06.12.2008

Die Kirche im Dorf - Pro und Contra. Ein Adventsbeitrag.


Es gibt Autoren von solcher offenbaren Nichtigkeit, daß es schon ein Verriss ist, wenn man zu ihren Texten schweigt. Gegen sie zu polemisieren sollte nur in der Adventszeit erlaubt sein. Um die christlich-bürgerliche Kadaverharmonie durch eine partisanische Greueltat zu erschüttern, die unter anderen Umständen unmenschlich wäre... Auch der Einwand, manche hohlen Ziele seien gewissenhafter Polemik gar nicht wert, muß im folgenden mißachtet werden. Denn zum Anlaß für Nettes muß ja nicht nur Nettes, sondern kann und sollte Alles und Nichts werden. Und sowenig wie es 'unwertes Leben' gibt, gibt's eine unwerte Polemik.

Das findet auch der bestbezahlte deutsche Zeitungspraktikant und Sprachrowdy Benjamin von Stuckrad-Barre, dem wir hier erstens nicht weiter die Ehre antun wollen, ihn bei einem so komplexen Namen zu nennen, den auszuschreiben zweitens viel zuviel Zeit verschwendet, so daß wir ihn ab jetzt schlicht Benji nennen werden – ein Nämchen wie ausgedacht für einen professionell pubertierenden Literaturbetriebsbengel. Dem preiswerten Herrenmagazin „Cicero“ hat er irgendwann ein Interview gegeben, in dem sich der Junge ganz schön doll über diejenigen beschwert, bei denen er früher seine Gummibärchen verdient hat, und auch über alle anderen, zu denen ihm nichts einfällt. Darin, daß ihm nichts einfällt, auch zu sonst allem, besteht gewissermaßen seine Sendung: Benji zeigt all denen da draußen, denen auch nichts einfällt, daß selbst sie es schaffen können, dafür auch noch bezahlt zu werden. Damit hat er eine wichtige Position in der Öffentlichkeitsabteilung der kulturindustriellen Müllverbrennung inne.

Ihren Ausgang nahm die dialektische Karriere (das ist eine Karriere, die durch die Person dessen, der sie macht, widerlegt wird) Benjis von zufällig veröffentlichten Schülerstories über Pickel und Liebe mit der stilistischen Aura eines Beipackzettels für Abführmittel. Das meiste seiner Bravoprosa, die gern mit dem Wörtchen 'Pop' etikettiert wird, weil das besser aussieht als 'einlagiges Toilettenpapier' und viel besser paßt als 'Literatur' ohne Pop, ist vom solide-alltäglichen Einfallsreichtum, sagen wir 'mal, eines Mannes, der in seinen Timer unter Montag: „16.30 Zahnarzt“ schreibt. Also einfach, direkt, spontan und autobiografisch. Dorfjugendliche und solche, die es geblieben sind, stehn drauf. Wem Grass halt zu krass ist, der findet seinen knappen Geist in Benjis Sätzen wieder. Er ist der DJ des deutschen Kinderbuchs, und der Beat seiner Schreibe hält in jedem Moment die Amplitude zwischen Trotzphase und Klassenclown. Enden wird seine Karriere sicher dort, wo dialektische Karrieren eben enden: im Wühltisch, im Müll, im Fernsehen, in der Reha – also dort, wo sie schon vorher hauptsächlich stattfand.

In besagtem „Magazin für politische Kultur“ hat Benji fünf erwähnenswerte Sätze fallenlassen, die uns haben aufhorchen lassen und das Fadenkreuz der DWR-Gesinnungspartisanen in seine Richtung lenken mußten (keine Angst: wir schießen nur mit Tintenpatronen!). Diese Sätze haben ihrerseits die mit uns weder paktierende noch befreundete telegene Kommunistin Sahra Wagenknecht zum Ziel und lauten wie folgt:


Aber es geht auch noch schlimmer [als Andrea Nahles, DWR]: Vor kurzem saß ich im ICE von Berlin nach Hannover, in der ersten Klasse, und ein paar Sitze weiter saß Sahra Wagenknecht. Die hätte ich ganz gern in die zweite Klasse umverteilt.


Und am Ende des Gesprächs:


Gut fände ich es, wenn die NPD verboten würde, desgleichen Sahra Wagenknechts kommunistische Plattform. Wer sich offensiv gegen unser insgesamt hervorragendes System richtet, dem sollte das Rederecht entzogen werden und auch die Parteienfinanzierung. Im demokratischen Rahmen aber freue ich mich über jede Art von Zuspitzung, allein aus dramaturgischen Gründen. Aus Versehen führt das nämlich hin und wieder zu wahrhaftigen Momenten.


Den letzten Satz kann man zwar auf zwanzig Arten besser sagen, aber auch so stimmt er – sogar so weit, daß sein Sprecher, aus Versehen ihn bestätigend, es gar nicht merkt: Wahrheit ist von derart in die eigene Neurosen- und Ressentimentstruktur verstrickten Bewußtlosen immer nur „aus Versehen“ zu hören, als 'Wahrheit der Krankheit'. Und selbst ein gedankenleeres Haupt wie das unseres jungen Freundes aus der Papierindustrie kann interessant sein, sobald man eine diagnostische Perspektive zu ihm einnimmt, ihn also ernst nimmt als 'Fall'.

In seiner polemischen Zuspitzung offenbart der rhetorisch freche Lausejunge nämlich, welch gehorsames Kind er tatsächlich ist. Hinter dem narzisstisch-lässigen Gequengel steht ein ichloser Ausbund der Erzogenheit. Ein angepaßter Pastorensohn, der sogar von den ihn umgebenden Erwachsenen noch mehr Anpassung einfordert. Denn Ordnung ist für ihn schon schwer genug zu halten und zu überblicken, und wer das reale Puppenhaus auch noch gründlich ummodeln will, der (oder die) zieht sich den Haß des braven Knaben zu. Den Stellvertreter-Haß des kleinen Wächters, der auf das große Haus stolz ist, vor dem er frieren darf... Wieso dürfen Kommunistinnen überhaupt in der ersten Klasse fahren? braust es aus dem Pop-'Dandy' hervor. Sollte etwa seine ganze Arschkriecherei und Medien-Mitläuferei, all die an sich selbst exerzierten Demütigungen seines masochistischen Ego-Stummels umsonst gewesen sein, wenn man auch als radikale Nonkonformistin und aufrechter Mensch in die erste Klasse gelangen kann? Das darf nicht sein und muß verboten werden! – Hach, welche altbekannte Frische weht in der jungen deutschen Literatur, diesmal zur selbstlosen Verteidigung der verordneten Demokratie. Wer freilich den „demokratischen Rahmen“ so eng setzt, daß derjenigen umstandslos das Rederecht verweigert werden solle, die „unser insgesamt hervorragendes System“ negativ bewertet – eine Bewertung, deren polit-ökonomische Argumentation sich weit in der nie erlebbaren Zukunft von Benjis geistigem Entwicklungsstadium abspielt – und so die Arbeit des Verfassungsschutzes noch besser, ordentlicher machen will, der vertritt ganz offensichtlich eine autoritäre Auffassung von jenem („unserem“) System, mit dem er sich so gerne und vergeblich gleichzusetzen wünscht, die seinen demokratischen Rahmen verlassen hat. Nicht in die Richtung einer demokratischeren und freieren Welt natürlich – aber nein, wer käme denn in unserer hervorragenden Zeit auf die Idee? – sondern in die entgegengesetzte.

So wie es Hippiesöhne gibt, die schlechte Berufssoldaten werden, weil sie sonst künftig nichts Eigenes vorzuweisen fürchten, so gibt es auch die Pastorensprösse, die zu dollen Aufmischern werden wollen: da wird dann schonmal sonntags im Bett liegen geblieben, statt in die Kirche zu laufen, oder expreß ein Kaugummipapierchen aufs Pflaster fallen gelassen etc. Aber keine Angst, Vati, die Kirche lassen sie im Dorf. Und wer sie mal eben im Vorbeigehn anpissen will, dem sagen sie: hey Mann, muß das sein? Find ich nich' so superokeh, ehrlich. Und wer erst die Kirche abreißen und Papi arbeitslos machen will, dem zeigen sie, wes Beffchens Kind sie sind! Wie alle Rebellen, die Provokation statt Kritik üben, kehren sie spätestens dann in den Schoß des Althergebrachten zurück, wenn die Wirklichkeit und Folie ihrer Rebellion tatsächlich erschüttert zu werden droht. Bleibt diese Drohung aus, werden sie trotzdem ein Abbild ihrer Väter, die sie auf dieses Ziel hin erzogen haben, und folgen der ihnen vorgegebenen Entwicklung gemäß der väterlichen Strenge, für die das Aufbegehren nur ein Symptom ist. So daß am Ende alle Schäfchen und Dörfler ruhig aufatmen können, ihre Benjis tätscheln und wahrscheinlich Sachen sagen wie: ein Lausebengel, aber doch ein guter Junge. (Dazu paßt jener peinlich vieldeutige Akt, den Benji bei der Leipziger Buchmesse vorführte, als er Helmut Kohl um ein Autogramm bat, indem er vor dem CDU-Altkanzler auf die Knie fiel...)

Daß die jüngste deutsche Literatur durchaus mehr zu bieten hat als solche Schießbudenfiguren für die Heckenschützen der Polemik-Guerilla, darf am Ende unseres Adventsbeitrages nicht verschwiegen werden. Auch das Phänomen 'Pop', durch die US-Kultur des 20.Jahrhunderts längst ästhetisch geadelt, als Begriff in Deutschland aber vor allem ein Etikett für Nischen der Unfähigkeit und Post-Pubertät, ist selbst hierzulande seriöser als Romane übers Plattenhören. Das beweist zumindest Dietmar Dath, der ehemalige Spex-Chefredakteur, FAZ-Mitarbeiter, Romancier, Essayist und Wissenschaftsautor, nicht nur in seinem jüngsten Interview mit einer hausbacken provokanten „Welt-Online“. Hier kann man auch nachlesen, wie in Krisenzeiten nur über Kommunismus gesprochen werden kann, wenn man sich das Recht aufs eigene Gehirn nicht längst hat rauben oder abkaufen lassen.



13.11.2008

Obama for change! - Das Marketing der unbegrenzten Möglichkeiten

Nach dem griechischen Philosophen Panajotis Kondylis leben wir in einer 'Massendemokratie', in der es zwar kein Eigentum mehr an Menschen, aber auch keine Gleichheit zwischen ihnen gibt: nur eine Masse kulturindustriell abgefertigter, atomisierter Konsumenten, deren soziale, familiäre und politische Bindungen hilflos und beliebig sind. Eine solche massendemokratische Gesellschaft wird von institutionellen Eliten organisiert, deren Öffentlichkeitsabteilung, 'Politik und Medien', vor allem die Aufgabe haben, jenen Widerspruch zu überspielen, der zwischen der ungleichen, ja krisenhaften Wirklichkeit und dem wählerverkäuflichen Programm, den nominell mehr oder weniger sozialdemokratischen Versprechen aller Parteien besteht. – Mit besseren Worten: die intrinsischen Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft, die sich durch die herrschenden Eigentumsverhältnisse trotz demokratisch changierender Verwaltung immer wieder durchsetzen und in ökonomischen Krisen sozusagen rückwirkend offenbaren, werden in der Demokratie des allgemeinen Wahlrechts von eigens dafür bezahlten Parlamentariern und anderen Konsensstimmungsmachern verschwiegen und verschleiert – beziehungsweise, dritte Möglichkeit, oft nicht einmal erkannt.

