31.03.2008

Heidegger liest Marx



Vor Unzeiten, sozusagen als intellektuelles Embryo, hörte ich in Mainz eine Vorlesung über die Philosophie Martin Heideggers bei einem Professor namens Hans-Martin Gerlach, zu dessen Schwerpunkten neben Marx und Nietzsche eben leider auch die sogenannte Existenzphilosophie gehörte (deren Hauptaussage, ohne zu untertreiben: die Krisenhaftigkeit des menschlichen Daseins ist – als ob das überhaupt schon eine Aussage, in einem normativen Sinne, wäre und nicht schlicht eine formulierte Stimmung, die auch wortlos evident wäre, eine filosofische – jedenfalls nicht philosophische – Gefühlslage, die ihrerseits erst erklärender und damit relativierender Aussagen bedürfte). In dieser zwischen Leben und Werk bunt changierenden Vortragsreihe gab der Herr Professor, ein jovialer, grundsolider, sächselnder Vorleser, zum Beispiel einmal die Anekdote zum besten, nach der Heidegger mit zwei anderen Berufsdenkern (ich meine mich zu erinnern, daß der eine Heisenberg gewesen sei, zumindest aber ein ähnlich Schwerkalibriger) nach langem Aufstieg in irgendeinem Berggasthof eingekehrt sei; da habe man dann selbstverständlich die großen Probleme von Allem diskutiert, worüber die Meinungen zwischen den beiden Personen, die nicht Heidegger waren, stark auseinandergingen; unser Heidegger nun habe dazu geschwiegen, um nur hin und wieder mit vermittelnden Worten einzugreifen; wobei er stets das Wesentliche der beiden Streitenden rasch erkannt und abstrahiert und nicht zuletzt zu einer Synthese versöhnt habe. Ja, rief dieses Gleichnis laut vom Katheder herab: was für ein Genie unser Heidegger doch war! Hut ab vor dem Meisterdenker!


Das ist der Mythos des Erfolgs: die unbewußte Übersetzung der Quantität an Aufmerksamkeit, die jemandem widerfährt (gerade in 'erlesenen' Medien), in die Qualität dessen, was dieser tut und ist, von Seiten eines mit Allem konfrontierten Publikums, das trotz zwangsläufiger Unkenntnis unter Meinungsdruck steht, um sich orientieren zu können; und sobald die sich selbst vermehrende Aufmerksamkeit zur Ursache für die Hochschätzung wird, erscheint diese wiederum als der wahre Grund der Aufmerksamkeit und als Rechtfertigung, diese dem Erfolgreichen auch weiterhin und weiter vermehrt zuzuwenden. Beispiele dafür gibt es unzählige, vom Altbundeskanzler über Günter Grass bis zum Papst und so fort. Ein Philosoph oder Wissenschaftler ist natürlich für diese mythische Fehlübertragung prädestiniert, da kaum jemand 'was vom Thema versteht, ihm aber beinahe jeder einen voyeuristischen Respekt entgegenbringt – wobei 'voyeuristisch' auch das Behagen einschließt, nicht in derart anstrengende Kommunikation verstrickt zu sein. Kurz: Heidegger ist nunmal ein gesetzter Meisterdenker per definitionem, der seine Ruhmesrente sicher hat bis zum Bankrott der kulturnationalen Erinnerung - und zwar ganz unabhängig von allem, was er gesagt, getan hat und gewesen ist. Heidegger ist eben Heidegger, so wie Markenqualität eben Markenqualität und ein Mercedes immer ein Mercedes, ergo jede weitere Nachfrage überflüssig ist. All die Aufmerksamkeit und Zuwendung und Anbetung, die in einem solchen Namen konzentriert ist wie die Heilkraft des Kosmos in einer Alraune, läßt (fast) jeden menschlichen Zweifel vergessen sein, bevor er auch nur in die Nähe gerät...


Daß Heidegger dennoch nicht denken konnte, in einem normativen Sinn des Wortes, beweist nicht nur sein Sprachstil, der schon eine unerschöpfliche Fehlerquelle darstellt, bevor er überhaupt 'zur Welt kommt' (bezeichnenderweise erschien ihm – und das lange nach den ersten Bemühungen einer Philosophie der idealen Sprache, die das Historisch-Ungenaue der Umgangssprache als Erkenntnishindernis begriffen hatte – gerade seine logikverachtende Halb-Poesie als Königsweg zur Wahrheit). – Aufrichtigerweise füge ich jedoch an dieser Stelle ein Bekenntnis zur Polemik ein: nein, ich habe nicht alle Texte von Heidegger gelesen, es ist sogar nur eine erschröckliche Minderzahl aller vom Seins-Meister dahergeraunten Wortanhäufungen, so daß durchaus die Möglichkeit besteht, daß ich nur seine ausnehmend schlechten kenne und mir auch in der Sekundärliteratur durch einen unglücklichen Zufall alles entgangen ist, was Heidegger als einen Analytiker von eisklarer Sprachpräzision ausweist. Genau darum möchte ich aber nicht bei meiner Polemik und lustigen Bißwundenrhetorik stehen bleiben, sondern ein Beispiel behandeln, das jeder nachvollziehen kann, der Internet hat...


