selbständig, die dem Duell mit den beiden Männern siegessicher entgegensieht. Sie wird von Fans aus der Region eifrig unterstützt und kann mit über 500 Briefen und Emails, die sie bisher erhalten hat, hier sicher als die Sympathieträgerin gelten. Wie oben:

ORB-MODERATOR hat inzwischen weitergesprochen: ... Mit Wilko Peschke aus

Klüterbog wird es also in einer knappen Viertelstunde zum ersten Mal in der Geschichte dieses Sports einen brandenburgischen Weltmeister geben. Grund genug für uns vom ORB, Ihnen diesen bedeutsamen Countdown und natürlich die Hintergründe des Wettbewerbs zu präsentieren. Wie oben:

ZDF-MODERATOR hat inzwischen weitergesprochen: ... Vor diesem symptomatischen

Hintergrund werden wir heute in „Der philosophische Flaneur“ über das Thema sprechen: „Beachtet mich! - Der Kampf um die Aufmerksamkeit.“ sieht auf seinen Zettel, wo er folgende aktualisierende Stichwörter notiert hat: Amokläufer und Pop-Heroen, Ich-AG-Manager und Egoterroristen – die Spirale der Spaßgesellschaft dreht sich immer weiter...

Im selben Moment stürmt von hinten ein junger Mann – entweder grotesk kostümiert oder gleich nackt – vor die Kamera und schreit ein paar besonders populäre Namen heraus, etwa: „Jesus! Hitler! Einstein! Elvis!“ Er wird rasch entfernt.

N3-MODERATORIN wie oben: Dazu und zu allem anderen wollen wir jetzt die

selbstsichere Teilnehmerin aus Niedersachsen befragen, die sich fest vorgenommen hat, als letzte vom Pfahl zu steigen. Sie dreht sich zu Kordula um. Herzlich Willkommen bei N3 und „Regionalzeit“, liebe Kordula...

ORB-MODERATOR wie oben: Er ist dreißig Jahre alt, gelernter Maurer und zur Zeit

arbeitslos. Ein normaler junger Mann aus Deutschlands Osten. Und gleich nach der Weltmeisterschaft will er, vielleicht sogar mit dem Preisgeld in der Tasche, seine Freundin Maggie Moltke heiraten. Er dreht sich zu Wilko um. Hallo und guten Tag, Wilko Peschke...

ZDF-MODERATOR wie oben: Und damit darf ich unseren heutigen Gast bei uns im ZDF

begrüßen. Als ‚philosophischer Flaneur‘ ist er nicht nur einem breiten Publikum durch seine zahlreichen Fernsehauftritte bekannt, sondern er ist auch und sozusagen hauptberuflich Philosoph – und zwar einer, der als streitbarer Geist zwischen allen Stühlen immer wieder in brisante Debatten eingegriffen hat. Ich begrüße ganz herzlich Herrn Professor Pieter Vonderdijk. Seien Sie gegrüßt... Vonderdijk ist inzwischen hinzugetreten.

KORDULA zur N3-Moderatorin, bereits im Gespräch: ... Als versuchte Vergewaltigung

würde ich es vielleicht nicht bezeichnen, aber als Belästigung schon. Wir haben beide gerade Pause gemacht – hier auf dem Pfahl kommt er ja nicht ran. Und da fragt mich Herr Maierle, ob er einmal mein wunderschönes Haar streicheln dürfte. Ich war natürlich total überrascht und hab sofort abgelehnt. Vor allem, als er noch dazugesagt hat, daraus würde sich dann ein Feuer der Liebe entwickeln...

WILKO zum ORB-Moderator, bereits im Gespräch: ... Müllpicker, Spargelernte,

Hilfsarbeiter, alles. Immer ABM. Abends noch schwarz unter irgendeinem Auto vielleicht. So. Und jetzt vor ein paar Tagen klingelt hier mein Pfahltelefon und ich hab was. Also vielleicht. Auf einem Schlachthof im Spreewald. Die sind wohl durch die Pfahlsitzerei auf mich aufmerksam geworden. Auch wenn ich nur Dritter werde, hab ich immer noch 5.000 Mark und dann die Stelle. Also vielleicht...