Die Meister dieser demokratischen Verschleierung nennt man im Fernsehen „Hoffnungsträger“. Sie tragen die ohnehin matte Hoffnung der Zuschauer einige Feierabende lang und dann zu Grabe. Zur Erinnerung: Gerhard Schröder war ein solcher Hoffnungsträger, Tony Blair in Großbritannien, Romano Prodi in Italien und Bill Clinton in den Vereinigten Staaten – und jeder von ihnen war eine umso größere Enttäuschung, gerade weil er ein sogenannter Hoffnungsträger war. Ebenso wird es auch dem soeben gewählten Präsidenten Barack Obama ergehen. Denn Obama wird nicht deshalb selbst im Ausland wie ein Messias gefeiert, weil er ein Messias wäre, sondern weil es diejenigen, die ihn feiern, nach einem Messias verlangt.

Dabei soll gar nicht bestritten werden, daß Obama ein fast sympathisch schauspielernder Politiker ist und es allem Anschein nach über die Maßen unwahrscheinlich ist, daß er noch mehr verschlimmern könnte als sein Vorgänger. Allein die Tatsache, daß ein schwarzer Einwanderersohn in den offensichtlich doch nicht mehrheitlich rassistischen USA zum mächtigsten Mann der Welt gewählt wird, belegt einen im globalen Vergleich einmaligen Vorzug dieser vielgehassten Republik. Obama ist der erste Sohn (oder eher Enkel) des afrikanischen Kontinents, der überhaupt zum Regierungschef eines – nein: des westlichen Staates schlechthin ernannt wird. Doch dieses Ereignis, so unwahrscheinlich es gewesen sein mag, deutet auf nichts sonst hin als darauf, daß es nun doch nicht so schlimm steht mit den Amerikanern wie der Teutoburger Hinterwäldler es gern hätte. Wenn Frauen, Schwule oder Schwarze (Juden werden bis heute nur in Israel gewählt) es bis ins höchste Amt des Staates bringen, sagt das zwar ein wenig übers Wahlvolk, aber überhaupt nichts über den Gewählten oder die Gewählte; das wird im Taumel um soviel Schein-Versöhnliches allzu gern übersehen. (Womöglich könnte man euphorisierte Massen selbst noch um ein leibhaftiges Kalb versammeln, das, statt geschlachtet zu werden, zuvor zum Präsidenten gewählt worden wäre: wie tierlieb wir doch alle sind!)

Auch Obama hat, wie seinerzeit Schröder von Kohl, um einen Vergleich aus der Provinz zu nehmen, vom schlechten Ruf seines unseligen Vorgängers aus dem gegnerischen Lager profitiert, in dessen trübem Schatten auch ein kleines Licht wie eine große Leuchte wirken kann. Bushs Amtszeit war ohne Frage ein beispielloses Desaster, das jedoch keineswegs nur seine Regierung zu verantworten hat: der elfte September und die jetzige Wirtschaftskrise liegen außerhalb von deren Wirkungskreis, auch wenn gern das Gegenteil behauptet wird, und hätten jeden demokratischen Präsidenten ebenso straucheln lassen. Doch auch was die Bush-Regierung tatsächlich zu verantworten hat reicht bei weitem aus, um zu erklären, warum ihr Chef nach CNN-Angaben der „unpopulärste Präsident in der modernen Geschichte der Vereinigten Staaten“ ist: es gibt eigentlich nichts, selbst gemessen an ihrem eigenen republikanischen Programm, was sich im politischen Rahmen der Weltmacht-Verwaltung nennenswert gebessert hätte. Sogar das Wirtschaftswachstum war während Bushs Amtszeit durchschnittlich geringer als in den fünfzig Jahren zuvor; und das obwohl die Steuern für die oberen Einkommensklassen in einem Umfang gesenkt wurden, der selbst das berühmte Rettungspaket mit seinen nominellen 700 Milliarden Dollar um weitere 160 Milliarden übertrumpft. Mit der Staatsverschuldung nahmen, anders als verkündet, auch Arbeitslosigkeit und Armut zu. Und selbst Befürworter des Irak-Kriegs, die zwar nicht mit den Massenvernichtungswaffen, aber doch mit nahezu 1,3 Millionen Regimeopfern und 300.000 Kriegsopfern Saddam Husseins argumentieren konnten, müssen eingestehen, daß die Humanität eines herbeipropagandierten 'Präventivkrieges', der 4.000 amerikanische Soldaten und mindestens 60.000 irakische Zivilisten das Leben gekostet hat, um eine grausame Diktatur durch einen unkontrollierbaren Guerillakriegsschauplatz islamistischer Organisationen zu ersetzen, papierne Theorie geblieben ist.

George W. Bush, um den sich eine ganze Industrie von Spottartikeln und -publikationen ausgebreitet hatte, war fast vom Anfang seiner Präsidentschaft an der Haßdummie all der Unzufriedenen und Ahnungslosen, deren Kritikbedürfnis mangels theoretischer Befähigung durch jenen Hohn ersatzbefriedigt werden mußte, den der doofe Machtlose über den doofen Mächtigen ausschüttet; an ihm bezeichnet er nicht den gesellschaftlichen Mißstand der Macht, mit der er sich bei anderen Gelegenheiten so gern identifiziert, sondern nur den ihm persönlich näheren Mißstand der Dummheit. Denn welches bessere Mittel gegen die eigene Idiotie gibt es als einen zweiten Idioten zu entdecken, den man sich als den größeren vorstellt, um von der eigenen Klugheit träumen zu können? Zu einem nicht geringen Anteil sind es diese Mechanismen, die jetzt Obamas Jubelvolk antreiben, das schließlich aus denselben massendemokratischen Unzufriedenen und Ahnungslosen besteht; aus Leuten also, die beispielsweise in Kalifornien am Tag der Präsidentschaftswahl gegen die kürzlich erst legalisierte Homosexuellen-Ehe votiert haben, kurz bevor sie Obama als ihren Führer in die Freiheit feierten: denn ulkigerweise waren es – Vorsicht, Antirassisten! – 70% der abstimmenden AfroamerikanerInnen, die das Eherecht für gleichgeschlechtliche Partner widerrufen und zugleich einen, den sie für den ihren halten, ins höchste Amt gewählt haben. 'The land of the free' at its best?

Obama gibt den destruktiven Verhältnissen ein sympathisches Aussehen, auf daß die Ungeliebten ihnen endlich wieder in die Arme fallen können. Diese tumbe Gemeinschaftsseligkeit spricht sogar mit der Stimme des politischen Gegners, McCains und Bushs, um alle Amerikaner hinter jenem gesellschaftlichen Projekt zu versammeln, das gerade einmal mehr vernichtend gescheitert ist und das der junge Präsident in eine gloriose Zukunft führen will. Obama und seinem Marketingstab ist es gelungen, die massenwirksame Illusion einer Versöhnung mit gesellschaftlichen Verhältnissen zu erzeugen, innerhalb deren de facto keine Versöhnung möglich ist. Doch bis diese vorerst gut verdrängte Tatsache wieder ans Licht kommt und die Unzufriedenheit zurückkehrt – über zuwenig Geld für zuviele Waren, die einen davon ablenken sollen, daß man immer nur zuwenige von ihnen kaufen kann – wird Obama mindestens eine Legislaturperiode durchregiert haben, auf die vielleicht ein neuer 'Hoffnungsträger' folgen wird, ein neuer 'Wechsel' und eine neue Unzufriedenheit. Denn die Freude über Obamas Wahl hat, wo sie realistisch begründet ist – damit, daß er Bush ablöst, und damit, daß ein Afroamerikaner Präsident werden kann – nichts mit ihm selbst und seiner Politik zu tun. Wo sie jedoch mit ihm selbst und seiner Politik zu tun hat, ist sie nicht realistisch begründet.

Barack Hussein Obama wird nicht zum zweiten Mal die Sklaverei abschaffen (und damit sei keineswegs gesagt, daß es sie nicht mehr gäbe). Er wird die Armut, die Arbeit, das Kreditwesen, die Rassendiskriminierung, die Verdummung und die Gewalt ebensowenig einschränken wie künftige Krisen und Krisenherde weltweit. Sein Bonus ist einzig, daß, wenn er das behauptet, zuviele es ihm glauben – und zwar gerade deshalb, weil die Zustände für sie schlecht sind und bleiben. Die amerikanischen (Sozial-)Demokraten leben, wie ihre europäischen Genossen, von einer großen Lüge, die ihnen zuweilen abgekauft wird, wenn der Preis für Lügen niedrig ist, also dann, wenn die Christlich-Konservativen gerade regieren – von der Lüge nämlich, daß alles, so wie es ist, ganz gut sein könnte. Dieser Irrtum hält sich, wie jeder Glaube, gerade durch seine Falschheit am Leben: denn was nicht falsch ist – ist auch nicht ermutigend.

Selbst der amerikanische Traum ist eben nur ein Traum, zumindest solange sich zuviele noch darüber freuen wollen, daß sie ihn träumen dürfen. Und sobald es nur ein bißchen knirscht im Gebälk einer auf fundamentale Gegensätze gebauten Gesellschaftarchitektur, liegt der Träumer schon wach und die Wirklichkeit geht ungehindert weiter, als ob Obama nie geboren wäre.


03.11.2008

Matt mit Marx

Anläßlich der eben zuende gegangenen Weltmeisterschaft im Königsmord hier eine Partie aus dem Jahre 1867, die bei „einer Gesellschaft des Schachmeisters Gustav R. L. Neumann“ zwischen zweien seiner Gäste stattfand, deren einer ein gewisser Meyer war, der gegen einen anderweitig bekannt gewordenenen Königsmörder aufgeben mußte, in dessen aktuellster Biographie man die Aufzeichnung dieser Partie auch nachschlagen kann (Francis Wheen: Karl Marx. München 2002). Marx spielt Weiß:


1.e2-e4 e7-e5
2.f2-f4 e5 X f4
3.Sg1-f3 g7-g5
4.Lf1-c4 g5-g4
5.o-o g4 X Sf3
6.Dd1 X f3 Dd8-f6
7.e4-e5 Df6 X e5
8.d2-d3 Lf8-h6
9.Sb1-c3 Sg8-e7
10.Lc1-d2 Sb8-c6
11.Ta1-e1 De5-f5
12.Sc3-d5 Ke8-d8
13.Ld2-c3 Th8-g8
14.Lc3-f6 Lh6-g5
15.Lf6 X Lg5 Df5 X Lg5
16.Sd5 X f4 Sc6-e5
17.Df3-e4 d7-d6
18.h2-h4 Dg5-g4
19.Lc4 X f7 Tg8-f8
20.Lf7-h5 Dg4-g7
21.d3-d4 Se5-c6
22.c2-c3 a7-a5
23.Sf4-e6+ Lc8 X Se6
24.Tf1 X Tf8+ Dg7 X Tf8
25.De4 X Se6 Ta8-a6
26.Te1-f1 Df8-g7
27.Lh5-g4 Sc6-b8
28.Tf1-f7 Schwarz gibt auf.