Bei Youtube ist ein kleiner Videoclip eingestellt, der Heidegger im Jahr 1969 zeigt, achtzigjährig, mit brüchiger Stimme, aber (immer noch) schmissigem, selbstgewissem Tonfall, wahrscheinlich befragt nach seiner Haltung zur studentischen Gesellschaftskritik der Zeit. Heidegger erwidert darauf mit einer Kritik an der elften und letzten Feuerbach-These von Marx, die er auch, um Präzision vorzuspielen, aus einem schon bereitliegenden Band selbst vorliest (samt „kÖmmt“) – siehe Clip.

Heidegger wählt einen läppischen Einwand, der vor und nach ihm schon von andern Bauernschlauen vorgebracht worden ist: um die Welt zu verändern, so geht der, muß man sie doch erst einmal interpretieren! Sonst weiß man ja gar nicht, was man machen soll mit der Welt, wenn die da so uninterpretiert herumliegt! Ja, sieht der Marx das denn nicht? Nein! Also kann man von dem Mann auch sonst nicht viel Meisterdenkerisches erwarten pp...

Der Heidegger, der in dieses ausgelutschte Horn zu stoßen sich bei aller Meisterdenkerei nicht zu blöde war, sieht dabei ganz und gar nicht, daß die Marx-These die ihr unterstellte Dummheit überhaupt nicht impliziert. Ist doch im Marxschen Satz gar nicht gesagt, daß man die Welt nicht interpretieren soll oder muß. Zum deontischen Status der Weltdeutung, zu ihrer (Nicht-)Notwendigkeit oder (Nicht-)Gebotenheit, steht rein gar nichts in der elften Feuerbach-These. Marx hält fest, daß die Philosophen sich mit dieser Tätigkeit bisher begnügt hätten („nur“), daß es auf diese Tätigkeit aber nicht ankomme, daß man sich also mit der Interpretation der Welt nicht begnügen solle. Vom Philosophen wird nicht der Widersinn verlangt, kein Philosoph mehr zu sein – aus dem Mund eines derart entschlossenen Denkers wie Marx wäre diese Forderung auch nicht nur dumm, sondern ein deutliches Symptom für Schizophrenie. Worauf es ankommt, schreibt Marx – ohne etwas auszuschließen, worauf es nicht ankommt – ist nicht die Interpretation der Welt, sondern ihre Veränderung. Und, überdies, daß letztere erstere voraussetzt und zwischen Veränderung und Interpretation eine notwendige Verbindung besteht, wird wohl einem Philosophen klar gewesen sein, der sein Leben damit zugebracht hat, diese Verbindung als einer der ersten konsequent herzustellen.

Der Einwand, ebendas sei ihm entgangen, ist dagegen so dreist, daß es vor laufender Kamera schon eines revolutionären Bauernkopfes wie Heideggers bedurfte und seiner infolge gut sechzigjähriger Sprachverschwurbelungspraxis entwickelten Virtuosität darin, einen klaren Satz mißzuverstehen, um derart Ungeheuer-Trivial-Danebenes mit siegessicherer Denkermine zu artikulieren.

Am Ende wird noch einmal der Feldweg eingeblendet, Heideggers Existenzform und Logo: weit weg von allem, was die Bezeichnung 'Welt' – ob interpretiert oder unverändert – überhaupt verdient hätte.




