28.09.2011

Generation Frankenstein oder Spielschulden bei der Wirklichkeit

Gehören auch Sie zu jenen Menschen, die sich über ihr eigenes Wesen nicht so ganz im Klaren sind? Haben auch Sie in philosophischen Momenten – auf der Intensivstation, in einer Gletscherspalte oder Montag morgens bei der Wassergymnastik im Rahmen der ARGE-Maßnahme „50 plus – fit für den Job“ – mitunter das Empfinden, Sie wüßten gar nicht so genau, wer Sie sind? Seit mindestens 150 Jahren ist das völlig normal. Wir nennen es ‚Moderne‘. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: seit mindestens fünf Jahren gibt es ein Mittel dagegen. Wir nennen es ‚soziale Netzwerke‘.
Die Online-Community, um eine noch dümmlichere Bezeichnung zu verwenden, ist in Wahrheit, das heißt ökonomisch betrachtet eine virtuelle Massenhaltung mit freiwillig an der Futterrinne der Werbewirtschaft angetretenem Datenvieh. Die euphemistisch ‚User‘ genannten Benutzten beziehen jeder eine ‚Profil‘ getaufte Box und füllen ein paar stereotype Fragebögen mit all den Nettigkeiten aus, aus denen heute so ein digital-urbanes Leben zwischen zwanzig und fünfzig besteht, also Job-Mosaik plus Lieblingsserien. Wobei es ihnen zurecht Spaß macht, dass sie überhaupt noch nach ihrer Meinung gefragt werden. (Wozu vernetzt man sich denn sonst, wenn einen keiner nach seiner Meinung fragt?) Sind die Leutchen soweit eingegliedert, dürfen sie nach Lust und Langeweile ihre digitale Box mit jugendfreien Bildern bekleben und mit politisch korrekten Zitaten verzieren, ihren mehr oder eher minder außergewöhnlichen Alltag auf tausenderlei Arten vermerken, vermessen und verkünden wie Thesen an einem postmodernen Kirchentor, außerdem, least but not last, ihren bei Halbgratis-Spielchen erdaddelten Trophäennebbich ausstellen und mit Leuten, die einen seit der Kindergartenabschlussfeier nicht mehr genervt haben, ansteckungsfrei drauflosmenscheln bis zum Bindehautkatarrh. Klingt doof? Nur, weil ich’s doof gesagt habe. Darum nochmal anders gesagt: hier werden alle Ego-Träume wahr.
Schon das Wort Profil bedeutet nicht weniger als einen klaren Umriss der Person, die hinter dem Schirm sitzt, einen Schattenriss, ein zweidimensionales Portrait also. Wie bei jeder Distanzkommunikation fehlt die dritte Dimension, die räumliche Tiefe, und die Begegnung im Zeitfluss, kurz: die Realität. Ich und die Anderen, das Licht der Welt und mein Schatten, nur diese beiden gegensätzlichen Ebenen konturieren das Image. Jeder Netzwerker wird so zum Schöpfer eines zweiten Präsentier-Ichs, von dessen distinktiven Qualitäten die als 'Freunde' umheuchelten Juroren dieses Selbstoptimierungsprojekts zu überzeugen sind. Jeder sein eigener Frankenstein, der ein Second Me, gewissermaßen seinen Sozialavatar, aus den Leichenteilen eines Bedeutungsuniversums zusammenlumpt, in dem von der Biermarke (Astra!) bis zum Zwölftonkomponisten (Hauer!), von der politischen Theorie (Ordoliberalismus!) bis zur Lieblingsmetropole (Shanghai!) schlichtweg alles als Zutat in der narzisstischen Retorte dienen kann, um sich im individualistischen Wettrüsten günstig vor der Konkurrenz zu positionieren. Im Überangebot der Netzgesellschaft – an potentiellen Partnern, Freunden, Mitbewerbern, Charismatikern – kämpfen bange Privatmenschlein mit ähnlichen Strategien um Aufmerksamkeit wie Unternehmen in der Offline-Ökonomie: Unverwechselbarkeit, ‚Alleinstellungsmerkmal‘ im Marketingdummdeutsch, ist für Produkte wie für Menschen das konkurrenzverdrängende Ideal – und freilich, leider, leider, nicht viel mehr als das, eine Kompensionsvision im Cubicle. Zugleich bleibt man mit seiner Selbstwert-Schöpfung natürlich den gesellschaftlich geprägten Vorstellungen von einem gelungenen Leben verpflichtet, die über Distinktion und Extraordinarität ja doch hinausgehen. Also alle feuchten Träume von Sicherheit, Erfolg und Rückhalt, Coolness, Souveränität und Hedonismus stehen auf dieser Potemkinschen Party zusammen und bestätigen einander, keine Pappkameraden zu sein.