Nächste Woche an dieser Stelle: Lenins Blitzpartie gegen Zar Nikolaus II.

16.10.2008

Materiale Nöligkeit

Der Musikjournalist verhält sich zum Journalismus allgemein wie die fehlende Zunge zum Stottern:

Als Racheengel des Walking-Bass bezwang Marc Ribot im Zeichen der verminderten Quint noch jedes Stück und erfand so auf den großen Alben von Tom Waits und John Zorn die Rhythmusgitarre neu. Wohin es ihn später stilistisch auch trieb: Der Gestus, der Klampfe noch einen letzten Sinn abzuringen, während man schon im Begriff ist, dieser den Hals umzudrehen, umschreibt die Urszene, in der Ribots Ton erzittert. Fünfzehn Kompositionen für Sologitarre als 'Exercises in Futility' zu veröffentlichen mutet da nur konsequent an. Doch diese mit delikater Beharrlichkeit präsentierte Phänomenologie des Klangspektrums und der Betastungsmodi der Konzertgitarre zeigt nur, wie falsch es wäre, Ribots methodischen Nihilismus für materiale Nöligkeit zu halten.


(Alessandro Topa in der FAZ vom 30.9.2008.)


Aber wir wollen dieses Thema nicht beenden, ohne einmal kurz den Altpusher der popjournalistischen Metaphernekstasen Dietmar Dath zu zitieren, der in der Rezension eines neuen Heavy-Metal-Plättchens also sprach:

Die Gangart heißt hier nicht selten Galopp, da trampelt dann eine Herde amphetamingefütterter Bonanzapferdchen die Prärie zu Bruch, und der Erlkönig spuckt Scharlachverwehungen in den Sturm.


Mensch Popper, prüf doch mal den Wahrheitsgehalt des Satzes!

03.10.2008

Drowning by numbers - die eine Krise der Finanzwirtschaft, des Neoliberalismus und der Sozialdemokratie


Der Republikaner Jeb Hensarling aus Texas hat die am Montag im US-Kongreß abgelehnte Staatshilfe von 700 Milliarden Dollar für die moribunden Banken als ein slippery slope to socialism bezeichnet. Während die Mehrheit der Demokraten für den Sozialismus votierte, haben zwei Drittel der Republikaner (133/198) die von ihrer eigenen Regierung ausgehandelte Hilfsmaßnahme für die Finanzunternehmen durchfallen lassen – vermutlich vor allem deshalb, um bei den Wählern ihrer Wahlkreise erstens nicht als Steuergeldschänder und zweitens nicht als Sozialisten dazustehen: political suicide wäre das gewesen.

Und Jeb Hensarling übertreibt keineswegs: als „sozialistisch“ kann man es durchaus bezeichnen, wenn der Staat Teile der Finanzindustrie praktisch aufkauft – denn als Sicherheit für die 700-Milliarden-Hilfe waren Anteile an den Beliehenen verabredet, so daß man zurecht, wie Herr Piper in der „Süddeutschen Zeitung“, von einer Verstaatlichung sprechen kann. Für die nicht nur auf republikanischer Seite hegemonialen Neoliberalen nicht nur im US-Kongreß eigentlich inakzeptabel; 'eigentlich' deshalb, weil die Alternative zum Sozialismus die gar nicht unwahrscheinliche Gefahr darstellt, daß weitere Großbanken kollabieren und die Krise letztlich, durch eingeschränkte Kreditvergabe an Unternehmen, auf die reale Wirtschaft übergreift. Also Massenarmut oder Sozialismus? Wohl kaum, denn wer einen riskanten Gratis-Kredit an trudelnde Finanzriesen aus dem Steuerfonds als „Sozialismus“ bezeichnet zieht einen bildhaften Vergleich, den man nicht allzu ernst nehmen darf.

Doch was wäre die Alternative zum notwendigerweise übereilten und möglicherweise ergebnislosen Einsatz von fast 5% des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts – was etwa 1,5% dessen ausmacht, was die Welt in einem Jahr (2004) erwirtschaftet – auf die roten Zahlen des Finanz-Roulettes? Eine weiter fortschreitende Kettenreaktion von Zusammenbrüchen, vor der letztlich weder das Ersparte noch die Renten hilfloser US-Bürger sicher sind, Insolvenzen in der realen Sphäre, Massenentlassungen, und all das in abgedämpfer Form auch in Europa – das kann man zwar sicher nicht als „sozialistisch“, aber auch kaum als bessere Entscheidung oder irgendwie 'volksnäher' bezeichnen.

Dieses Dilemma ist nicht zufällig, sondern politisch erzeugt. Es ist planvoll und risikobereit realisiert und ausgebaut worden. Denn die Situation, in der die Bevölkerung gar keine Wahl und die Regierungen nur die Wahl zwischen zweierlei Schädigung ihrer Bevölkerung haben – Steuerversenkung oder Verarmung – ist das Ergebnis jahrzehntelanger globaler und nationaler Wirtschaftspolitik unter neoliberalem Diktat, i.e. einer Herrschaftssituation, die durch strukturelle Markt-Mechanismen, immer weiter akkumulierte Kapitalinteressen und einen kaum mehr überschaubaren Lobbyismus hergestellt und aufrechterhalten wird. Seit Mitte der 1970er Jahre ist mit der Aufkündigung fester Wechselkurse und einer immer begeisterteren Deregulierung der Kapitalmärkte, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch gegenteilige Maßnahmen stabilisiert worden waren, der Spielraum für riskantes Finanzinvestment erst politisch geöffnet worden – mit den gegenwärtigen Folgen. Kaum ein Ökonom leugnet das heute. In der aktuellen Krise werden die Fehler der Banken inzwischen sogar von denselben Ökonomen als vermeidbar dargestellt, die bis dato gerade ihre prophylaktische Vermeidung für den größten ökonomischen Fehler gehalten haben: mehr Regulierung oder zumindest bessere Regulierung fordern selbst die pseudowissenschaftlichen Anhängsel der sogenannten „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ – 'Deregulierung' zu fordern, wie bei zahllosen Gelegenheiten zuvor, scheint selbst ihnen momentan nicht günstig.

Aber was heißt das schon? Die emanzipierte Gesellschaft wird damit nicht ausgerufen. Ganz im Gegenteil sogar führt die gegenwärtige Krise letztlich doch nur zu einer Neujustierung der Finanzmärkte, die den Kapitalismus in eine stabilere Phase eintreten läßt, von der die anti-neoliberalen Kapitalismusakzeptierer wähnen werden, daß sie gerechter sei. Hierzu sei einmal die in den ökonomischen Belangen ihrer Herrschaft perfekt ausdressierte Kampfhenne der FAZ, Fräulein Heike Göbel zitiert:


Selten war die Stunde günstiger für eine Abrechnung mit den Anwälten einer liberalen Marktordnung als in dem Moment, in dem die Wall Street - Inbegriff des Kapitalismus - vorübergehend verstaatlicht wird. Doch das Triumphgeheul könnte sich rächen, weil es die falsche Erwartung nährt, Politik sorge dafür, dass künftig alles besser werde. Auch Steinbrück geht ja nicht so weit, die marktwirtschaftliche Ordnung als solche in Frage zu stellen. Wer die Vorteile des dynamischen Wettbewerbs will, der den enormen Wohlstandszuwachs in der Welt ermöglicht hat, der muss mit den Nachteilen leben - und Rückschläge bis hin zur Krise aushalten.“


Barmherzig übersehen wir die stümperhafte Stilblüte des 'sich rächenden Triumphgeheuls', um zunächst einmal einen Moment lang innezuhalten und uns zu verneigen vor der kaltblütigen Opferwilligkeit dieser Frau, die um nicht näher bennenbarer “Vorteile des dynamischen Wettbewerbs“ willen (unbezahlte Überstunden? unbezahlte Praktika? Lohnstagnation? Billiglöhne? Burn-Out-Syndrom? Mobbing? Abbau von Arbeitnehmerrechten? asoziale Wirtschaftlichkeit an Universitäten und Krankenhäusern? dynamischer Waffenhandel mit Islamisten? oder gar die Marktführer der Unterhaltungsindustrie für den lauschigen Feierabend?) offenbar im Ernstfall selbst den Verlust ihrer angesparten Rente hinzunehmen gewillt wäre. Verneigen wir uns auch, kurz, vor dem messianischen Potential einer Redakteurin für Wirtschaftspolitik, die von solcher Unkenntnis beseelt ist, daß ihr gar ein „enormer Wohlstandszuwachs in der Welt“ vorschwebt. Welche Welt sie damit meinen mag? In dieser jedenfalls ist die Tendenz sowohl in den 'ökonomisch sich entwickelnden Staaten', wie der hungernde Teil der Welt im Regierungssprech heißt, als auch in den Industriestaaten gerade gegenläufig: sieht man einmal von China ab, das wohl keine Wettbewerbsdynamikerin als liberales Musterbeispiel würde anführen wollen, ist die Anzahl der in 'absoluter Armut' mehr oder weniger Lebenden (von weniger als 1 $ pro Tag) in absoluten Zahlen gestiegen, die Anzahl der von weniger als 2 $ pro Tag Lebenden ('moderate poverty' nennt das die Weltbank) gleichfalls, und obwohl dieser Prozentsatz in den vergangenen dreißig Jahren gesunken ist, beläuft er sich heute noch auf 55 % der Weltbevölkerung – eine Zahl, die seit 2001 wieder wächst; anteilig hat sich die 'absolute Armut' jedoch weder im subsaharischen Afrika noch in Lateinamerika, weder in Osteuropa noch in Zentralasien oder Teilen Südasiens seit 1980 auch nur um einen halben Prozentpunkt verringert, sondern teils sogar krass verstärkt1. In den Industrieländern, deren Armut nicht schon durch Einführung des Pflugs oder Brunnenbau statistisch abgeschafft werden kann und die allein deshalb einen besseren Maßstab für die Beurteilung etwaigen 'Wohlstandszuwachses' abgeben, weil außerhalb von ihnen ja überhaupt keine Prosperität existiert, die zunehmen könnte, ist ein solcher „enormer Wohlstandszuwachs“ schon gar nicht mehr belegbar: in den USA ist die Zahl der Armen seit 2000 um sechs Millionen gestiegen; in Deutschland steigt das Armutsrisiko seit fünfunddreißig Jahren tendenziell stetig (von 8,7% 1973 auf 13,5% im Jahr 2003), die Reallöhne sinken, und während das Nettoeinkommen der reichsten 10% der Bevölkerung zwischen 1992 und 2006 um 31% gestiegen ist, sank das des ärmsten Zehntels um 13%. Damit verfügt in Deutschland das reichste Zehntel der Bevölkerung über 56% des gesamten Privatvermögens, während die ärmere Hälfte des Landes über nur noch 2% des Privatvermögens verfügt – in den USA würde dieses Verhältnis allerdings von manchen schon als „slippery slope to socialism“ gewertet. Genau diese Verteilungsstatistiken sind es, welche die liberale Wachstumspropaganda konterkarieren: denn gerade weil das Welt-Bruttoinlandsprodukt in immensem Maße wächst – allein in den letzten zehn Jahren hat es sich nahezu verdoppelt – ist es umso offensichtlicher, daß das solchermaßen wachsende Wirtschaftssystem eben nichts mit dem Wohlstand der Menschen zu tun hat, der im selben Zeitraum gesunken ist – und ist es umso rationaler, umso legitimer, umso nötiger und umso realistischer, einen Wohlstand für alle zu fordern, wie es ihn bisher nicht gab und schwerlich geben konnte. Wie alle Liberalen, die sich in der Öffentlichkeit als Humanisten gerieren, wo sie doch nur Humankapitalisten sind, lügt auch Fräulein Göbel 'Wachstum' schlicht zu 'Wohlstand' um. Aber „Wohlstandszuwachs“, das muß die verantwortliche Redakteurin des FAZ-Wirtschaftsressorts vielleicht auch erst noch lernen, ist eben nicht äquivalent mit steigendem Bruttoinlandsprodukt. Und die wortwörtlich mangelhafte Wirtschaftsform, in der genau das zwingend nicht der Fall ist, nennt man – na? Richtig, Göbel: Kapitalismus.