19.03.2008

125 Jahre und kein Todestag...



Ein einzigartiges Mißverhältnis besteht zwischen Relevanz und Rezeption des heute vor 125 Jahren gestorbenen Schriftstellers, der neben Konfuzius, Platon, Paulus und Luther etwa als einer der historisch wirkungsvollsten und doch zugleich (im Unterschied zu jenen) am wirkungsvollsten mißverstandenen Autoren der Kulturgeschichte gelten kann: Karl Marx. Zeitweise lebte etwa ein Drittel der Menschheit in Staaten mit marxistischem Programm – was auch immer das heißen mochte und mag. Daß solche Programme mit Marx leider sehr wenig zu tun haben, daß ein sich als marxistisch oder kommunistisch bezeichnender Staat ebensowenig seinem Titel entsprechen kann wie ein demokratischer und daß das Talkrundenargument, der Autor Marx habe mehr Schrecken über die Welt gebracht als Stalin, Mao, Pol Pot, Fidel Castro, Kim Il Sung und King Kong zusammengenommen, eine interessengeleitete polemische Augenwischerei ist, zeigt schon der Verweis auf das heutige staatskapitalistische China, das kein Mensch mehr öffentlich als ein „kommunistisches Regime“ brandzumarken versucht, seit es ökonomische Wachstumsraten aufweist, die man deutschen „Reformpolitikern“ als Zielvorgabe auf den runden Tisch knallen kann. Der Stalinismus ist nicht das bloße Ergebnis einer Marx-Lektüre Stalins, und zwischen Marx und Mao besteht keinerlei Notwendigkeitsbeziehung, vielleicht nicht einmal umgekehrt. Marx empfiehlt sowenig die Einrichtung von GULAGs wie die Bibel Kreuzzüge und 'Hexenverbrennungen'; und aus der unsympathischen Persönlichkeit Marxens und seinen bisweilen erschreckenden Ausfällen nicht nur gegen den „jüdischen Nigger“ Lassalle auf die Inhumanität seines Lebenswerks zu schließen hieße so ziemlich jeden großen Autoren, dessen Leben und Charakter bekannt ist, um seine intellektuellen Leistungen zu bringen. Schließlich: um zu beurteilen, inwieweit die historischen Katastrophen, die von selbsternannten Marx-Realisateuren organisiert worden sind, tatsächlich aus dem Werk Marxens, seinem (gewiß nicht inhumanistischen) Anliegen oder seiner (sicher nicht unwissenschaftlichen) Analyse folgen und nicht aus den Mißverständnissen, gegen die sich kein Autor verwahren kann; oder inwiefern womöglich die Mißverständnisse selbst auf Kosten des Autors zu rechnen wären; oder aber, letzte Möglichkeit, ob es eine implizite Gewalt der Marxschen Theorie gäbe, die selbst bei richtigem Verständnis und sorgfältigstem Humanismus erst dann zutage tritt, wenn man sie in die Praxis umzusetzen versucht – um das klarzustellen muß man jedenfalls sehr viel besser theoretisch ausgebildet und an nicht antizipierbaren Ergebnissen interessiert sein als 99,8% aller Personen, die dazu sich äußern und gehört werden. Die Unkenntnis zu Marx ist leider ebenso populär wie Marx – selbst da, wo er populär ist. Weder August Bebel noch Fidel Castro haben „Das Kapital“ gelesen (daß Kuba überhaupt ein als kommunistisch etikettierter Staat sein sollte, war – laut Castros Biographen Volker Skierka – der angenommene Vorschlag des davon beseelten Weggefährten Guevara), der Sozialist Joyce, vor seiner literarischen Revolution, las nur den ersten Satz, und poststrukturalistische 'Marxisten' wie Roland Barthes wahrscheinlich nicht einmal den. Nur Kurt Beck, das haarige SPD-Maskottchen, gibt in einem kürzlich in Trier produzierten Jubiläumsfilm die typischen Ergebnisse profunder Marxlektüre zum besten: "Ich habe mit der Philosophie von Karl Marx nie so sehr viel anfangen können." Gerade heute wird übrigens auf der Seite der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaft in einem Artikel zum selben Thema dankbarerweise auf den Unterschied zwischen Marx' politischer Ökonomie und seiner Revolutionslehre hingewiesen.

Zum 125. Todestag – einem Jubliäum, das eher dafür spricht, daß hier jemand nicht gestorben ist – sage ich nur das Allermindeste, was man über Marx heute sagen kann: nämlich daß er das (Krisen-)Potential der ungebrochen vorherrschenden Wirtschaftsform in klare Begriffe gefaßt und damit die Grundlagen einer Sprache geschaffen hat, die das individuelle Unbehagen am Wohlstand ebenso zu erklären vermag wie die historisch einmalige strukturelle Menschenverachtung einer Epoche, in der sich die Ausbeutung von Mensch und Natur unabhängig von subjektivem Zutun matrixhaft erhält, verstärkt und fortpflanzt und dabei selbst den sogenannten „Wirtschaftslenker“ oder den Präsidenten zur bloßen austauschbaren Größe, zum entwürdigten Objekt herabsetzt, das dennoch um fast eine Welt würdiger ist als der noch entwürdigtere, bis ins Unerträgliche und zu niemandes Nutzen geschundene Rest der Welt.




 
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