VONDERDIJK zum ZDF-Moderator, bereits im vierten Jahrhundert: ... Im vierten

Jahrhundert dann etwa, also im Zenit frühchristlicher Modi vivendi wie des Asketismus und Anachoretentums, ist auch gerade diese archaische Form der Selbstausstellung durch die räumliche Erhöhung auf einem Pfahl oder einer Säule einigermaßen en vogue. Die eremitische Elite jener Zeit lebte tatsächlich jahrelang unter Bußübungen auf solchen Säulen – der Begriff „Säulenheilige“ ist ja bis heute geläufig. Einer der berühmtesten dieser Styliten, Symeon der Ältere, wurde trotz diesem doch sehr frugalen Lebenstil sogar annähernd siebzig Jahre alt...

KORDULA wie oben: ... So irre Menschen gibt’s eben. Der ist ja auch überzeugt, wir, also

wir Norddeutsche oder wir Frauen oder was weiß ich, würden ihn hier vom Pfahl mobben wollen. Kürzlich hat irgendein schwäbisches Blatt angerufen, mit denen hat er sich nur flüsternd unterhalten. Aus Angst vor Spionage. Ich werde hier belauscht, hat er gesagt. Hab ich genau gehört. Total irre, der Mann. Ich rede gar nicht mehr mit ihm. Vor ein paar Tagen haben wir ja noch verhandelt, der Wilko und ich...

WILKO wie oben: ... Wir haben dem Roland Maierle vorgeschlagen, daß wir zusammen

absteigen nach dem Weltrekord. Also heute oder demnächst. Jedenfalls zusammen. Alle drei Preise mit den 15.000 Rekordbonus macht insgesamt 50.000 Mark. Und das dann durch drei, wenn wir mit den gleichen Zeiten absteigen. Also fast 20.000 für jeden. Mir reicht das. Ihm nicht. Macht er nicht, hat er gesagt. Erstens will er alles, also 35.000 für den Sieger. Und zweitens kämpft er für Baden-Württemberg...

VONDERDIJK beim Thema ‚Aufmerksamkeit‘ angelangt: ... Das gehört zum

überindividuellen Wertebereich der Identität, der desto relevanter wird, je weniger die Individualität geeignet ist, ein positives Selbstwertgefühl zu konsolidieren – und das heißt: je weniger der Einzelne als Einzelner begabt ist, Aufmerksamkeit zu erregen. Denn Wertschätzung und Aufmerksamkeit ist nachgerade der Humus für ein positives Selbstbild, die conditio sine qua non, man kann sagen: das Elixier pychischer Gesundheit. Wohlgemerkt, ich referiere hier Fakten aus der psychologischen Forschung. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, schreibt Martin Buber. Und in Abraham Maslows fünfstufiger Bedürfnispyramide rangiert das Anerkennungs-Bedürfnis gleich nach dem Bedürfnis nach Liebe und emotionaler Partizipation...

KORDULA: ... ‚Feuer der Liebe‘ – ist das etwa nicht total irre? Ich glaub sowieso, das mit

der Liebe wird ein bißchen überschätzt. Jeder Dahergelaufene schmeißt heute mit so Sprüchen um sich. Jedenfalls, seitdem kein Wort mehr zwischen mir und Herrn Maierle.

N3-REPORTERIN: Trotz alledem konnte er Sie nicht aus dem Feld schlagen, ebensowenig

ihr anderer männlicher Konkurrent. Womit wir beim großen Thema wären: Kordula, in weniger als fünf Minuten sind Sie die erste weibliche Pfahlsitz-Weltmeisterin überhaupt! Wie fühlen Sie sich? Und was kommt danach?

KORDULA: Erstmal will ich das feiern. Ich freu mich natürlich riesig. – Und danach

sitzenbleiben. Herr Maierle sagt, diesmal wird Schwaben Weltmeister. So ein Schwachsinn macht mich nur noch sturer. Jetzt bleibe ich erst recht hocken!

WILKO: Ehrlich gesagt, mir fehlt seit heute vielleicht ein bißchen der Antrieb

weiterzumachen. Weltrekord, das war so ein Ziel. Und jetzt, na ja, hab ich kein Ziel mehr... Andererseits, als Dritter absteigen... Also 5.000, das wär vielleicht doch ein bißchen mager für die ganze Hockerei.

ORB-REPORTER: Ich jedenfalls will Ihnen, lieber Wilko Peschke, ganz herzlich und im

Namen von ganz Brandenburg gratulieren und weiterhin viel Erfolg wünschen. In knapp vier Minuten sind Sie der erste Pfahlsitz-Weltmeister aus den neuen Ländern. Hätten Sie das gedacht?

WILKO: Auf keinen Fall. Ich kann es eigentlich noch gar nicht so richtig fassen. Das kommt

vielleicht erst. Jedenfalls will ich mich bei allen Brandenburgern für die tolle Unterstützung bedanken.