Denn das gilt freilich für jedes PR-Projekt: ohne gläubiges Publikum wird aus einer Mücke keine frohe Botschaft. So gibt’s ohne Zuschauer auch keine Identität. Ohne den Anderen kein Ich. Ohne Spiegel kein Bewusstsein. Denn nicht die einsame Wahrheit zählt, sondern was für wahr gehalten wird. Die Parallelwelt, die dabei entsteht, ist nicht virtueller als die des Finanzmarkts, der Werbung oder der Arbeitsmarktstatistik. In der Marktwirtschaft ist nichts was es ist – sondern alles nur als was es sich verkaufen läßt. Maximale Gewinnspanne bei minimalem Gebrauchswert ist keineswegs Betrug, sondern im Gegenteil – der größte anzunehmende Unternehmererfolg. Der ollen Tante Realität läßt sich noch immer was aus dem Beutel leiern. Solange sie nichts merkt. –

11.09.2011

Frohe Botschaft: Dead Wall Reveries erstehen auf!

[Friedhofsnacht. Vollmond. Ein feister Mittvierziger im Anzug torkelt durch die Eingangspforte und stolpert zwischen den Gräbern umher. Wolfsgeheul. Der Mann bleibt ängstlich stehen, wartet und winkt dann ab. Er zündet sich eine Zigarette an. Er hustet, zieht seine Krawatte aus, lässt sich auf den nächsten Grabstein nieder. Darauf steht: ‚Dead Wall Reveries 2007-2009.‘]
Anzugträger [liest die Inschrift]: Namen haben die Kinder heute! Da weiß keiner mehr, wo vorn und wo hinten ist. [rülpst] Zweitausendneun war ein gutes Jahr zum Sterben. Da wär mir auch einiges erspart geblieben. Und nicht nur mir. Naturkatastrophen, Haiti, Pakistan, Fukudingsda. Krawalle überall, Kirgisien, London, Maghreb, Ägypten. Das Pack kaspert über den Planeten, als würde der schon ihnen gehören. Tut er ja auch. Die sogenannten Schuldenkrisen. Früher alles kein Problem. Der sogenannte Westen – in zwei Jahren abgewrackter als in den zweihundert davor. Oil peak noch nicht erreicht damals, vor zwei Jahren. Deepwater Horizon kannte noch kein Schwein. Kennt jetzt wieder kein Schwein wahrscheinlich… Aber der Dow Jones hatte noch Potential nach oben. Na ja, hat er jetzt nicht mehr. Kann man alles den Hasen geben. Oder den Ratten. Alles – rattenreif! [Er knüpft einen Knoten in seine Krawatte, steht auf und bindet sie an einem Ast fest; danach setzt er sich wieder, greift in sein Jackett und zieht einen Flachmann mit goldenem Euro-Zeichen aus der Tasche.] Drauf geschissen! [Er nimmt einen tiefen Schluck] Und gleich nochmal! [wiederholt das] So, Dead Wall Reveries, jetzt komm ich mal da runter gleich. Oder Moment, da ist noch zuviel drin in dem ollen Fläschchen, um vorher die Kehle zuzubinden. Da könnten wir nochmal anstoßen, wie? [Er stößt mit dem Grabstein an.] Für Gott und Hamsterrrad! [trinkt] Ich bin ja unhöflich. [Er singt:] Wollt Ihr auch was, o edelstes Gestein? [Er stößt an und trinkt. Das Grab erbebt. Zwei Hände wühlen sich hervor, und eine schwarze Gestalt wächst aus dem Boden empor. Sie trägt einen altmodischen Gehrock mit Halsbinde, einen zerrissenen roten Mantel und ein rostiges Florett; das Gesicht ist weiß geschminkt und hat keine Züge.]
