16.10.2008

Materiale Nöligkeit

Der Musikjournalist verhält sich zum Journalismus allgemein wie die fehlende Zunge zum Stottern:

Als Racheengel des Walking-Bass bezwang Marc Ribot im Zeichen der verminderten Quint noch jedes Stück und erfand so auf den großen Alben von Tom Waits und John Zorn die Rhythmusgitarre neu. Wohin es ihn später stilistisch auch trieb: Der Gestus, der Klampfe noch einen letzten Sinn abzuringen, während man schon im Begriff ist, dieser den Hals umzudrehen, umschreibt die Urszene, in der Ribots Ton erzittert. Fünfzehn Kompositionen für Sologitarre als 'Exercises in Futility' zu veröffentlichen mutet da nur konsequent an. Doch diese mit delikater Beharrlichkeit präsentierte Phänomenologie des Klangspektrums und der Betastungsmodi der Konzertgitarre zeigt nur, wie falsch es wäre, Ribots methodischen Nihilismus für materiale Nöligkeit zu halten.


(Alessandro Topa in der FAZ vom 30.9.2008.)


Aber wir wollen dieses Thema nicht beenden, ohne einmal kurz den Altpusher der popjournalistischen Metaphernekstasen Dietmar Dath zu zitieren, der in der Rezension eines neuen Heavy-Metal-Plättchens also sprach:

Die Gangart heißt hier nicht selten Galopp, da trampelt dann eine Herde amphetamingefütterter Bonanzapferdchen die Prärie zu Bruch, und der Erlkönig spuckt Scharlachverwehungen in den Sturm.


Mensch Popper, prüf doch mal den Wahrheitsgehalt des Satzes!

03.10.2008

Drowning by numbers - die eine Krise der Finanzwirtschaft, des Neoliberalismus und der Sozialdemokratie


Der Republikaner Jeb Hensarling aus Texas hat die am Montag im US-Kongreß abgelehnte Staatshilfe von 700 Milliarden Dollar für die moribunden Banken als ein slippery slope to socialism bezeichnet. Während die Mehrheit der Demokraten für den Sozialismus votierte, haben zwei Drittel der Republikaner (133/198) die von ihrer eigenen Regierung ausgehandelte Hilfsmaßnahme für die Finanzunternehmen durchfallen lassen – vermutlich vor allem deshalb, um bei den Wählern ihrer Wahlkreise erstens nicht als Steuergeldschänder und zweitens nicht als Sozialisten dazustehen: political suicide wäre das gewesen.

Und Jeb Hensarling übertreibt keineswegs: als „sozialistisch“ kann man es durchaus bezeichnen, wenn der Staat Teile der Finanzindustrie praktisch aufkauft – denn als Sicherheit für die 700-Milliarden-Hilfe waren Anteile an den Beliehenen verabredet, so daß man zurecht, wie Herr Piper in der „Süddeutschen Zeitung“, von einer Verstaatlichung sprechen kann. Für die nicht nur auf republikanischer Seite hegemonialen Neoliberalen nicht nur im US-Kongreß eigentlich inakzeptabel; 'eigentlich' deshalb, weil die Alternative zum Sozialismus die gar nicht unwahrscheinliche Gefahr darstellt, daß weitere Großbanken kollabieren und die Krise letztlich, durch eingeschränkte Kreditvergabe an Unternehmen, auf die reale Wirtschaft übergreift. Also Massenarmut oder Sozialismus? Wohl kaum, denn wer einen riskanten Gratis-Kredit an trudelnde Finanzriesen aus dem Steuerfonds als „Sozialismus“ bezeichnet zieht einen bildhaften Vergleich, den man nicht allzu ernst nehmen darf.

Doch was wäre die Alternative zum notwendigerweise übereilten und möglicherweise ergebnislosen Einsatz von fast 5% des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts – was etwa 1,5% dessen ausmacht, was die Welt in einem Jahr (2004) erwirtschaftet – auf die roten Zahlen des Finanz-Roulettes? Eine weiter fortschreitende Kettenreaktion von Zusammenbrüchen, vor der letztlich weder das Ersparte noch die Renten hilfloser US-Bürger sicher sind, Insolvenzen in der realen Sphäre, Massenentlassungen, und all das in abgedämpfer Form auch in Europa – das kann man zwar sicher nicht als „sozialistisch“, aber auch kaum als bessere Entscheidung oder irgendwie 'volksnäher' bezeichnen.

