Ursachen und Aussagen der Reform-Ideologie in der deutschen Tagespresse. Sprachkritische Überlegungen.
1. Rahmenbedingungen: die Meinungswirtschaft
Menschen mit historischem Bewußtsein, deren Denken und Fühlen nicht restlos in der fetischisierten Produktwelt aufgeht und die zur gesellschaftlichen Gegenwart noch jene kritische Distanz pflegen, die sie zuallermindest aufgrund ihrer Gewordenheit verdient, wird bei der Zeitungslektüre regelmäßig auffallen, wie sehr sich Aktuelles wiederholen kann. Sobald man sie mit etwas mehr Verstand liest als sie verträgt, erscheint einem jede tägliche Ausgabe wie ein schlecht verhüllter Widerspruch: die Neuheit, deren Verkauf überhaupt erst die Existenz von Tageszeitungen begründet, wird bezahlt, ohne verkauft zu werden – und zwar nicht nur, weil die Verkäuflichkeitskriterien eine bestimmte Content-Menge ausfiltern, die so immer wieder in möglichst geringen Variationen verkauft wird.
Folgt man der üblichen Trennung zwischen Information und Meinung, welche die Zeitung als quasi-automatisierte Faktenfirma mit kommentierender Belegschaft vortäuscht, so wiederholen sich selbst die informationsbetonten Texte, denen vor allen anderen die Pflicht zur Neuheit zufällt: ob durch die Fokussierung aufs wahlstrategische Einerlei aus dem Erziehungscamp der deutschen Innenpolitik, wo eine volkspädagogische Alibi-Debatte nach der anderen angezettelt wird und fast achtzig Millionen psychosozialer Problemfälle mit Verlautbarungen zum Germanenaussterben, zu Kindergrundrechten oder Managergehältern beschäftigt werden; oder schlicht durch die Vorhersehbarkeit gewisser ökonomischer Entwicklungen, längst vorgeformter Metamorphosen des Kapitals, die etwa in Form von Entlassungsmeldungen auf der Titelseite überraschen sollen. Schon daß Ereignisse dieser Art in der Schlagzeile als rechtmäßig ausgerufene Neuheiten geprägt werden, deren jeder einzelnen seine Aufmerksamkeit zu widmen wichtig sei, verschleiert den Charakter eines Wirtschaftssystems, in dem solche 'Neuheiten' überhaupt keine Ereignisse, sondern konstitutive Eigenschaften darstellen. Es ist albern, nachdem man ins Wasser gesprungen ist, Aufmerksamkeit dafür zu verlangen, daß man tatsächlich naß geworden ist. Gerade das ist aber Zeitungsamt. Was die Meinungstexte anlangt, so wiederholt sich das Gelesene natürlich noch viel häufiger. Die Meinung steht ja gewissermaßen in komplementärem Gegensatz zum Neuen, auf das die Tagespresse trotz Internet noch immer Anspruch erheben muß, um nicht erfolglos mit Wochenzeitungen, Magazinen oder dem Buchhandel konkurrieren zu müssen. Ihre Ausformulierung impliziert einen unbewegten Standpunkt, einen Aktuelles überdauernden Maßstab, an dem sich das vorbeiziehende Zeitgeschehen messen läßt. Das ist jedoch die schwächste Ursache für mitunter satzgenau redundante Meinungstexte.
Gerade die großen überregionalen Tageszeitungen, die durch ein eigenes Profil im Konkurrenzkampf zu bestehen und vordefinierten Lesern zu entsprechen versuchen, definieren sich über jene Redundanz, die notwendig ist, damit man die Zeitung über einzelne Artikel hinaus als einen und denselben Text lesen kann, dessen Kohärenz eben genau ihr Profil ausmacht. Die Zeitung X muß als X erkennbar sein, wenn sie den Leser binden, also den Schein erwecken soll, daß man an ihrer Statt nicht ebensogut Y kaufen könnte. Diesen Schein erweckt sie vor allem durch Meinung. Sie ist beinahe schon die ganze Identität eines Blattes, macht die Zeitung inhaltlich erst zu einer Zeitung, sie ist das Bindemittel zwischen einzelnen Beiträgen, Ressorts, Ausgaben und nicht zuletzt Anzeigen, die dem Profil der Zeitung entsprechen1. Meinung ist für eine überregionale Zeitung der politische Vorwand für ihre Wettbewerbsfähigkeit: sie ist wesentlicher Bestandteil der Marke, die es, wie man in der Werbesprache radebrecht, 'zu kommunizieren' gilt. Der Markt bestimmt sozusagen einen Soll-Wert der Zeitungsmeinung, ein Zu-Vermittelndes, das die faktisch publizierte Meinung bestimmt, die wiederum die Meinungsbildung der Leser beeinflusst, welche so letztlich zu ebenjenen Ansichten tendieren, die ihnen verkauft werden, damit sie einen Grund haben, sie auch weiterhin zu kaufen. Diese Zweideutigkeit des Konsums, der das Bedürfnis befriedigt und zugleich neu schafft, haben schon Horkheimer und Adorno für die Kulturindustrie als „Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis“2 benannt.
