Wenn man schon ohne Lohn schreibt und damit das Recht auf freie Meinung erkauft, also nicht dem Chef, dem Eigentümer, dem Leser nach dem Maul reden zu müssen, sollte man es doch gewißlich unterlassen, auch nur einen ernstnehmenden Satz zur Nachrichtenbeschaffungsmaßnahme 'Bundestagswahlen' von sich zu geben. Eine gut begründete Meinung – und dennoch: werch ein Illtum! Sind auch die Machtverhältnisse durch noch so wechselnde Regierungszusammensetzungen nicht mehr als im geringsten zu ändern, da sie eben ökonomische und keine Relationen der Kreuzchenaddition sind, und mögen Lechte und Rinke hinsichtlich ihrer realen politischen Auswirkungen auch noch so verwechselbar sein, so sind sie es doch nicht hinsichtlich dessen, woraus zwar nicht die Politik, durchaus aber der Wahlkampf eigentlich besteht: ihrer Sprache nämlich, ihrer parole. Ein Wahlkampf hat größere politische Bedeutung als die ausgegangene Wahl selbst: 'Bedeutung' nicht gemessen an der vorgespielten Veränderung, der neuen Zusammensetzung des Parlaments, sondern als Bedeutung der im politischen Raum stattfindenden Kommunikation verstanden. Im Wahlkampf läßt sich erlauschen, welche Märchen zur (späten) Stunde an der Wiege der Gesellschaft vorgetragen werden – und welche man warum vermeidet.
Ein geradezu Grimmsches Faktum ist es, daß noch immer über sechzig Prozent der Deutschen dieselben Regierungsparteien wählen wollen, die sich zur Banken- und Wirtschaftskrise so verhalten wie der Elefant zum zerdepperten Porzellan. Ein Beispiel: auf europäischer Ebene hat man lange um den Eigenkapitalanteil gerungen, mit dem eine Bank ihre Spekulationsgeschäfte abzudecken hätte; begonnen haben die Verhandlungen bei zwanzig Prozent, geeinigt hat man sich, nach wirkungsvoller Lobby-Arbeit, bei fünf. Bedenkt man, daß vor einem Jahr das Zehnfache des Weltbruttoinlandsprodukts in Derivaten im Umlauf war, also – um das nur grob zu vergleichen, denn es handelt sich nicht um dieselbe Relation – immerhin zehn Prozent des fiktiven Kapitals durch die globale Wirtschaftsleistung gedeckt war, dann wird deutlich, daß fünf Prozent Eigenkapitalanteil für Bankgeschäfte unzureichend, ja lächerlich sind. „Klug aus der Krise“ kommt durch solche konformistischen Entscheidungen niemand – im Gegenteil, sie stunden die Lösung des Problems eine weitere scheinstabile Phase lang und bereiten im Grunde schon die 'nächste' Krise vor. Die kürzlich von Staaten überall auf der Welt mühsam beglaubigte Kreditwürdigkeit der Banken ist in Anbetracht der immensen Neuverschuldung derselben Staaten eine wahrlich porzellanene. Die Industriestaaten geben den Banken Kredit und umgekehrt, während die Schulden stetig wachsen. Gedeckt ist hier schon lange nichts mehr: das Fünfzehnfache der globalen Goldproduktion (!) wäre nötig, um allein das amerikanische Handelsdefizit auszugleichen. Nichts ist sicherer als vorher, und jede Chance, etwas sicherer zu machen, versäumt worden. Aber wahrscheinlich kann man vom deutschen Durchschnittswähler – Ausbildung oder Lehre, IQ 100, verschuldet, Übergewicht, mittelmäßige bis schlechte Arbeitssituation, Stress, Schlafstörungen, Rückenschmerzen, zwei Mal wöchentlich Beischlaf (Orgasmuszufriedenheit bei 67 %), Alkoholismus, Bildzeitung, Schlager, 8,9 Bücher pro Jahr und drei von vieren stolz, Deutsche zu sein, ihr häufigster Alptraum: Sturz in die Tiefe – nicht erwarten, daß er ein begründetes Urteil über die Finanzpolitik seiner Regierung abgibt. Denn, um den Zentralbankpräsidenten Jean-Claude Trichet zu zitieren: „Wir versuchen zu verstehen, was los ist. Aber das ist eine sehr, sehr große Herausforderung.“ Gute Zeiten für Märchen also.