VONDERDIJK: ... Wenn man hier ein wenig respektlos psychologisiert, lassen sich die

Styliten als diejenigen Eremiten deuten, die sowohl die selbstwertfeindliche Anthropologie des Christentums als auch die anachoretische Selbstdemütigung dadurch kompensieren, daß sie sie als Heiligentum gut sichtbar exponieren und damit gewissermaßen aus einem individuellen Nichts, indem sie es auf die Säule setzen, einen asketischen Heros machen.

ZDF-MODERATOR nickt: Eine Art Märtyrer der Aufmerksamkeit also. Kann man,

anknüpfend an Ihren Exkurs zur Identität vorhin, vielleicht sagen, daß diese Aufmerksamkeit die asketische Identität bestärkt und stabilisiert habe?

VONDERDIJK: Absolut. Eine Identität ohne die Aufmerksamkeit, die sie spiegelt, wird

früher oder später veröden.

Von rechts treten auf der Parkschreier, Poldino, das japanische Ehepaar, die Bürgermeisterin von Sohlgau, die Reporterin und der Fotograf sowie die Fellingborsteler mit Kalle Bockfeld. Von links das Betreuerteam, der Leierkastenmann, die drei Putzfrauen, Wilhelm von Knoop und der Grotesk-Kostümierte bzw. Nackte vom Beginn der Szene. Die Besucher aus der fünften Szene - allerdings ohne Klaus-Dieter und Ibrahim - treten zu etwa gleichen Teilen von beiden Seiten auf. Ebenso die Jounalisten. Sie alle sammeln sich um die Pfähle. Die Moderatoren vor ihnen, so daß niemand ‚im Bild‘ steht. Die Flanierenden im Hintergrund sind alle aufmerkend stehengeblieben. Roland, der bisher aus Trotz, nachdem er gemerkt hat, daß niemand ihn interviewen will, Akten geordnet hat, legt diese nun weg.

PARKSCHREIER grinsend: Höchstverehrte Damen und Herren! Liebes Publikum hier, vor

den Bildschirmen und in aller Welt! Heute ist es soweit! Der Weltrekord im Pfahlsitzen wird in knapp zwei Minuten neu definiert! Applaus und Jubel. Ja, ich finde, es liegt etwas in der Luft an diesem wunderschönen, sonnigen Spätsommermittag, nicht wahr? Und nicht nur das herrliche Wetter, auch die wunderbare Stimmung hier tragen dazu bei: das ist heute ein besonderer und großer Tag - nicht nur für unsere heldenhaften Pfahlathleten! Sondern auch für den Flachland-Park, für Sohlgau, die ganze Region und den gesamten Pfahlsitzsport, wo immer er auch ausgeübt wird! Diese drei ausdauernden Herrschaften hinter mir sind definitive Weltklasse! Denn nicht von ungefähr habe ich jetzt die Ehre, sage und schreibe vierzig Journalisten hier im Flachland-Park noch schnell begrüßen zu dürfen. Und nicht ohne Grund liest sich die Liste der heute anwesenden Medien wie ein Who-ist-who des erstklassigen Journalismus. Begrüßen Sie also mit mir unter vielen, vielen anderen N3, ZDF, ORB, dpa, AP, „Neue Presse Hannover“, „Flachland-Kurier“, „Landeszeitung Lüneburger Flachland“, „Sohlgauer Stimme“, „Märkische Allgemeine“, „Märkische Oderzeitung“, „Brandenburger Tagesblatt“, „Schwäbischer Bote“, Hitradio Antenne Hannover, Radio BB Potsdam, Radio Ton aus Heilbronn und die exklusiven Fachzeitschriften „Orthopädische Monatspost“, „Chiropraktiker-News“, „Buddhismus heute“, „Psychopathologie morgen“ sowie das Satiremagazin „Britannic“ – herzlich Wilkommen! – Und schon läuft der Countdown. – Noch zwanzig Sekunden! - laut und deutlich, akzentuiert: Hier und jetzt, am 11. September 2001 um 15 Uhr fällt der bisherige Pfahlsitzweltrekord von einhundertvierundsechzig Tagen! Achtung! – Zehn... Neun... Acht... Sieben... Sechs... Fünf... Vier... Drei... Zwei... Eins...- -

Alle zählen laut mit. Zu Beginn des Countdowns beginnt sich der Vorhang zu senken, und zwar gerade so langsam, daß er exakt zur Sekunde Null ganz geschlossen ist. Im selben Moment hört man lautes, den Jubel übertönendes Gedonner.




 
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