Sobald sich dieser Zirkel geschlossen hat und zwischen Zeitungskauf und Lesermeinung sozusagen eine reflexive Kausalität besteht, ist der marktstrategische Idealzustand eingetreten: die Identifikation mit dem Produkt, in diesem Fall des Lesers mit 'seinem' Blatt (ablesbar zum Beispiel am ostentativen Parken pseudo-anspruchsvoller Printmedien mit dem Titelblatt nach oben auf dem Nebensitz im ICE oder auch an der schlau ins Zentrum der Identifizierung zielenden Werbung einer Tageszeitung, die bei Lektüre die von ihren Lesern imaginierte eigene Klugheit zu bestätigen verspricht). Im Unterschied zu anderen Marken vom Unterhosenhersteller bis zum Nationalstaat, aus deren betriebswirtschaftlich justierten Selbstdarstellungen („Deutschland AG“) sich die Leute ihre illusorischen Identitäten zusammenkehren, besteht jedoch bei Zeitungen tatsächlich nicht nur eine eingebildete Identität zwischen Leser und Blatt; schließlich teilen beide in manchen Fragen dieselbe Meinung, die dem Pendler auf der Zugfahrt seine eigene Interpretation der Demokratie, die mitzugestalten freilich erst die Pressefreiheit möglich macht, erspart und ihm den Kopf freihält für Kredite und den gemütlichen Fernsehabend.
Es entspricht nicht ganz der Auflagenlogik, daß die mühsam kommunizierten Meinungs-Marken überregionaler Tageszeitungen so nah beisammen liegen, daß sie sich regelmäßig überschneiden und dem Profilierungszwang der Blätter zuwiderlaufen. Im Bemühen um die Leserschaft der Mitte sind die Zeitungen – ganz ähnlich wie die Parteien – ebenso wie alle anderen Konkurrenten am totalen Markt dazu gezwungen, sich den sogenannten 'kleinsten gemeinsamen Nenner' zu teilen, der in Wahrheit der größte gemeinsame Teiler ist, durch den man alle potentiellen Kunden dividieren kann: denn je größer die Menge an Individuen ist, die eine Ware ansprechen soll, desto allgemeiner muß natürlich das Bedürfnis sein, das sie befriedigt, das heißt auf desto weniger Eigenschaften eines Individuums muß sie zugeschnitten sein (ist sie beispielsweise auf alle Eigenschaften eines Individuums zugeschnitten, wird sie sich auch nur, in diesem hypothetischen Fall, ein einziges Mal verkaufen können). Für eine Zeitung heißt das: je weniger sie abweicht von dem, was die Leser schon kennen, desto leichter gelingt dem Leser die Identifikation. Je mehr sich die Zeitung einstimmt aufs Unisono der herrschenden Meinung, der aus Allem, was Massen erreicht, sprechenden, stetig repetierten Antworten auf gesellschaftliche Scheinfragen, desto besser wäre ihre Ware – müßte sie nicht zugleich ihre Profilierung einhalten, welche sozusagen die parallele Anforderung an die Zeitungsware ist. Dieses scheinbare Dilemma löst man durch das bekannte Vorgehen, daß man einfach dasselbe anbietet wie die Konkurrenz, nur mit anderer Verpackung. Schließlich ist das Spektrum nicht nur nach unten begrenzt, durch den Kunden, sondern auch nach oben: der Gesinnungsspielraum in gewissen Feldern ist eng für Zeitungen, die nicht nur Auflagen steigern, sondern auch zahlungskräftige Anzeigenkunden akquirieren, Stellengesuche von Marktführern für Führungskräfte schalten und vielleicht in Umfragen unter Opinion Leadern mithalten wollen.