Dieses Dilemma ist nicht zufällig, sondern politisch erzeugt. Es ist planvoll und risikobereit realisiert und ausgebaut worden. Denn die Situation, in der die Bevölkerung gar keine Wahl und die Regierungen nur die Wahl zwischen zweierlei Schädigung ihrer Bevölkerung haben – Steuerversenkung oder Verarmung – ist das Ergebnis jahrzehntelanger globaler und nationaler Wirtschaftspolitik unter neoliberalem Diktat, i.e. einer Herrschaftssituation, die durch strukturelle Markt-Mechanismen, immer weiter akkumulierte Kapitalinteressen und einen kaum mehr überschaubaren Lobbyismus hergestellt und aufrechterhalten wird. Seit Mitte der 1970er Jahre ist mit der Aufkündigung fester Wechselkurse und einer immer begeisterteren Deregulierung der Kapitalmärkte, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch gegenteilige Maßnahmen stabilisiert worden waren, der Spielraum für riskantes Finanzinvestment erst politisch geöffnet worden – mit den gegenwärtigen Folgen. Kaum ein Ökonom leugnet das heute. In der aktuellen Krise werden die Fehler der Banken inzwischen sogar von denselben Ökonomen als vermeidbar dargestellt, die bis dato gerade ihre prophylaktische Vermeidung für den größten ökonomischen Fehler gehalten haben: mehr Regulierung oder zumindest bessere Regulierung fordern selbst die pseudowissenschaftlichen Anhängsel der sogenannten „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ – 'Deregulierung' zu fordern, wie bei zahllosen Gelegenheiten zuvor, scheint selbst ihnen momentan nicht günstig.

Aber was heißt das schon? Die emanzipierte Gesellschaft wird damit nicht ausgerufen. Ganz im Gegenteil sogar führt die gegenwärtige Krise letztlich doch nur zu einer Neujustierung der Finanzmärkte, die den Kapitalismus in eine stabilere Phase eintreten läßt, von der die anti-neoliberalen Kapitalismusakzeptierer wähnen werden, daß sie gerechter sei. Hierzu sei einmal die in den ökonomischen Belangen ihrer Herrschaft perfekt ausdressierte Kampfhenne der FAZ, Fräulein Heike Göbel zitiert:


Selten war die Stunde günstiger für eine Abrechnung mit den Anwälten einer liberalen Marktordnung als in dem Moment, in dem die Wall Street - Inbegriff des Kapitalismus - vorübergehend verstaatlicht wird. Doch das Triumphgeheul könnte sich rächen, weil es die falsche Erwartung nährt, Politik sorge dafür, dass künftig alles besser werde. Auch Steinbrück geht ja nicht so weit, die marktwirtschaftliche Ordnung als solche in Frage zu stellen. Wer die Vorteile des dynamischen Wettbewerbs will, der den enormen Wohlstandszuwachs in der Welt ermöglicht hat, der muss mit den Nachteilen leben - und Rückschläge bis hin zur Krise aushalten.“