Doch auch wenn man nicht halb verstanden hat, worum es beim Kapitalismus geht, kann man immer noch einem Sozialdemokraten in dieser Frage weiterhelfen. Der versteht nämlich noch weniger. Den immanenten Widerspruch aller Sozialdemokratie (auch und gerade außerhalb der SPD), gegen eine Wirtschaftsform zu agitieren, die man doch nur genau so weit verändern möchte, daß sie sich eben gar nicht ändert, sondern ihre asoziale, Menschen zu menschlichem Kapital degradierende Tendenz beibehält – den hat Frau Göbel ganz nebenbei perfekt pointiert. „Auch Steinbrück geht ja nicht so weit, die marktwirtschaftliche Ordnung als solche in Frage zu stellen.“ Das zu verschweigen, aber dennoch so zu tun, ist Steinbrücks Aufgabe als sozialdemokratischer Finanzminister – in der momentanen Krise scheinbar ein widersprüchliches Amt, das unser Peer aber genauso sicher meistern wird wie der Putzgruppen-Pazifist den Jugoslawienkrieg; und sind denn das nicht lehrreiche Belege für die Macht der Strukturen und die Ohnmacht der Personen? Innere Widersprüche sind eben keine, und ein kurzes Flackern des Gewissens, während man den Abzug drückt, wiegt leichter als ein Furz. Doch ein Soldat, der nicht den Abzug drückt, ist bald keiner mehr – und wer will in Krisenzeiten schon den Job verlieren? „Wer die Vorteile des dynamischen Wettbewerbs will“ muß, wenn er den Wettbewerb verliert, die Klappe halten – anstatt einer Partei beizutreten, die den Wettbewerb kritisiert, an dem sie selbst teilnimmt. Damit trifft Göbel die Sozialdemokratie und alle ihre Sympathisanten, denen auch keine Alternative zum mehr oder weniger freien Markt einfallen will, an ihrer empfindlichsten Stelle. Die 'Godesberger Krankheit', längst in ihr Endstadium eingetreten, wird diese Mischung aus gutgemeinter Dummheit und bauernschlauem Karrierismus ungefähr dann aus den Parlamenten hinwegraffen, wenn nach einer selbstzufriedenen Regulierungsphase die nächste Krise ansteht. Denn auch der Neoliberalismus ist nicht abwählbar durch eine sozialverträgliche Kapitalismus-Verwaltung: eine solche gibt es nicht und hat es nie gegeben, sie ist nichts weiter als die gute Fee aus dem sozialdemokratischen Märchenbuch, das man den Schmuddelkindern zum Einschlafen vorliest. Reguliert werden muß nicht die Peripherie, sondern das Zentrum, damit sich die krisenhaften Zustände ändern.




1Diese Zahlen sind schwer zu erheben, von vielerlei rechnerischen Kriterien abhängig, schwierig zu vergleichen und nicht zuletzt politisch umkämpft. Als Quellen benutzen wir daher nicht zufällig die UN und die Weltbank, also Institutionen, die man kaum globalisierungskritischer Zahlenspiele bezichtigen kann; und auch deren Zahlen reichen aus, um ihre Politik anzugreifen. - Anders als Lori Wallach in seinem Aufsatz über die WTO im „Schwarzbuch Globalisierung“ (hg. v. Mander/Goldsmith, München 2002) wollen wir hier nicht verschweigen, daß „die Befürworter der WTO“ auch dann damit recht haben, daß der Anteil der 'absolut Armen' an der Weltbevölkerung zwischen 1981 und 2001 zurückgegangen ist, wenn man Chinas Entwicklung aus dieser Rechnung herausnimmt; im Gegensatz zu Wallach haben wir uns die Mühe gemacht, das auszurechnen und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß auch ohne China die 'absolute Armut' weltweit von 28% im Jahr 1990 auf immerhin 26% (statt mit China 21%) im Jahr 2001 zurückgegangen ist, während sie im Jahre 1980 noch bei 40% gelegen hat; ja selbst die globale 'moderate poverty' (weniger als 2 $ pro Tag ist von 67% im Jahr 1981 auf 53% 2003 gesunken (Chen/Ravallion: "How have the world’s poorest fared since the early 1980s?“ The World Bank Research Observer 2004. http://www.undp.org/povertycentre/publications/poverty/Chen_Ravallion_WBRO_fall_2004.pdf S.15). Diese Fortschritte zu leugnen ist das Anliegen derer, die zur Pflege ihrer pubertären politischen Identität die These 'Kapitalismus/Globalisierung ist böse' gegen manchen Widerstand der Realität aussitzen müssen; wessen politisches Denken sich auf Transparenten erschöpft muß sich eben kurz fassen... Ihnen sei ein großer Sohn des Kapitalismus vorgelesen, der schrieb: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation“ und „[e]rst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann.“ Nichtsdestotrotz kann man weder aus dem Innovationspotential des Kapitalismus seine endgültige Legitimation (vgl. ebenfalls Marx) noch seine zivilisatorischen Verdienste von einer „liberalen Marktordnung“ ableiten, wie sie ohnehin erst ab den 1970er Jahren politisch Gestalt gewinnt; wenn zur 'Schaffung eines freien Marktes' in Entwicklungsländern zunächst einmal Straßen und Schienen gebaut werden müssen, kann man die darauf sich einstellenden Verbesserungen wohl kaum dem Neoliberalismus gutschreiben. - Eine rigide und präzise Kapitalismuskritik sollte sich daher, ohne die tödliche Armut agrarischer Regionen zu übergehen, dennoch auf jene Zustände in den ökonomisch zivilisierten Ländern konzentrieren, an denen das wesentlich Unmenschliche dieses Wirtschaftssystems erst sichtbar wird, das neben dem oft prähistorischen Kampf abseits jeder Zivilisation noch menschlich wirkt, ohne es zu sein.




26.08.2008

Und täglich grüßen die Reformen

Ursachen und Aussagen der Reform-Ideologie in der deutschen Tagespresse. Sprachkritische Überlegungen.



1. Rahmenbedingungen: die Meinungswirtschaft


Menschen mit historischem Bewußtsein, deren Denken und Fühlen nicht restlos in der fetischisierten Produktwelt aufgeht und die zur gesellschaftlichen Gegenwart noch jene kritische Distanz pflegen, die sie zuallermindest aufgrund ihrer Gewordenheit verdient, wird bei der Zeitungslektüre regelmäßig auffallen, wie sehr sich Aktuelles wiederholen kann. Sobald man sie mit etwas mehr Verstand liest als sie verträgt, erscheint einem jede tägliche Ausgabe wie ein schlecht verhüllter Widerspruch: die Neuheit, deren Verkauf überhaupt erst die Existenz von Tageszeitungen begründet, wird bezahlt, ohne verkauft zu werden – und zwar nicht nur, weil die Verkäuflichkeitskriterien eine bestimmte Content-Menge ausfiltern, die so immer wieder in möglichst geringen Variationen verkauft wird.

Folgt man der üblichen Trennung zwischen Information und Meinung, welche die Zeitung als quasi-automatisierte Faktenfirma mit kommentierender Belegschaft vortäuscht, so wiederholen sich selbst die informationsbetonten Texte, denen vor allen anderen die Pflicht zur Neuheit zufällt: ob durch die Fokussierung aufs wahlstrategische Einerlei aus dem Erziehungscamp der deutschen Innenpolitik, wo eine volkspädagogische Alibi-Debatte nach der anderen angezettelt wird und fast achtzig Millionen psychosozialer Problemfälle mit Verlautbarungen zum Germanenaussterben, zu Kindergrundrechten oder Managergehältern beschäftigt werden; oder schlicht durch die Vorhersehbarkeit gewisser ökonomischer Entwicklungen, längst vorgeformter Metamorphosen des Kapitals, die etwa in Form von Entlassungsmeldungen auf der Titelseite überraschen sollen. Schon daß Ereignisse dieser Art in der Schlagzeile als rechtmäßig ausgerufene Neuheiten geprägt werden, deren jeder einzelnen seine Aufmerksamkeit zu widmen wichtig sei, verschleiert den Charakter eines Wirtschaftssystems, in dem solche 'Neuheiten' überhaupt keine Ereignisse, sondern konstitutive Eigenschaften darstellen. Es ist albern, nachdem man ins Wasser gesprungen ist, Aufmerksamkeit dafür zu verlangen, daß man tatsächlich naß geworden ist. Gerade das ist aber Zeitungsamt. Was die Meinungstexte anlangt, so wiederholt sich das Gelesene natürlich noch viel häufiger. Die Meinung steht ja gewissermaßen in komplementärem Gegensatz zum Neuen, auf das die Tagespresse trotz Internet noch immer Anspruch erheben muß, um nicht erfolglos mit Wochenzeitungen, Magazinen oder dem Buchhandel konkurrieren zu müssen. Ihre Ausformulierung impliziert einen unbewegten Standpunkt, einen Aktuelles überdauernden Maßstab, an dem sich das vorbeiziehende Zeitgeschehen messen läßt. Das ist jedoch die schwächste Ursache für mitunter satzgenau redundante Meinungstexte.

Gerade die großen überregionalen Tageszeitungen, die durch ein eigenes Profil im Konkurrenzkampf zu bestehen und vordefinierten Lesern zu entsprechen versuchen, definieren sich über jene Redundanz, die notwendig ist, damit man die Zeitung über einzelne Artikel hinaus als einen und denselben Text lesen kann, dessen Kohärenz eben genau ihr Profil ausmacht. Die Zeitung X muß als X erkennbar sein, wenn sie den Leser binden, also den Schein erwecken soll, daß man an ihrer Statt nicht ebensogut Y kaufen könnte. Diesen Schein erweckt sie vor allem durch Meinung. Sie ist beinahe schon die ganze Identität eines Blattes, macht die Zeitung inhaltlich erst zu einer Zeitung, sie ist das Bindemittel zwischen einzelnen Beiträgen, Ressorts, Ausgaben und nicht zuletzt Anzeigen, die dem Profil der Zeitung entsprechen1. Meinung ist für eine überregionale Zeitung der politische Vorwand für ihre Wettbewerbsfähigkeit: sie ist wesentlicher Bestandteil der Marke, die es, wie man in der Werbesprache radebrecht, 'zu kommunizieren' gilt. Der Markt bestimmt sozusagen einen Soll-Wert der Zeitungsmeinung, ein Zu-Vermittelndes, das die faktisch publizierte Meinung bestimmt, die wiederum die Meinungsbildung der Leser beeinflusst, welche so letztlich zu ebenjenen Ansichten tendieren, die ihnen verkauft werden, damit sie einen Grund haben, sie auch weiterhin zu kaufen. Diese Zweideutigkeit des Konsums, der das Bedürfnis befriedigt und zugleich neu schafft, haben schon Horkheimer und Adorno für die Kulturindustrie als „Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis“2 benannt.