Anzugträger [erschrocken]: O Gott, es lebt!
Dead Wall Reveries [erschrocken]: O Gott, ich lebe!
Anzugträger [trinkt schnell aus, steigt auf den Grabstein, greift nach der Krawatte, fällt herunter]
DWR: Darf ich behilflich sein?
Anzugträger: Das würden Sie tun? Ich dachte, Sie wollten mich töten.
DWR: Das kommt, wie ich sehe, auf eins raus.
Anzugträger: Ja… Wollen Sie vielleicht noch schnell wissen warum?
DWR: Nein.
Anzugträger: Nein?
DWR: Es gibt so viele gute Gründe. Ich bin sicher, Sie haben nach über vierzig Lebensjahren inzwischen auch einen davon entdeckt. [DWR hilft ihm auf den Stein und hält seine Beine fest.]
Sie stehen sicher wie ein Turm.
Anzugträger: Sehr gut. Moment… [Er nestelt sich die Krawatte über den Kopf und steht dann absprungbereit.] Wollen Sie’s wirklich nicht wissen?
DWR: Darf ich raten?
Anzugträger: Nein! Oder – na gut. Aber ich unterbreche Sie sofort, wenn Sie falsch liegen.
DWR: Es hängt mit den zeitlichen Umständen zusammen…
Anzugträger [unterbricht]: Aber die kennen Sie doch gar nicht! Sie waren tot!
DWR: Die Toten sind auch einmal gestorben, und die Umstände haben sie selten davon abgehalten.
Anzugträger [würgt]: Könnten Sie bitte aufhören, so an mir zu ziehen? Jedenfalls noch einen Moment…
DWR: Oh, Verzeihung. Unbewusste Christlichkeit. Darf ich fragen, wie Sie’s mit der Arbeit halten?
Anzugträger: Ähm, gut. Also ich habe viel gearbeitet. Ich bin – ich war Volkswirt bei einer Autobank.
DWR: Dachte ich mir. Das Volkswirtsterben hat begonnen…
Anzugträger: Ja, wissen Sie. Der Export ist –
DWR: Ich weiß, und es interessiert mich nicht.
Anzugträger: Natürlich. Sie sind ja tot.
DWR: Der Tod ist jetzt nicht das Thema, sondern Ihr Leben. Sie waren Volkswirt. Ihr Vater hat Ihnen diesen Studiengang nahegelegt, weil Sie gut rechnen konnten und fleißig waren. Ihr Vater war auch schon fleißig und konnte gut rechnen. Mit Ihrem Abschluss haben Sie ihn stolz gemacht. Auf Ihrem Bewerbungsfoto sahen Sie aus wie ein Schlips mit Augen. Die Inkarnation des Konformen. Ihre Interessen: keinen Ärger und keine Ästhetik. Sie hechteten in die Arbeit und machten Ihre Vorgesetzten genauso froh wie Ihren Vater, Ihre Lehrer, Ihre Aktionäre, Ihren Staat und Ihre vielen Versicherungen. Sie haben eine Frau geheiratet, die Traditionen schätzt und keine Hunde im Haus mag. Zuhause dann gemeinsame Fernsehabende, geregelten Geschlechtsverkehr, Alkoholkonsum, einmal jährlich Urlaub, Familienbesuche. Freude vor allem träumend. Immer wieder die Frage: wohin mit dem Scheißgeld? Also Eigenheim, Teutonenschlitten, Aktien. Ein Kind haben Sie wahrscheinlich nicht, sonst würden Sie jetzt nicht hier hängen. Kinder sind ja oft die einzigen Argumente für die kreisrunde Leere, die sich der ausgelaugte Hamstervater einbildet zu haben. Dann noch ein bisschen Makroökonomie. Nationen, die die saure Ernte ihres Menschenviehs jahrzehntelang an die Bauern und Züchter verschenkt haben, tun plötzlich so, als würden sie sparen, um vor Leuten wie Ihnen wieder als glaubwürdige Verschenker dastehen zu können. Bis dahin muss noch mehr geerntet und kann weniger verfüttert werden. Das Vieh fällt als Handelspartner aus, und die Bauern haben alle schon ein Auto. Also sagt der Chef zu Ihnen – nein, arbeitslos werden Sie natürlich nicht, zu