Das weiß auch der Juniorgegner der Kanzlerinnentruppe: die Partei der Massenenteignung von Arbeitslosen und des Angriffskrieges zugunsten kosovarischer Föten hat sich bereits anläßlich der Europawahl mit an die allgemeine Blödheit anbiedernden Motiven wie „Finanzhaie würden FDP wählen“ – mit einem aus der Uniform des bösen Börsenbuben hervorgrienenden Haifischkopf, entmenscht zum Spott des kleinen Mannes – als exakt so platt wie ihre Tradition erwiesen. Für die anstehende Marsch-„Richtungswahl“ (Steinmeier) hat sich die SPD wohl ihrer glorreichen Vergangenheit als Sammelbecken patriotischer Kleinbürger erinnert, die ihren Pazifismus nicht etwa über Bord warfen, um eine Oktoberrevolution zu gewinnen, sondern um dem Kaiser Wilhelm II. im Reichstag jene Kriegskredite zu bewilligen, mit denen eine der größten Katastrophen der Geschichte finanziert wurde. 1933 dann johlten sie Seit' an Seit' mit den lauteren Kameraden, die die Chorknaben nichtsdestotrotz bald verfolgen und vergasen sollten, das Deutschlandlied. Nicht anders bei der sog. 'Wiedervereinigung', wo man sich vor lauter Einheitswallungen unterm gesammelten Germanenpack im Bundestag nicht mehr auf den Sesseln halten konnte und unter Tränen der Verblödung ein weiteres Mal die fatale Hymne absang. Sozialdemokraten segeln traditionell unter den Flaggen der Mächtigen mit: man nahm die abgerissenen Kerlchen, die in Holzbaracken oder Mansarden aufgewachsen waren, auch immer gerne auf, weil man als Mächtiger doch wußte, daß niemand dienst- und dankbarer ist als ein von seiner Herkunft geplagter Streber. Gesindel von schlechtem Ruf, das ihn loswerden will, schrubbt bereitwillig das Deck, nur damit sie niemand als Drückeberger verdächtigt. 'Überkompensation' nennt man das: sozusagen das psychosozial-politische Herz der Sozialdemokratie. Bewußtsein, Selbstkritik und Theorie stören da nur. Das erahnte schon Gründervater August Bebel, der nach anfänglichen Ambitionen in Marxismus und trotz brieflicher Erläuterungen von Friedrich Engels „Das Kapital“ entmutigt aus der Hand legte und die SPD bald ohne die Wissenschaft am Sozialismus in eine abschätzbar unsozialistische Zukunft führte – ganz Vorläufer des hermdsärmlig-praktischen 'Machers' und 'Gestalters', als den sich sämtliche sozialdemokratischen Kanzler später zu stilisieren versuchten. Steinmeier ist nur eine weitere, besonders brüchige Ausstülpung dieses Förmchens aus dem Sandkasten der ostentativen Realpolitiker im Willy-Brandt-Haus. Alles Nötige über das der Sozialdemokratie immanente Scheitern ihrer Prinzipien kann man aber schon bei Rosa Luxemburg nachlesen, und wir brauchen es hier nicht schlechter zu wiederholen.
Derart rückbesinnlich ist die SPD in diesem Wahlkampf, daß sie selbst die mühsam angesparte Brioniwürdigkeit aus Schröders Zigarren-Kanzler-Jahren gegen den Blaumann des guten Deutschen tauscht, wenn unterm unfrohen Macherlächeln ihres Kandidanten die kommandokurzen Sätze plakatiert sind: „Anpacken. Für unser Land.“ Damit hat die SPD sich endgültig zum reaktionärsten Schlagwortclub diesseits der NPD hinunterkompensiert. Selbst die CDU war in ihren letzten (Bundestags-!)Wahlkämpfen nicht derartig dummdeutsch und blaumännisch-humpenhaft. Sollte die Wirtschaftskrise bei den SPD-Werbetrotzkis die ideologische Hemmschwelle derart gesenkt haben, daß man die WählerInnen schon bereit zur patriotischen Selbstaufgabe einschätzt? (Man kann die Deutschen hierin ja kaum unterschätzen...) Folgt auf das unscheinbare, urdeutsche Wörtchen „anpacken“ endlich das lange geplante 'Sanierungsprogramm', das dreistellige Milliardenschulden, die der Klientelstaat bei den Banken für die Banken gemacht hat, bei der wackeren Bevölkerung wieder eintreibt? Wer mit mir dagegen wettet, den nenne ich einen Hypothekenhändler.