Sobald sich dieser Zirkel geschlossen hat und zwischen Zeitungskauf und Lesermeinung sozusagen eine reflexive Kausalität besteht, ist der marktstrategische Idealzustand eingetreten: die Identifikation mit dem Produkt, in diesem Fall des Lesers mit 'seinem' Blatt (ablesbar zum Beispiel am ostentativen Parken pseudo-anspruchsvoller Printmedien mit dem Titelblatt nach oben auf dem Nebensitz im ICE oder auch an der schlau ins Zentrum der Identifizierung zielenden Werbung einer Tageszeitung, die bei Lektüre die von ihren Lesern imaginierte eigene Klugheit zu bestätigen verspricht). Im Unterschied zu anderen Marken vom Unterhosenhersteller bis zum Nationalstaat, aus deren betriebswirtschaftlich justierten Selbstdarstellungen („Deutschland AG“) sich die Leute ihre illusorischen Identitäten zusammenkehren, besteht jedoch bei Zeitungen tatsächlich nicht nur eine eingebildete Identität zwischen Leser und Blatt; schließlich teilen beide in manchen Fragen dieselbe Meinung, die dem Pendler auf der Zugfahrt seine eigene Interpretation der Demokratie, die mitzugestalten freilich erst die Pressefreiheit möglich macht, erspart und ihm den Kopf freihält für Kredite und den gemütlichen Fernsehabend.

Es entspricht nicht ganz der Auflagenlogik, daß die mühsam kommunizierten Meinungs-Marken überregionaler Tageszeitungen so nah beisammen liegen, daß sie sich regelmäßig überschneiden und dem Profilierungszwang der Blätter zuwiderlaufen. Im Bemühen um die Leserschaft der Mitte sind die Zeitungen – ganz ähnlich wie die Parteien – ebenso wie alle anderen Konkurrenten am totalen Markt dazu gezwungen, sich den sogenannten 'kleinsten gemeinsamen Nenner' zu teilen, der in Wahrheit der größte gemeinsame Teiler ist, durch den man alle potentiellen Kunden dividieren kann: denn je größer die Menge an Individuen ist, die eine Ware ansprechen soll, desto allgemeiner muß natürlich das Bedürfnis sein, das sie befriedigt, das heißt auf desto weniger Eigenschaften eines Individuums muß sie zugeschnitten sein (ist sie beispielsweise auf alle Eigenschaften eines Individuums zugeschnitten, wird sie sich auch nur, in diesem hypothetischen Fall, ein einziges Mal verkaufen können). Für eine Zeitung heißt das: je weniger sie abweicht von dem, was die Leser schon kennen, desto leichter gelingt dem Leser die Identifikation. Je mehr sich die Zeitung einstimmt aufs Unisono der herrschenden Meinung, der aus Allem, was Massen erreicht, sprechenden, stetig repetierten Antworten auf gesellschaftliche Scheinfragen, desto besser wäre ihre Ware – müßte sie nicht zugleich ihre Profilierung einhalten, welche sozusagen die parallele Anforderung an die Zeitungsware ist. Dieses scheinbare Dilemma löst man durch das bekannte Vorgehen, daß man einfach dasselbe anbietet wie die Konkurrenz, nur mit anderer Verpackung. Schließlich ist das Spektrum nicht nur nach unten begrenzt, durch den Kunden, sondern auch nach oben: der Gesinnungsspielraum in gewissen Feldern ist eng für Zeitungen, die nicht nur Auflagen steigern, sondern auch zahlungskräftige Anzeigenkunden akquirieren, Stellengesuche von Marktführern für Führungskräfte schalten und vielleicht in Umfragen unter Opinion Leadern mithalten wollen.

Allein über solche Marktmechanismen pflanzt sich schon die Ideologie von Arbeit, Staat und Neoliberalismus in den eigentlichen Zeitungstext fort, ohne daß es dazu erst der angepaßten Subjektivität eines Lohnschreibers bedürfte. Die schon in Schulbüchern den großen Blättern zugewiesenen politischen Richtungswerte wie „linksliberal“, „konservativ“ oder gar „links“ realisieren sich im Meinungstext der Medien lediglich als Stilunterschiede im selben Konsens. Gerade in Wirtschaftsfragen wird man zwischen gespielten Antipoden wie FAZ und SZ faktisch keine oder nur zufällige Differenzen ausmachen können. Sobald es dann um sogenannte Debatten oder grundsätzliche Erwägungen geht, die mit aktuellen politischen Auseinandersetzungen verknüpft werden, und man sich unter solchem Vorwand einmal mehr auf die Grundfragen unserer westlichen Gesellschaft bezieht, fällt eine inhaltliche Redundanz auf, die so weit reicht, daß man zu bestimmten Fragen ohne Not heute dieselben Leitartikel, Kommentare, Kolumnen und Interviews abdrucken könnte, die vor fünf Jahren schon einmal erschienen sind.

Einer der unbestreitbaren Hits unter diesen Fragen – mit derart hoher Redundanz-Rate, daß an den meisten Zeitungstexten dazu weder der Autor noch der Zeitpunkt des Erscheinens erraten werden könnte – ist das 'Reformthema'. Sobald es in einem Massenmedium eröffnet wird, beginnt jenes Meinungs-Scrabble mit ganzen Sätzen, das dem desinteressierten Publikum als demokratische Kultur verkauft wird: als wären Thesen und Argumente vorher vom Orwellschen Ministerium für Wahrheit ausgegeben worden, werden sie nicht ernsthafter als Spielsteine auf dem Brett der öffentlichen Meinung arrangiert, wobei der Sinn der 'Argumentation' vorab durch die Spielregeln der nicht zu verletzenden Produktionsweise festgelegt ist, deren Konsolidierung ja überhaupt das Spielziel ist.



2. Reformehrgeiz: die Wirtschaftsmeinung


Mustergültiger Beleg dieser ewigen ideologischen Wiederkehr ist ein Ende letzten Jahres von der F.A.Z. veranstaltetes Interview mit dem ersten Mustermann im Staat Horst Köhler, der am Spielbrett mit fischeresker moralischer Augenweitung „eine politische Bilanz des Jahres 2007“ zieht, und zwar unter dem pseudo-nonkonformistischen Titel: „Zur Freiheit gehört Ungleichheit“. Das Interview, das vom F.A.Z.-'Hauptstadtchef' Bannas und natürlich einem der Herausgeber Kohler geführt wurde, beginnt mit der allgemeinen Einleitungsfrage: „Herr Bundespräsident, war 2007 ein gutes Jahr für Deutschland?“ Und man ahnt, nein man kennt schon die Antwort des Weltbankers Köhler, die er leicht variiert auch auf jede weitere Frage mit derselben bauchrednerischen Selbstverständlichkeit wiederholen wird, mit der sie von Seinesgleichen seit etlichen Jahren auf ähnliche Fragen wiederholt worden ist: ja, aber – das heißt nicht gut genug. 'Ja' zu Deutschland („Deutschland ist ein gutes Land“), 'aber' zu seiner noch immer nicht verwirklichten national-ökonomischen Utopie. Denn seit dem Ende der Konfrontation mit dem Realsozialismus, die es einem schwer werden ließ, die marktwirtschaftliche Perspektive bis ins Utopische zu verlängern, ist die ehemals antipodische Rhetorik von der Neuen Gesellschaft, die gerade erst zu entstehen beginne und keinesfalls angezweifelt werden dürfe, in den kapitalistischen Diskurs eingegangen. Nach diesem eschatologischen Dogma hat der Kapitalismus noch nicht einmal begonnen, und alle scheinbaren Nachteile sind nur solche einer Einleitungsphase, die man noch gar nicht kapitalistisch nennen könne, da sie noch traditionalistisch geprägt sei. Erst die überfälligen Reformen führten weiter und immer weiter auf dem Weg zum Heile aller Menschen, das man sich wohl als ein Corporate-Identity-Paradies mit globaler Vollbeschäftigung und verelendeten Marsianern vorstellen muß.

Der Schwabe in mir ist nie ganz zufrieden“, gibt sich Köhler, ehemaliges Mitglied der 'Normannia' Tübingen, stammesbewußt. Denn „der Ökonom [in ihm, Köhler, S.B.] weiß: Der Aufstieg Asiens hat erst begonnen“, und die von dort unwettergleich („Am Kunjunkturhimmel ziehen Wolken auf“) heranstürmenden gelben Horden werden nicht zögern, aus den Schädeln deutscher Reformschluffis ihren Siegestrank zu schlürfen. „Deshalb wünschte ich mir mehr Reformehrgeiz.“ (Konjunktiv!) Von wem? Von unserer ersten Person im Plural natürlich: „Wir investieren – materiell und immateriell – immer noch zuwenig in die Zukunft unseres Landes.“ Da ist sie wieder, die Deutschland AG: das Vaterland als Aktie, in die man 'immateriell investiert', um am Ende natürlich, wie bei Aktien üblich, als glücklicher Mitgewinner seine (immaterielle?) Dividende abschöpfen zu können. Welch ungeheure immaterielle Wertschöpfung das doch damals gewesen sein muß, als man derart immateriell in sein Land investierte, daß es schon wieder in der Materialschlacht endete – wahrlich goldene Zeiten im Vergleich mit unserem heutigen materialistischen Pluralismus von Reformdeserteuren! Denn das ist inzwischen selbst F.A.Z.-Herausgebern aufgegangen, daß sich das Gerücht, hinter der Reformbeterei könnte sich außer Bigotterie nicht viel Heiliges und überhaupt nichts Heilbringendes verbergen, auf ärgerliche Art unter dem Pöbel verbreitet hat, und so fragen sie besorgt ihren Oberherausgeber: „Das Wort 'Reform' scheint zu einem Unwort geworden zu sein. Die Koalitionsparteien scheuen es wie der Teufel das Weihwasser. Woran liegt das?“ Aus einem Katholikenmund wie dem des Redakteurs Bannas kommt einiges zu seinem Sinn, wenn „Reformen“ mit Weihwasser und ihre Gegner mit dem Teufel verglichen werden. Solche bildgewordenen Assoziationen sagen mehr als tausend wohlgesetzte falsche Worte: wandelt sich doch plötzlich eine nüchtern-vernünftige „Reform“ vom demokratisch legitimierten Gestaltungsmittel zur geoffenbarten Glaubenswahrheit, die bekanntermaßen nicht von unten kommt, sondern auf Gipfel-Treffen von höheren Wesen an ihre Propheten und von diesen ans niedere Volk weiterverkündet wird. Da weckt es doch gerechten Zorn mitanzusehen, wie die Menschen um goldene Kälber tanzen statt fromm vom Materiellen abzulassen und als Arbeitskräfte wie als Konsumenten es gering zu achten, auf daß sie dereinst reich (immateriell!) entlohnt würden – in jener Welt, der nimmer Reformen bedürftigen! Doch das grassierende Heidentum droht dieses Ende allen irdischen Elends noch um ein paar Jahre zu verzögern. Der Reformatheismus, graust es Köhler und seine Jünger, greift um sich in Deutschland. „Wir“ sind aus ihrer orthodoxen Perspektive längst vom Glauben, anders gesagt: vom „Wir“ abgefallen. Was notwendigerweise nichts mit irgendeiner politischen Hellsichtigkeit der Deutschen zu tun haben kann als vielmehr mit ihrer Fähigkeit, Kontoauszüge zu lesen. Denn daß das Wort „Reformen“ nicht mehr ist als der Oberbegriff für eine Reihe wirtschaftsliberalistischer Maßnahmen, die zum Abbau von Arbeitnehmerrechten und Sozialleistungen, zu sinkenden Reallöhnen bei steigendem Leistungsdruck und zur sozialen Ausgrenzung immer weiterer Bevölkerungsteile führen, das muß man ebensowenig verstehen wie der Ackergaul die Physik der Peitsche, die er zu spüren bekommt. Verärgert über dessen Sensibilität muß sich der Bauer gar am Ende noch um seine Marktfleckenführerschaft sorgen. Was soll er also tun? Reden kann man mit dem Gaul nicht. Man muß ihn sanfter zwingen...