ihrem Unglück, muss man sagen. Aber ihre Aktien fallen, der federnde Gang fällt schwerer, es bleibt mehr Zeit zum Sinnen und Spinnen, was man so alles hört und liest, werweiß werweiß waswird waswird, Ergänzung der üblichen Besinnungsorte Ampel, Bett, Computertomograph, auch ihre Frau langweilt sich, alle machen sich Sorgen oder pflanzen sich fort oder pflanzen sich fort und machen sich dann noch mehr Sorgen, Alternative: unfruchtbar und unterfordert, manche werden krank, manche sterben in aseptischen Räumen, nichts Ungewöhnliches, doch Ihnen macht Ihr Durst zu schaffen, der Schlaf flacht ab, die Träume werden länger, im Urlaub regnet es, zuhause grüßen die unerledigten Aufgaben, Termine, Verträge, Freunde, die zuviel angeben, man schaltet ab, man kann sich schlechter konzentrieren, man lässt sich therapieren, man macht weiter, nur die Jobs ändern sich, die Hände, die man schüttelt, variieren leicht nach Feuchtigkeitsgrad, alles schmeckt gleich, Abenteuer: als im Büro der Strom ausfiel, Glück: vorm Aufwachen mit Erektion, Hoffnung: dass alles so bleibt, und es scheint gar keinen Unterschied zu machen, ob die Kurse fallen, wie das Klima, die Ressourcen und wie sicher die Welt, die man ja nicht einmal kennt, die wohl unbegreiflich ist, nicht einmal Stephen Hawking – und da springt die Ampel um, Magengrimmen und Ekzeme, sonntags joggen, sagt der Arzt, mindestens, sich fit halten, sagt man, leistungsfähig bleiben, arbeitsfähig, Liebe: nächste Frage, abwesende Einkaufsbummel, Verpackung und Ballast, „der Tod ist meine Droge“ damals im Theater, dieser Unfug, Opern zu subventionieren, morgens Haferschleim, über Mittag zum Arzt, abends Ordner und Rechnungen, Gebrauchsanweisungen im Bett, der Vater mit Tränen in den Augen an Ihrem Geburtstag, „was du erreicht hast“, und Sie mit der Hand an der Gastritis oder was es sonst noch sein kann, am Mittwoch die Ergebnisse, gesund wie ein Fisch, sagt sie, im Golf von Mexiko, erwidern Sie, was kann man schon falsch machen, wenn man tut was alle tun, Glaube: an Genauigkeit und Organisation, „Was heißt das, Sie wissen es nicht genau? Sie sind doch Arzt!“, zuviel Aspirin wahrscheinlich, zuviel Ethanol, zuwenig Steigerungen der anderen Art, Anämie ist eine zivilisatorische Ressource, nicht unbegrenzt verfügbar, immer diese Momente des Nichtverstehens, der Spannungslosigkeit, der Geruch von Brillenputztüchern (ihre Obsession), und immer diese unerträgliche Sauberkeit, die stummen Möbel, die weißen Wände und dieses wattig weiße stumme schlechte Wetter, selbst zum Erbrechen reicht es nicht, Sie werden müder und müder, weil alle mit ihnen und Sie mit allem zufrieden sind, die Aussicht auf Heroismus ist verstellt, die Euphorie selbst aus den Charts gewichen, Brandmauern überall. Nicht wahr?
Anzugträger [wie hypnotisiert]: Alles – wahr. [Er springt / rutscht ab. Singt laut:] Schon häng ich mit zappelnden Beinen am Ast!
DWR [singt laut:] Die Wahrheit ist stets eine schwere Last!
[DWR hält seine Beine fest und zieht gewaltsam daran. Stille. DWR lässt los, wischt sich die Hände am Rock ab, sieht sich um, stößt seinen Grabstein mit dem Fuß in die leere Grube und verlässt den Friedhof. Der Tote schwankt knarzend am Ast. Wolfsgeheul.]

 
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