Barmherzig übersehen wir die stümperhafte Stilblüte des 'sich rächenden Triumphgeheuls', um zunächst einmal einen Moment lang innezuhalten und uns zu verneigen vor der kaltblütigen Opferwilligkeit dieser Frau, die um nicht näher bennenbarer “Vorteile des dynamischen Wettbewerbs“ willen (unbezahlte Überstunden? unbezahlte Praktika? Lohnstagnation? Billiglöhne? Burn-Out-Syndrom? Mobbing? Abbau von Arbeitnehmerrechten? asoziale Wirtschaftlichkeit an Universitäten und Krankenhäusern? dynamischer Waffenhandel mit Islamisten? oder gar die Marktführer der Unterhaltungsindustrie für den lauschigen Feierabend?) offenbar im Ernstfall selbst den Verlust ihrer angesparten Rente hinzunehmen gewillt wäre. Verneigen wir uns auch, kurz, vor dem messianischen Potential einer Redakteurin für Wirtschaftspolitik, die von solcher Unkenntnis beseelt ist, daß ihr gar ein „enormer Wohlstandszuwachs in der Welt“ vorschwebt. Welche Welt sie damit meinen mag? In dieser jedenfalls ist die Tendenz sowohl in den 'ökonomisch sich entwickelnden Staaten', wie der hungernde Teil der Welt im Regierungssprech heißt, als auch in den Industriestaaten gerade gegenläufig: sieht man einmal von China ab, das wohl keine Wettbewerbsdynamikerin als liberales Musterbeispiel würde anführen wollen, ist die Anzahl der in 'absoluter Armut' mehr oder weniger Lebenden (von weniger als 1 $ pro Tag) in absoluten Zahlen gestiegen, die Anzahl der von weniger als 2 $ pro Tag Lebenden ('moderate poverty' nennt das die Weltbank) gleichfalls, und obwohl dieser Prozentsatz in den vergangenen dreißig Jahren gesunken ist, beläuft er sich heute noch auf 55 % der Weltbevölkerung – eine Zahl, die seit 2001 wieder wächst; anteilig hat sich die 'absolute Armut' jedoch weder im subsaharischen Afrika noch in Lateinamerika, weder in Osteuropa noch in Zentralasien oder Teilen Südasiens seit 1980 auch nur um einen halben Prozentpunkt verringert, sondern teils sogar krass verstärkt1. In den Industrieländern, deren Armut nicht schon durch Einführung des Pflugs oder Brunnenbau statistisch abgeschafft werden kann und die allein deshalb einen besseren Maßstab für die Beurteilung etwaigen 'Wohlstandszuwachses' abgeben, weil außerhalb von ihnen ja überhaupt keine Prosperität existiert, die zunehmen könnte, ist ein solcher „enormer Wohlstandszuwachs“ schon gar nicht mehr belegbar: in den USA ist die Zahl der Armen seit 2000 um sechs Millionen gestiegen; in Deutschland steigt das Armutsrisiko seit fünfunddreißig Jahren tendenziell stetig (von 8,7% 1973 auf 13,5% im Jahr 2003), die Reallöhne sinken, und während das Nettoeinkommen der reichsten 10% der Bevölkerung zwischen 1992 und 2006 um 31% gestiegen ist, sank das des ärmsten Zehntels um 13%. Damit verfügt in Deutschland das reichste Zehntel der Bevölkerung über 56% des gesamten Privatvermögens, während die ärmere Hälfte des Landes über nur noch 2% des Privatvermögens verfügt – in den USA würde dieses Verhältnis allerdings von manchen schon als „slippery slope to socialism“ gewertet. Genau diese Verteilungsstatistiken sind es, welche die liberale Wachstumspropaganda konterkarieren: denn gerade weil das Welt-Bruttoinlandsprodukt in immensem Maße wächst – allein in den letzten zehn Jahren hat es sich nahezu verdoppelt – ist es umso offensichtlicher, daß das solchermaßen wachsende Wirtschaftssystem eben nichts mit dem Wohlstand der Menschen zu tun hat, der im selben Zeitraum gesunken ist – und ist es umso rationaler, umso legitimer, umso nötiger und umso realistischer, einen Wohlstand für alle zu fordern, wie es ihn bisher nicht gab und schwerlich geben konnte. Wie alle Liberalen, die sich in der Öffentlichkeit als Humanisten gerieren, wo sie doch nur Humankapitalisten sind, lügt auch Fräulein Göbel 'Wachstum' schlicht zu 'Wohlstand' um. Aber „Wohlstandszuwachs“, das muß die verantwortliche Redakteurin des FAZ-Wirtschaftsressorts vielleicht auch erst noch lernen, ist eben nicht äquivalent mit steigendem Bruttoinlandsprodukt. Und die wortwörtlich mangelhafte Wirtschaftsform, in der genau das zwingend nicht der Fall ist, nennt man – na? Richtig, Göbel: Kapitalismus.