Der Glaube an die Sache muß die Unannehmlichkeiten übertäuben, damit alle bei der unannehmlichen Sache bleiben. Denn die Sache selbst steht außer Frage wie nur irgendein Absolutum. Verkündigungen stimmen zwar, lassen sich aber leider nicht beweisen, diskutieren oder gar abwählen, sie erscheinen in Stein gemeißelt und müssen nicht konsistent begründet, sondern missionarisch verbreitet werden. Und das ist eine Frage der PR – 'Propaganda' sagt man ja nicht mehr. Folgerichtig antwortet der Präsident auf die bange Frage seiner Missionare nach dem Grund des deutschen Reformunglaubens streng: „Wir haben ein Problem mit dem Erklären, warum Reformen notwendig sind“ (das „wir“ steht jetzt, statt für die Einheit von Sprecher und Publikum, plötzlich nur noch für die Klasse, deren Interessen der Apell an die Wir-Nation verhüllt). Dieses haarsträubende Argument, das jedem logisch subtileren Schimpansen die Tränen in die Augen treiben würde, ist in den letzten Jahren von zahllosen Politikern, Wirtschaftsvertretern, Verbandsfunktionären und ihrem parasitären Medien-Umfeld aus Leitartiklern und Werbepausenvorbereitern mit einer Selbstverständlichkeit nachgebetet worden, daß es nach Zensur schriee, wenn es denn nicht schon Zensur wäre. Tatsächlich findet man schwerlich einen Satz von einem ihrer Repräsentanten, der in solcher unwillkürlichen Prägnanz die „Demokratie“ – denn man muß sie allein dieses tausendfachen Mantras wegen schon in Anführungszeichen setzen – als reine Kulisse beschreibt. Wer so unvermittelt die Vermittlung als das eigentliche, ja einzige Problem benennt, der ignoriert geflissentlich all die Probleme, welche die Bevölkerung, deren Probleme wahrzunehmen die eigentliche und einzige Aufgabe des Sprechers wäre, ganz offensichtlich mit seinen „Reformen“ hat. Schon wenn Köhler sagt „wir haben ein Problem“, übergeht er dreist, um wessen Problem es sich dabei tatsächlich handelt, nämlich um das seines nominellen demokratischen Souveräns, dem er keine Mitsprache mehr einzuräumen scheint (nicht nur hierin sind Köhler & Co. formal Leninisten). Doch wenn die Deutungshoheit darüber, was ein Problem für jemanden darstellt, nicht einmal mehr beim sogenannten Individuum liegt, sondern bei den Unternehmensführungen und -beratungen, nach deren Begriffen es veranschlagt wird und „Reformen“ überhaupt erst „notwendig“ werden, darf man sich dann nicht getrost als deren Eigentum bezeichnen? – Nein, darf man nicht. Sowenig wie ein eigenes Leben, nach dessen Zielen er eigene Probleme ausmachen dürfte, wird dem Sklaven das Recht zugestanden, Sklave zu heißen: man nennt ihn lieber „Bürger“.

Daß die „Reformen“ selbst und was sie scheinbar notwendig macht ein Problem sein könnten, nämlich für diejenigen, die sie vor allen zu spüren bekommen, und zwar eines, zu dem es Alternativen gäbe, wenn man sich denn darüber verständigte, das wird so einhellig verneint, daß es schon gar nicht mehr erwähnt wird: in allen genannten großen Tageszeitungen, deren erste Sätze aller Kommentare überhaupt nach diesem Vorverständnis erst einsetzen, mit dem Apriori aus Fetischisierung und ideologischem Konsens, wäre ein grundsätzlicher Zweifel an Reformpolitik ein Zeichen von unseriösem Rabaukentum. Wer sich geschäftsmännisch kleiden will, darf eben die Krawatte nicht auslassen. So verkommt auch ein Interview wie das der F.A.Z. mit Köhler unweigerlich zu einem verständnisinnigen Treffen, bei dem alle Fragen, die den Namen verdienen, längst vom ideologischen Apriori beantwortet und verstummt sind, so daß nichts mehr zu tun bleibt als jene Floskeln des rhetorischen Abnickens auszutauschen, die daraus folgen. Weil so vieles gar nicht mehr zur Diskussion steht, ist nur noch wenig übrig, das man diskutieren kann, und will man aus diesem Wenigen jeden Tag eine Zeitung zusammenstellen, wird man sich zwangsläufig täglich wiederholen.

Fest im Glauben, zweifeln die Kreuzritter sogenannter 'Sachzwänge' nicht eine Sekunde lang an 'der Sache', wie man früher schon sagte, wenn man Vernunft und Verblendung nicht mehr unterscheiden konnte, und sind deshalb auch frei von Schuld und Skrupeln, wenn die ein- und andere Million an materiellen Humaninvestitionen der nun einmal notwendigen Sache geopfert werden und so zumindest einige Menschen nicht mehr dafür zu begeistern sind. Ihr Unwille hat dann aber plötzlich nichts mehr mit der Sache zu tun, dies schließlich wert wäre, sich für sie zu opfern, sondern damit, daß sie die werte Sache und den Sinn des Opfers schlicht nicht sehen – was ganz danach klingt, als ob es um eine immaterielle, sozusagen geistliche, womöglich gar nicht vorhandene Sache ginge, deren Seher und Verkünder seit alters blind sein können, weil sie statt zu sehen Visionen haben.

Nicht nur mit diesem Dogma von der gegen jeden Einwand immunisierenden Utopie, die alles Leiden („Reformen müssen wehtun“) auf dem Weg zu ihr legitimiere, weil sie in historischer Zukunft das Leiden insgesamt beenden wird, wenn man nur jetzt nicht umkehrt, sondern wacker durchhalte, erinnern demokratisch kostümierte Neoliberale an den von ihnen zum düstersten Negativ verwischten Realsozialismus. Auch ihre Rousseaus volonté générale beerbende Doktrin, daß die wahre Demokratie darin bestehe, die Leute vor ihrer eigenen Dummheit zu bewahren, steht schon bei Lenin – und hier wie dort ist ihre Praxis die Gängelung der jeweiligen Bevölkerung mit der Begründung, sie erst zu befreien, wozu es eben elitärer Hilfe bedürfte. Es ist kein Zufall, daß Köhler in diesem Interview, sich selbst widersprechend und entlarvend, immer wieder darauf hinweist, wie sehr er doch an die Menschen glaube. „Wir können die Bürger ruhig ernst nehmen“, heißt es da etwa wenige Zeilen später in lustigem Gegensatz zu ihrer zuvor bedauerten Reformscheu: „Ich schätze ihren gesunden Menschenverstand hoch ein.“ Das hört so mancher kluge Kopf sicher gerne. Und als wäre die Schleimerei nicht schon überdeutlich, setzt Köhler, der schon einmal Interviews aufgeführt hat unterm Titel „Offen will ich sein – und notfalls unbequem“, noch einmal nach: „Meine Erfahrung ist: Die Leute wollen mitdenken, und wenn sie richtig angesprochen werden, dann machen sie mit.“ Vergessen wir den ersten Teil des Satzes, denn den kann nicht einmal ein Kopf wie Köhler ernst meinen, der sich doch fleißig dafür einsetzt, daß die Leute zum politischen Mitdenken nicht mehr in der Lage sind, und hören wir stattdessen auf den zweiten, einen an sich schon verdächtigen Konditionalsatz „wenn sie richtig angesprochen werden, dann machen sie mit“: was auch immer der „gesunde Menschenverstand“ demnach an Reformkritik zu denken imstande sein möge (viel wird's nicht sein), einer wie Köhler wird nach seiner These immer und unwiderlegbar sagen können, das läge eben nur daran, daß die Bedingung nicht erfüllt worden sei, die klugen Leute auch klug anzusprechen – 'klug' natürlich im Sinne jener taktischen, rein formalen Klugheit, wie sie alle Propagandatäter, Werbeagenturen, parlamentarische wie außerparlamentarische Lobbyisten oder Bundespräsidenten nicht besitzen, sondern anwenden.

Oder es zumindest versuchen. Denn Köhler beweist darin nicht eben große Gaben. Seinerseits im Werbejargon denkend, offenbart er zwar, daß es im langwierigen Reformierungsprozess einfach auf „gute Kommunikation“ ankomme – die Kommunikation der Marke 'Reformen'. Nur glücklicherweise ist er selbst, wie eigentlich jeder seiner Amtskollegen, sprachlich nicht in der Lage, die Wahrheit konsistent zu verschleiern. So scheint der große Reformator in der Tat zu meinen, er schmeichele den humanoiden Rechnungsposten dort draußen, wenn er ihre vermeintlichen Denkfehler dem unrichtigen Ansprechen zuschreibt und so auf die eigene Kappe nimmt, ohne jedoch zu merken, daß genau das impliziert, daß die Hochgeschätzten nur dann das Richtige werden denken können, wenn man es ihnen zuvor richtig eingetrichtert hat. Daß sie von selbst daraufkommen, scheint nicht einmal ein Menschen- und Verstandesfreund wie Köhler zu erwarten. Und zwar nicht, weil die Deutschen seit 1989 noch dümmer geworden wären, sondern weil sie, um darauf zu kommen, worauf sie kommen sollen, gegen ihre individuellen Interessen denken müssen, was nur unter jenem ideologischen Fremdeinfluß gelingt, unter dem es längst selbstverständlich geworden ist. Der „gesunde Menschenverstand“, wie Köhler & Co. ihn schätzen, denkt nicht – er läßt denken.

