19.03.2008

125 Jahre und kein Todestag...



Ein einzigartiges Mißverhältnis besteht zwischen Relevanz und Rezeption des heute vor 125 Jahren gestorbenen Schriftstellers, der neben Konfuzius, Platon, Paulus und Luther etwa als einer der historisch wirkungsvollsten und doch zugleich (im Unterschied zu jenen) am wirkungsvollsten mißverstandenen Autoren der Kulturgeschichte gelten kann: Karl Marx. Zeitweise lebte etwa ein Drittel der Menschheit in Staaten mit marxistischem Programm – was auch immer das heißen mochte und mag. Daß solche Programme mit Marx leider sehr wenig zu tun haben, daß ein sich als marxistisch oder kommunistisch bezeichnender Staat ebensowenig seinem Titel entsprechen kann wie ein demokratischer und daß das Talkrundenargument, der Autor Marx habe mehr Schrecken über die Welt gebracht als Stalin, Mao, Pol Pot, Fidel Castro, Kim Il Sung und King Kong zusammengenommen, eine interessengeleitete polemische Augenwischerei ist, zeigt schon der Verweis auf das heutige staatskapitalistische China, das kein Mensch mehr öffentlich als ein „kommunistisches Regime“ brandzumarken versucht, seit es ökonomische Wachstumsraten aufweist, die man deutschen „Reformpolitikern“ als Zielvorgabe auf den runden Tisch knallen kann. Der Stalinismus ist nicht das bloße Ergebnis einer Marx-Lektüre Stalins, und zwischen Marx und Mao besteht keinerlei Notwendigkeitsbeziehung, vielleicht nicht einmal umgekehrt. Marx empfiehlt sowenig die Einrichtung von GULAGs wie die Bibel Kreuzzüge und 'Hexenverbrennungen'; und aus der unsympathischen Persönlichkeit Marxens und seinen bisweilen erschreckenden Ausfällen nicht nur gegen den „jüdischen Nigger“ Lassalle auf die Inhumanität seines Lebenswerks zu schließen hieße so ziemlich jeden großen Autoren, dessen Leben und Charakter bekannt ist, um seine intellektuellen Leistungen zu bringen. Schließlich: um zu beurteilen, inwieweit die historischen Katastrophen, die von selbsternannten Marx-Realisateuren organisiert worden sind, tatsächlich aus dem Werk Marxens, seinem (gewiß nicht inhumanistischen) Anliegen oder seiner (sicher nicht unwissenschaftlichen) Analyse folgen und nicht aus den Mißverständnissen, gegen die sich kein Autor verwahren kann; oder inwiefern womöglich die Mißverständnisse selbst auf Kosten des Autors zu rechnen wären; oder aber, letzte Möglichkeit, ob es eine implizite Gewalt der Marxschen Theorie gäbe, die selbst bei richtigem Verständnis und sorgfältigstem Humanismus erst dann zutage tritt, wenn man sie in die Praxis umzusetzen versucht – um das klarzustellen muß man jedenfalls sehr viel besser theoretisch ausgebildet und an nicht antizipierbaren Ergebnissen interessiert sein als 99,8% aller Personen, die dazu sich äußern und gehört werden. Die Unkenntnis zu Marx ist leider ebenso populär wie Marx – selbst da, wo er populär ist. Weder August Bebel noch Fidel Castro haben „Das Kapital“ gelesen (daß Kuba überhaupt ein als kommunistisch etikettierter Staat sein sollte, war – laut Castros Biographen Volker Skierka – der angenommene Vorschlag des davon beseelten Weggefährten Guevara), der Sozialist Joyce, vor seiner literarischen Revolution, las nur den ersten Satz, und poststrukturalistische 'Marxisten' wie Roland Barthes wahrscheinlich nicht einmal den. Nur Kurt Beck, das haarige SPD-Maskottchen, gibt in einem kürzlich in Trier produzierten Jubiläumsfilm die typischen Ergebnisse profunder Marxlektüre zum besten: "Ich habe mit der Philosophie von Karl Marx nie so sehr viel anfangen können." Gerade heute wird übrigens auf der Seite der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaft in einem Artikel zum selben Thema dankbarerweise auf den Unterschied zwischen Marx' politischer Ökonomie und seiner Revolutionslehre hingewiesen.

Zum 125. Todestag – einem Jubliäum, das eher dafür spricht, daß hier jemand nicht gestorben ist – sage ich nur das Allermindeste, was man über Marx heute sagen kann: nämlich daß er das (Krisen-)Potential der ungebrochen vorherrschenden Wirtschaftsform in klare Begriffe gefaßt und damit die Grundlagen einer Sprache geschaffen hat, die das individuelle Unbehagen am Wohlstand ebenso zu erklären vermag wie die historisch einmalige strukturelle Menschenverachtung einer Epoche, in der sich die Ausbeutung von Mensch und Natur unabhängig von subjektivem Zutun matrixhaft erhält, verstärkt und fortpflanzt und dabei selbst den sogenannten „Wirtschaftslenker“ oder den Präsidenten zur bloßen austauschbaren Größe, zum entwürdigten Objekt herabsetzt, das dennoch um fast eine Welt würdiger ist als der noch entwürdigtere, bis ins Unerträgliche und zu niemandes Nutzen geschundene Rest der Welt.




3 Kommentare:

classless hat gesagt…

Echt, "Unbehagen am Wohlstand"? Ging es nicht eher um das Unbehagen am Zugang zum Wohlstand?

DWR - Kollektiv hat gesagt…

Marx soll ja nicht unsinnigerweise unterstellt werden, er habe Einwände gegen ein Leben im Wohlstand gehabt; ich will nur darauf hinweisen, daß seine Analyse das heute verbreitete Unbehagen selbst derer, die im Wohlstand leben, und das nicht einfach ein Unbehagen an der Kultur ist, gut erklären kann.

Benni Bärmann hat gesagt…

Sehr schöner Artikel. Leider sind eure Feeds kaputt. Ich kann weder mit dem Icon in der Adresszeile des Firefox noch mit dem Link unten abbonieren. Schade.

 
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