Doch auch wenn man nicht halb verstanden hat, worum es beim Kapitalismus geht, kann man immer noch einem Sozialdemokraten in dieser Frage weiterhelfen. Der versteht nämlich noch weniger. Den immanenten Widerspruch aller Sozialdemokratie (auch und gerade außerhalb der SPD), gegen eine Wirtschaftsform zu agitieren, die man doch nur genau so weit verändern möchte, daß sie sich eben gar nicht ändert, sondern ihre asoziale, Menschen zu menschlichem Kapital degradierende Tendenz beibehält – den hat Frau Göbel ganz nebenbei perfekt pointiert. „Auch Steinbrück geht ja nicht so weit, die marktwirtschaftliche Ordnung als solche in Frage zu stellen.“ Das zu verschweigen, aber dennoch so zu tun, ist Steinbrücks Aufgabe als sozialdemokratischer Finanzminister – in der momentanen Krise scheinbar ein widersprüchliches Amt, das unser Peer aber genauso sicher meistern wird wie der Putzgruppen-Pazifist den Jugoslawienkrieg; und sind denn das nicht lehrreiche Belege für die Macht der Strukturen und die Ohnmacht der Personen? Innere Widersprüche sind eben keine, und ein kurzes Flackern des Gewissens, während man den Abzug drückt, wiegt leichter als ein Furz. Doch ein Soldat, der nicht den Abzug drückt, ist bald keiner mehr – und wer will in Krisenzeiten schon den Job verlieren? „Wer die Vorteile des dynamischen Wettbewerbs will“ muß, wenn er den Wettbewerb verliert, die Klappe halten – anstatt einer Partei beizutreten, die den Wettbewerb kritisiert, an dem sie selbst teilnimmt. Damit trifft Göbel die Sozialdemokratie und alle ihre Sympathisanten, denen auch keine Alternative zum mehr oder weniger freien Markt einfallen will, an ihrer empfindlichsten Stelle. Die 'Godesberger Krankheit', längst in ihr Endstadium eingetreten, wird diese Mischung aus gutgemeinter Dummheit und bauernschlauem Karrierismus ungefähr dann aus den Parlamenten hinwegraffen, wenn nach einer selbstzufriedenen Regulierungsphase die nächste Krise ansteht. Denn auch der Neoliberalismus ist nicht abwählbar durch eine sozialverträgliche Kapitalismus-Verwaltung: eine solche gibt es nicht und hat es nie gegeben, sie ist nichts weiter als die gute Fee aus dem sozialdemokratischen Märchenbuch, das man den Schmuddelkindern zum Einschlafen vorliest. Reguliert werden muß nicht die Peripherie, sondern das Zentrum, damit sich die krisenhaften Zustände ändern.




1Diese Zahlen sind schwer zu erheben, von vielerlei rechnerischen Kriterien abhängig, schwierig zu vergleichen und nicht zuletzt politisch umkämpft. Als Quellen benutzen wir daher nicht zufällig die UN und die Weltbank, also Institutionen, die man kaum globalisierungskritischer Zahlenspiele bezichtigen kann; und auch deren Zahlen reichen aus, um ihre Politik anzugreifen. - Anders als Lori Wallach in seinem Aufsatz über die WTO im „Schwarzbuch Globalisierung“ (hg. v. Mander/Goldsmith, München 2002) wollen wir hier nicht verschweigen, daß „die Befürworter der WTO“ auch dann damit recht haben, daß der Anteil der 'absolut Armen' an der Weltbevölkerung zwischen 1981 und 2001 zurückgegangen ist, wenn man Chinas Entwicklung aus dieser Rechnung herausnimmt; im Gegensatz zu Wallach haben wir uns die Mühe gemacht, das auszurechnen und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß auch ohne China die 'absolute Armut' weltweit von 28% im Jahr 1990 auf immerhin 26% (statt mit China 21%) im Jahr 2001 zurückgegangen ist, während sie im Jahre 1980 noch bei 40% gelegen hat; ja selbst die globale 'moderate poverty' (weniger als 2 $ pro Tag ist von 67% im Jahr 1981 auf 53% 2003 gesunken (Chen/Ravallion: "How have the world’s poorest fared since the early 1980s?“ The World Bank Research Observer 2004. http://www.undp.org/povertycentre/publications/poverty/Chen_Ravallion_WBRO_fall_2004.pdf S.15). Diese Fortschritte zu leugnen ist das Anliegen derer, die zur Pflege ihrer pubertären politischen Identität die These 'Kapitalismus/Globalisierung ist böse' gegen manchen Widerstand der Realität aussitzen müssen; wessen politisches Denken sich auf Transparenten erschöpft muß sich eben kurz fassen... Ihnen sei ein großer Sohn des Kapitalismus vorgelesen, der schrieb: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation“ und „[e]rst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann.“ Nichtsdestotrotz kann man weder aus dem Innovationspotential des Kapitalismus seine endgültige Legitimation (vgl. ebenfalls Marx) noch seine zivilisatorischen Verdienste von einer „liberalen Marktordnung“ ableiten, wie sie ohnehin erst ab den 1970er Jahren politisch Gestalt gewinnt; wenn zur 'Schaffung eines freien Marktes' in Entwicklungsländern zunächst einmal Straßen und Schienen gebaut werden müssen, kann man die darauf sich einstellenden Verbesserungen wohl kaum dem Neoliberalismus gutschreiben. - Eine rigide und präzise Kapitalismuskritik sollte sich daher, ohne die tödliche Armut agrarischer Regionen zu übergehen, dennoch auf jene Zustände in den ökonomisch zivilisierten Ländern konzentrieren, an denen das wesentlich Unmenschliche dieses Wirtschaftssystems erst sichtbar wird, das neben dem oft prähistorischen Kampf abseits jeder Zivilisation noch menschlich wirkt, ohne es zu sein.




 
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