In diesem Sinne schwadroniert der ehemalige IWF-Strukturanpasser: „Die Demokratie lebt davon, dass die Bürger ihre Grundregeln verstehen, verinnerlichen und bejahen“ und merkt, während er's ausspricht, wieder nicht, was er sagt. Lebt denn der totalitäre Staat nicht auch oder gar viel eher davon, daß die Bürger seine Grundregeln verstehen und bejahen und erst recht verinnerlichen? Als radikaler Demokrat sollte man meinen, daß gerade die Demokratie, zumindest per definitionem, davon lebt, daß „die Bürger“ ihre „Grundregeln“ nicht wie Fische den Haken „verinnerlichen“, also die Normen ihres selbstbestimmten Staates von außen und oben in ihr bürgerliches Inneres nicht hineingeködert kriegen müssen, sondern ganz umgekehrt sie diese Regeln selbst als allererste kennen, nämlich in 'demokratischer Entscheidungsfindung' ihrerseits bestimmen können. War es nicht das, was unser demokratisch legitimierter Reformator sagen wollte? Wollte schon, konnte aber nicht. Denn zu sagen was man sagen will, ohne zu sagen was man meint, ist eine intellektuelle Herausforderung, der selbst die Profis aus Wirtschaft und Politik kaum noch gewachsen sind. Damit bieten sie eine nicht unwesentliche Erkenntnisquelle, sobald man ihren repetitiven Floskelschatz sprachkritisch übersetzt.



3. Sprachkritik: Was ist Wirtschaft an der Meinung?


Vermittelt durch die evidente Wirkung, die das gesellschaftlich determinierte Weltwissen eines Sprechers auf seine Äußerungen ausübt, offenbaren sich nämlich in der sprachlichen Form der Äußerung ihre gesellschaftlichen, etwa ideologischen Voraussetzungen auch dann, wenn der Sprecher diese inhaltlich, je nach Adressaten, zu verschleiern sucht. In den formalen Feinheiten, die er nicht kontrolliert, drückt sich unwillkürlich sein 'Weltbild' aus – und nicht nur seines – wie in einem stilistischen Fingerabdruck. Sobald der Sprecher im Hinblick auf einen bestimmten Adressaten und mit ihm verbundene kommunikative Absichten das eigene Weltwissen reflektiert und beim Sprechen oder Schreiben demgemäß filtert, erzeugt er ein Mißverhältnis der Äußerung zum Weltwissen, eine Dissonanz, die man der Äußerung anhören kann, sofern ihr Emittent kein vollkommener, also auch stilistisch virtuoser Lügner ist. Man kann davon ausgehen: was er eigentlich denkt – oder was ihn eigentlich denkt – wird er uneigentlich sagen3.

Denn da es für die verwaltende Klasse des Kapitalismus darauf ankommt, bei gleichzeitigem Überfluß die Beschränkung durchzusetzen, was wohl kaum einem Verwaltungs-Angestellten verborgen bleibt, dieses Prinzip aber nur dann demokratisch realisiert werden kann, wenn man zugleich sein Gegenteil, Wohlstand für alle propagiert, ist in dieser Sphäre nahezu jeder öffentlichen Äußerung das Mißverhältnis zum Denken des Sprechers, ja zur Wirklichkeit, die er vertritt, anzumerken. Damit nimmt jede solche Äußerung, mehr oder weniger geschickt verdeckt, die penetranten Züge der Werbung und der Propaganda an, mit denen sie die konstante anpreisende Konnotation gemeinsam hat4, die im Wahlkampf und in der Tageszeitung ebenso präsent ist wie beim Börsengang oder im Kino. Aber selbst von dieser unwahren Sprache kann man über das darin bewahrte Weltwissen der Sprecher auf die Welt schließen, in der nicht nur sie leben, sondern wir alle. Wenn Horst Köhler im Interview sagt, um ein letztes Beispiel zu nennen: „Kein Talent in Deutschland darf vernachlässigt werden“, kann man all das nachvollziehen an einem einzigen, dem Sprecher mißratenen Satz, aus dem Menschlichkeit, Fürsorge und das Bemühen sprechen sollen, Aufstiegsmöglichkeiten zu verbessern und so den Zugang zum Wohlstand zu erleichtern. Das moralische Gebot, etwas nicht zu dürfen (eine Redeweise, die ganz besonders in die rhetorische Zuständigkeit des Bundespräsidenten fällt), wird gegen einen emotiv stark besetzten Begriff wie Vernachlässigung ausgesprochen, gegen die Angstvorstellung vieler Menschen „in Deutschland“, die nebenbei nur im Passiv existiert, um keinen Verantwortlichen nennen zu müssen. Der Satz steht in einem beruhigend wirkenden Kontext, in dem die Beschränkung des Wohlstands negativ bewertet, Solidarität dagegen als moralische Prämisse der Politik formuliert wird5. Allein das unbetonte Wort „Talent“, immerhin Subjekt des Satzes, verrät, auf wen sich Wohlstand und Solidarität de facto beschränken, nämlich auf die nützlichen, die profitablen Mitglieder einer Gesellschaft, die ganz ohne moralische Prämissen die unprofitablen (zuerst, die andern später) vom Wohlstand ausschließt; sobald man dieses Wort im selben Satz akzentuiert, spricht er genau das aus, was sein Sprecher weiß und zu verschweigen versucht, um demokratisch kompatibel, das heißt: profitabel zu bleiben. Und selbst wenn dieses elitäre Versprechen unter der Gemeinschaftsduselei sichtbar wird, kommt es noch letztlich der Nachfrage nach dem Profil der Zeitung und den Illusionen ihres Stammpublikums entgegen.






1Je stärker am Markt das Profil einer Zeitung ist, desto eher kann sie sich dann Ausflüge in einen luxuriösen Meinungspluralismus erlauben, der zum Beispiel bei der F.A.Z. vorm Neunzigsten der Oktoberrevolution in einer von Dietmar Dath fabrizierten Laudatio auf Lenin gipfelte: in der Höhle des fetten Löwen dürfen eben hin und wieder auch Kaninchen spielen.

2Adorno, Theodor W. / Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 15.Auflage. Frankfurt: Fischer 2004. S.129.

3So formuliert etwa Victor Klemperer als Arbeitshypothese in dem sprachkritischen Standardwerk „LTI“: „Die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen“ („LTI. Notizbuch eines Philologen.“ 22.Auflage. Stuttgart 2007. S.20). Sprachkritik in diesem Sinne könnte man geradezu als eine Art 'Psychoanalyse des Stils' bezeichnen. Man sollte allerdings hinzufügen, daß es nicht das „Wesen“ des Sprechers ist, das in der Sprache offenliegt, sondern – und dies gilt ja gerade für die LTI (Lingua Tertii Imperii) – vor allem seine gesellschaftliche Prägung.

4Roland Barthes, dem man zumindest nicht vorwerfen kann, gegenüber den Bedeutungen kapitalistischer Alltagskultur insensibel gewesen zu sein, beschreibt diese immerselbe Konnotation, „mit einem Wort, die Vorzüglichkeit des angekündigten Produkts“, in seinem Vortrag „Der Werbespot“, auf deutsch erschienen in „Das semiologische Abenteuer“, Franfurt a.M. 1988, S.181ff.

5Zwei Sätze zuvor erwidert Köhler auf die Frage „Wer bestimmt, was sozial gerecht ist?“: „Aufsteigen zu können ist viel wichtiger als die Frage, wer wie viel verdient.“



(Erstmals veröffentlicht in 'Jungle World' 31/08 am 31.7.08.)



20.08.2008

Kranke Gammler und gesunde Streber



Schon die Namen des Gourmet-Doppelpacks, das die Bildbände „Reiseziele für Lebenskünstler“ zu verantworten hat, klingen wie ihre Schreibe: Martina Meuth und Bernd Neuner-Duttenhofer verstehen unter 'Lebenskunst' weniger die Fähigkeit, das Beste aus etwas zu machen, als vielmehr das Beste dort zu 'entdecken', wo man weniger Künstler als Filialleiter vermutet – nämlich da, wo's teuer ist. Teuer ist natürlich keine Schande. Und nichts gegen Filialleiter. Aber wenn schwäbische Obstbauern („...leben und arbeiten auf ihrem Apfelgut im Schwarzwald“) bei Gourmets sitzen und dann noch drüber schreiben dürfen, kommen Texte raus, die H.G. Wells-Leser und Freunde des gepflegten Zombie-Films an drastische Illustrationen des Klassengegensatzes erinnern: Krankheit und Tod sind keine menschlichen Phänomene, sondern proletarische bzw. untermenschliche.

In Meuths und Neuner-Duttenhofers Prachtband zu BERLIN (2000), der mir heute in der Stadtbücherei Hamburg-Blankenese nach einem Austernessen in die Hände fiel, steht folgendes im Klappentext:


„Berlin – ein Reiseziel für Lebenskünstler? Noch vor fünf Jahren kaum. Es gab schöne Hotels, ein paar gute Restaurants, die lebendige Kunstszene. Aber niemand konnte sich vorstellen, dass Berlin so rasch das gastronomische Zentrum Deutschlands werden würde. Der Kiez der bleichen Stadtneurotiker und Latzhosenmütter in den Szenekneipen mit Pizza, Gazpacho und Muffins bekam Konkurrenz von vitalen, sonnenbraunen Medienmachern, lebenshungrigen Showleuten, ausgehfreudigen Politikern und Diplomaten, selbstbewussten Karrierefrauen und taffen Sekretärinnen, die während der Mittagspause im trendigen Bistro lunchen und abends im cool ausgestatteten Restaurant exquisite Sterneküche geniessen wollen.“


Bleiche bekamen Konkurrenz von Vitalen – so soll das sein! Mit Darwin und Mussolini heben wir die Champagnerkelche und toasten auf das Konkurrenzprinzip, die braune Sonne und kommende Pestkolonien für Pizza-Neurotiker!





16.08.2008

"Und täglich grüßen die Reformen"




...heißt ein sprachkritisches Dossier, das vor zwei Wochen in der linksliberalen Jugendzeitschrift "Jungle World" erschienen ist und das wir allein deshalb als lesenswert einstufen (müssen), weil Teile des DWR-Kollektivs mit dem Autor psychisch identisch sind.
Im Online-Archiv dort weiterhin zu lesen ist die einigermaßen
stark lektorierte Version des Textes , dessen originale Fassung DWR nächste Woche hier der Welt erstmals zugänglich machen wird.





11.06.2008

Kein Gedicht



860 000 000 Menschen leiden an Unterernährung. Davon verhungern

40 000 heute

40 000 morgen

40 000 übermorgen und

40 000 jeden weiteren Tag.


Eine vollkommene Beseitigung des Hungers würde

20 Milliarden Euro im Jahr kosten,

55 Millionen Euro am Tag,

6 Cents pro Mensch.


800 Milliarden Euro im Jahr,

2,2 Milliarden Euro täglich

zahlen die Staaten der Welt für Rüstung:

33 Cents pro Mensch.


44 000 Milliarden Euro im Jahr

ergibt die Wirtschaft der Welt.

120 Milliarden jeden Tag,

18 Euro täglich pro Mensch,

139 Euro täglich pro unterernährter Mensch,

231 700 % seines Bedarfs, und

3 000 000 Euro am Tag für jeden,

der verhungert.