Wo die FDP formulieren läßt: „Deutschland kann es besser“ (was eigentlich?), kleistern die Nationaldemokraten: „Unser Land kann mehr.“ Dabei scheint man inzwischen selbst im Sibirien der Parteienlandschaft, das heute DIE LINKE heißt, eingesehen zu haben, daß ein Proletarier kein Vaterland hat; sie nämlich wirbt mit dem Sprüchlein: „Damit es im Land gerecht zugeht.“ Im Land? Klingt das nicht seltsam? Man scheint bei Lafontaines unterkompensierenden Sozialdemokraten tatsächlich den seltsamen Klang um der Vermeidung eines patriotischen Possessivpronomens hingenommen zu haben. Unter Honecker hätte es das nicht gegeben. Auch der Slogan „Reichtum für alle“, laut Gregor Gysi als Provokation gedacht, macht einer Partei durchaus Ehre, in deren historischer DNA die realsozialistisch verordnete Ächtung von Freizeit und Wohlleben fortwest. Wir sagen es unvorsichtig: dieses Plakat, das den Unwillen so mancher Realismuseiferer erregt hat – die die Abschaffung des Sozialneids schon deshalb als Katastrophe ansähen, weil es dann keine armen Schweine mehr gäbe, vor denen sich die neurotische Ödnis ihres Bessergestelltseins als exotisches Karriereabenteuer ausnähme – kann neben dem SPD-Werbe-Machwerk als morgenroter Abglanz von Fortschrittlichkeit und Hoffnung durchgehen. (Der triumphierende Einwand tumber Beobachter, daß dieser Slogan mit der Forderung "Reichtum besteuern" ja gar nicht zusammenpasse, erinnert mich an die naive Freude, mit der manch strebsamer Gymnasiast die Zeichensetzung Kafkas kritisieren mag. Schließlich liegt hier nicht einmal ein Schein-Widerspruch, geschweige denn ein durch Disambiguierung nicht lösbarer vor: warum sollten nicht alle 'reich' sein, nämlich am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben, gerade weil dieser in gerechtem Umfang durch die öffentliche Hand geht ? Unbegreiflich für den reputablen Überstundendandy...)
Bevor jedoch ein falscher, versöhnlicher Eindruck entsteht, muß schnell ein Satz hinzugefügt werden, den das MdB Paul Schäfer (man beachte die Gitarre, Symbol des Weltfriedens, oben links auf seiner Homepage!), ehemals DKP-Aktivist, nun arriviertes Mitglied der Fraktion der LINKEN, kürzlich über die Marktwirtschaft herausließ, als ihn ein Schelm auf die DKP ansprach (ganz im Gegensatz zur NSDAP die einzige Partei, für deren Mitgliedschaft sich in der BRD noch wirklich geschämt wird): Für ihn hat sich nämlich „der Markt als ein effizientes System der Güterproduktion erwiesen“. Geäußert am 28.11.2008, hat sich mitten in der Bankenkrise Schäfers Markt als „effizientes System der Güterproduktion“ erwiesen – ein wahres Nordkorea von Weltabgeschiedenheit im kahlen Schädel dieses Mannes! Die Lektüre der sozialistischen Klassiker scheint in der DKP schon sehr lange nicht mehr üblich zu sein, sonst wäre Schäfer zumindest diese eine grundlegende Erkenntnis geblieben, daß Marktwirtschaft nichts anderes bedeutet als die Verzufälligung der Güterproduktion unter den Bedingungen des Konkurrenzprinzips: wer was produziert ist in der Regel allein der Spekulation des Produktionsmitteleigners überlassen – der spekulative Charakter durchzieht den freien Markt von der Bäckerei bis zur Börse, und wie „effizient“ dieses Wetten auf Angebot und Nachfrage ist, war nicht erst vor einem Jahr, sondern schon vor hundertfünfzig klar. Man muß nur sehen wollen, das heißt nicht fürs Blindsein eine Diät von antikommunistischen Institutionen erhalten. Schäfer – und man darf ihn hier wohl im Einklang mit dem programmgebenden Teil seiner Partei verstehen (zu dem leider nicht Sahra Wagenknecht gehört, der Dorn im blinden Auge der LINKEN) – abschließend zum Markt: „wir werden ihn nicht abschaffen wollen“.
Dachten wir uns schon. Den Lorbeer der Geschichte müssen dann wohl doch andere aus dem Dreck fischen. Im Hohen Haus jedenfalls angelt man sich höchstens ein paar samtweiche Schlappen – oder, wie es zu Kohls Zeiten noch so schön alarmierend hieß: rote Socken.