22.05.2008

Π.Os Gedicht "Memo"



Der australische Lyriker Π.O (sprich: Pi O) ist leider selbst unter Lyrikinteressenten ziemlich unbekannt. Das liegt daran, daß er selbst nicht bekannt werden will und diese Absicht auch sehr zielstrebig verfolgt. Vor vielleicht zwei Jahren bin ich durch die Datenbank Lyrikline auf ihn aufmerksam geworden, wo man nicht nur sehr gute Gedichte in zahlreichen Originalsprachen und Übersetzungen lesen, sondern auch hören kann, meist vom Autor vorgetragen. Π.O – den ich rein zufällig, wohl wegen des seltsamen Namens angeklickt hatte – las das untenstehende Gedicht „Memo“ ich weiß nicht mehr wie, aber doch jedenfalls so, daß ich mir seinen Namen wie auch sein Gedicht gut gemerkt habe. Es war trocken, uneitel, konzentriert, präzise, polemisch und komisch und sehr ernst. Nicht der Dichter und seine Erfindungsgabe stehen im Mittelpunkt, sondern seine Beobachtungsgabe und das, was er beobachtet hat; beim Beobachten hat er etwas erkannt, und nun schreibt er ein Gedicht, das heißt er benutzt die genauestmögliche sprachliche Beschreibungsform, um diese Erkenntnis zu vermitteln.

Π.O imitiert in „Memo“ eine öffentliche Sprache, die uns längst vertraut ist, so daß wir gegen ihre Kälte schon abgestumpft sind, er imitiert und übertreibt sie dabei, er steigert ihre Expressivität, bis deutlich das hörbar wird, was wir in ihrer alltäglichen Gestalt nicht mehr wahrnehmen. Statt von Übertreibung müßte man eher von Enthüllung sprechen, denn sowohl diese Sprache selbst als auch ihr alltäglicher, abschleifender Gebrauch verhüllen etwas. Was Π.O imitiert und übersetzt ist die Sprache einer Gesellschaft, die er nur spiegelt als das, was sie ist: menschenfeindlich, die Sprache und die Gesellschaft, die sie spricht. Dieses Verfahren hat er nicht erfunden, aber in der zeitgenössischen Lyrik ist es schon eine Ausnahme, wenn überhaupt jemand so verfährt. Es zeigt das gute Gehör des Dichters – und zwar ein gutes Gehör nach außen, nicht nur nach innen (schließlich ist ein Magenblubbern leichter zu vernehmen als ein sehr weit entfernter Schrei z.B.).

Inzwischen hat Π.O dafür gesorgt, daß seine Gedichte auf Lyrikline gelöscht worden sind – ebenso wie auf einigen anderen, nicht vielen Seiten, wo man ihn lesen konnte. Aus diesem Grund werde ich sein Gedicht hier wieder neu ins Netz stellen, das bisher nur noch unter einer einzigen Webadresse googlebar war. Bedauernswert, daß man es selbst lesen muß – dankenswert, daß man es noch selbst lesen kann.




Memo



a Bomb threat

will inevitably come as a shock

If you receive one [Don't let on!]

Keep the caller talking;

Ask him [or

her!] when the bomb will explode; Where it is;

What it looks like;

And what will c a u s e it to explode;

Ask the caller

their name; And how old they are;

Take particular notice

of their accent: Israeli-German, Spanish-Russian;

And to their tone: Angry. Drunk.

Calm. Excited; If you happen to know

who they are . don't . let . on

Don't blurt-out: „Hey! That you? Bob!“

..jus' keep 'em talking; Listen to

background noise: a train whistle could be a vital clue!

When the caller

has finished: DON'T HANG UP!

Keep calm; And write in clear legible

script: WE'RE GOING TO BE BOMBED!!!!!!!!!!!

and then hand it to

your Supervisor [:He'll know

what to do]; If the ORDER to evacuate, is not given

open all the doors and windows [to lessen

the effect on property damage] and go back

to your desk, and keep

working.




16.05.2008

Dalai Lama nach Den Haag! Free Tibet from Tibet!



Eigentlich wollte ich einen Blogartikel über Bob Dylan schreiben, der vor einigen Wochen als erster Songwriter den Pulitzer-Preis erhalten hat. Dem momentan allgegenwärtigen Gelächel des Dalai Lama hilflos ausgesetzt, fand ich dann aber, daß es publizistisch unnötig wäre, jemanden zu loben, der seit Jahrzehnten gelobt wird – anstatt jemanden zu kritisieren, der seit Jahrzehnten gelobt wird. Dylan muß man nicht loben, weil er tatsächlich lobenswert ist. Dagegen sollte man nicht versäumen jemanden zu schmähen, der schmähenswert ist, erst recht nicht, wenn er allseits gelobt wird.

Der Dalai Lama ist das beste Bespiel, das mir gerade einfällt, für die Leichtigkeit der Lüge in der Mediengesellschaft. Man durchschaut Märchen-Wörter wie Pluralismus, Pressefreiheit, Informationszeitalter und (ach Gottchen:) Wissensgesellschaft unwiderruflich, wenn man sich einmal bewußt wird, unter welchem durch sämtlichste Medien wabernden Weih-Nebel aus Friede und Freude, Verehrung und Verklärung die längst zutage liegende historische Wirklichkeit Tibets und des Dalai Lama verschwindet. Selbst Menschen, die den Papst so einschätzen, wie er es verdient – nämlich als ein selbsterklärendes Diskussionstabu unter vernünftigen Menschen – gelingt es auf mystische Art, im geistlichen und weltlichen Oberhaupt Tibets und der tibetischen Buddhisten einen veritablen Gegensatz zum geistlichen und weltlichen Oberhaupt des Vatikans und der Katholiken zu erblicken. Beide sind engstirnige alte Männer – was? höre ich da schon den Zwischenruf, der Dalai Lama ist doch weise und tolerant und nicht engstirnig wie der Papst! – Wenn Weisheit und Toleranz bedeuten, daß statt vorehelichem Sex, Abtreibung und Homosexualität nur Abtreibung und Homosexualität verboten sind, dann stimmt das auch. Und wo wir schon beim Papst sind: dessen Inquisition, immerhin schon im 19. Jahrhundert mit einigen auslaufenden Autodafés zu Ende gebracht, ist so viel schrecklicher nicht gewesen als die Strafjustiz in der tibetischen Mönchsdiktatur, die bis 1950 bestand.

Zweihundertundfünfzig Peitschenhiebe, abgehackte Arme, abgeschnittene Ohren und Nasen, Augenausstechen, Herausreißen der Zunge, Hautabziehen bei lebendigem Leib und andere Strafen, die selbst den SS-Oberscharführer und bis heute hochgeschätzten Lama-Freund Heinrich Harrer abstießen, waren auch unter der Regentschaft des heutigen Friedensnobelpreisträgers noch bis in die 1940er Jahre normal. (Selbst Kannibalismus gab es im Alten Tibet: in einem Gericht namens 'Dudchi' werde „Menschenfleisch und Schlimmeres“ verarbeitet, schrieb der französische Tibetreisende Fernand Grenard um 1900.) Das Rechtssystem des „friedlichsten Volkes der Welt“ ist nämlich keine Umsetzung von Buddhas freundlichsten Ratschlägen, sondern geht auf die Strafjustiz Dschinghis Khans aus dem 13. Jahrhundert zurück. Mit anderen Worten: die vermeintlich in Tibet Staat gewordene Friedensreligion hat es nie gegeben; als Staat ist sie nur ein historisches und kein religiöses Gebilde mehr. Obwohl das Land sehr hoch liegt, schwebt es nämlich – das meine enthüllende These – nicht zwischen von Mönchen lieb zurechtgezupften Schäfchenwolken, wie sich das die Mehrheit denkt, sondern hat sich ebenso in Ausbeutung, Gewalt und Gefangenschaft gesuhlt wie bekannte und unbekannte andere Herrschaftssysteme auch. Man untertreibt also nicht, wenn man in anbetracht einer solchen politischen Vergangenheit den jetzigen Dalai Lama statt mit dem Papst lieber mit Saddam Hussein vergleicht – und mit 'vergleichen' meine ich 'zur Seite stellen' (überspitzt? ja, aber nicht falsch). Was sagt es über den Stand der Demokratie in Deutschland aus, daß sich statt dieser Parallele hierzulande längst die von "Bush = Hitler" eingebürgert hat? Darüber sollte niemand vor dem Einschlafen nachdenken...

Nachdem im März ein geistlicher und weltlicher Mob in Lhasa nichts Legitimeres veranstaltet hatte als ein Pogrom auf die chinesische Minderheit, die in dieser Stadt mit 17% schon ein Dreifaches des tibetischen Durchschnitts beträgt und gegen deren Ansiedlung der Dalai Lama mit wüsterer Rhetorik („kultureller Genozid“) hetzt als alle westlichen Neonaziführer gegen die Überfremdungs-Minderheiten ihrer Länder, ist nicht nur in Deutschland der antichinesische Ausnahmezustand eingetreten. Und natürlich sind es gerade Politiker wie Roland Koch, die mit Wirtschaftsdelegationsreisen nach China den heimischen Unternehmern ebenso wie den chinesischen Funktionären sanft den Hintern seifen, die bei dieser Gelegenheit ihre bigotten Humanitätsfloskeln aussondern. Die Menschen auf den Straßen aber – und tatsächlich gibt es ja protibetische Kundgebungen auf den Straßen, denselben, die Tag für Tag vom Niedriglohn-, Überstunden- und Praktikumsproletariat verstopft sein sollten – fordern: was eigentlich? Die Religionsfreiheit für Tibet? Die gibt es in China seit den 90er Jahren. Vielleicht das Rückkehrrecht für „Seine Heiligkeit“? Das ist längst ausgehandelt worden. Dann vielleicht finanzielle Unterstützung für die armen, übrigens autonomen Tibeter? Die ist seit den 80er Jahren stetig erhöht worden und beträgt inzwischen umgerechnet 100 Millionen Euro im Jahr; in den vergangenen 40 Jahren sind nach chinesischen Angaben umgerechnet 3,5 Milliarden Euro für die Unterstützung Tibets aufgewendet worden. – Und nein, ich werde jetzt nicht hinzufügen, daß das alles umgotteswillen bloß nicht den schrecklichen Unterdrückerstaat China entschuldigen soll usw. Weil ich bei meinen Lesern, wie bei allen anderen Lebenwesen, die imstande sind, eine Banane von hinten zu öffnen, also auch bei mir, eine halbwegs nüchterne Meinung zur „Volksrepublik China“ (wo, nebenbei, schätzungsweise 250.000 Menschen pro Jahr in „Umerziehungslagern“ zu Tode erzogen werden) voraussetze. – All diese Investitionen und Zugeständnisse haben Tibet nicht nennenswert verbessert, wie man überall nachlesen kann. Von allen chinesischen Provinzen und autonomen Gebieten, in denen ihrerseits teils desaströse Zustände herrschen, schneidet ausgerechnet das bestens unterstützte und autonome Tibet in fast allen Belangen regelmäßig am schlechtesten ab; egal ob es um Pro-Kopf-Einkommen, Lebenserwartung oder Alphabetisierung geht. Liegt das nun nur an China? Oder nicht doch auch am autonomen "Tibetertum"? Obwohl die tibetische Sprache inzwischen in den ersten Schuljahren unterrichtet wird, empfinden die Tibeter schon den dazu parallelen Mathematikunterricht als Unterdrückung ihrer Kultur.

Das mag mit der „kulturellen Identität“ eines „Volkes“ zusammenhängen, anders gesagt mit der ungebrochenen Verdummung, deren geistliches und weltliches Oberhaupt, der „Ozean der Weisheit“, seine politischen Entscheidungen aus Teigbällchen liest – ein seit Jahrhunderten gebräuchliches tibetisches Orakel.




 
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