Allein über solche Marktmechanismen pflanzt sich schon die Ideologie von Arbeit, Staat und Neoliberalismus in den eigentlichen Zeitungstext fort, ohne daß es dazu erst der angepaßten Subjektivität eines Lohnschreibers bedürfte. Die schon in Schulbüchern den großen Blättern zugewiesenen politischen Richtungswerte wie „linksliberal“, „konservativ“ oder gar „links“ realisieren sich im Meinungstext der Medien lediglich als Stilunterschiede im selben Konsens. Gerade in Wirtschaftsfragen wird man zwischen gespielten Antipoden wie FAZ und SZ faktisch keine oder nur zufällige Differenzen ausmachen können. Sobald es dann um sogenannte Debatten oder grundsätzliche Erwägungen geht, die mit aktuellen politischen Auseinandersetzungen verknüpft werden, und man sich unter solchem Vorwand einmal mehr auf die Grundfragen unserer westlichen Gesellschaft bezieht, fällt eine inhaltliche Redundanz auf, die so weit reicht, daß man zu bestimmten Fragen ohne Not heute dieselben Leitartikel, Kommentare, Kolumnen und Interviews abdrucken könnte, die vor fünf Jahren schon einmal erschienen sind.
Einer der unbestreitbaren Hits unter diesen Fragen – mit derart hoher Redundanz-Rate, daß an den meisten Zeitungstexten dazu weder der Autor noch der Zeitpunkt des Erscheinens erraten werden könnte – ist das 'Reformthema'. Sobald es in einem Massenmedium eröffnet wird, beginnt jenes Meinungs-Scrabble mit ganzen Sätzen, das dem desinteressierten Publikum als demokratische Kultur verkauft wird: als wären Thesen und Argumente vorher vom Orwellschen Ministerium für Wahrheit ausgegeben worden, werden sie nicht ernsthafter als Spielsteine auf dem Brett der öffentlichen Meinung arrangiert, wobei der Sinn der 'Argumentation' vorab durch die Spielregeln der nicht zu verletzenden Produktionsweise festgelegt ist, deren Konsolidierung ja überhaupt das Spielziel ist.
2. Reformehrgeiz: die Wirtschaftsmeinung
Mustergültiger Beleg dieser ewigen ideologischen Wiederkehr ist ein Ende letzten Jahres von der F.A.Z. veranstaltetes Interview mit dem ersten Mustermann im Staat Horst Köhler, der am Spielbrett mit fischeresker moralischer Augenweitung „eine politische Bilanz des Jahres 2007“ zieht, und zwar unter dem pseudo-nonkonformistischen Titel: „Zur Freiheit gehört Ungleichheit“. Das Interview, das vom F.A.Z.-'Hauptstadtchef' Bannas und natürlich einem der Herausgeber Kohler geführt wurde, beginnt mit der allgemeinen Einleitungsfrage: „Herr Bundespräsident, war 2007 ein gutes Jahr für Deutschland?“ Und man ahnt, nein man kennt schon die Antwort des Weltbankers Köhler, die er leicht variiert auch auf jede weitere Frage mit derselben bauchrednerischen Selbstverständlichkeit wiederholen wird, mit der sie von Seinesgleichen seit etlichen Jahren auf ähnliche Fragen wiederholt worden ist: ja, aber – das heißt nicht gut genug. 'Ja' zu Deutschland („Deutschland ist ein gutes Land“), 'aber' zu seiner noch immer nicht verwirklichten national-ökonomischen Utopie. Denn seit dem Ende der Konfrontation mit dem Realsozialismus, die es einem schwer werden ließ, die marktwirtschaftliche Perspektive bis ins Utopische zu verlängern, ist die ehemals antipodische Rhetorik von der Neuen Gesellschaft, die gerade erst zu entstehen beginne und keinesfalls angezweifelt werden dürfe, in den kapitalistischen Diskurs eingegangen. Nach diesem eschatologischen Dogma hat der Kapitalismus noch nicht einmal begonnen, und alle scheinbaren Nachteile sind nur solche einer Einleitungsphase, die man noch gar nicht kapitalistisch nennen könne, da sie noch traditionalistisch geprägt sei. Erst die überfälligen Reformen führten weiter und immer weiter auf dem Weg zum Heile aller Menschen, das man sich wohl als ein Corporate-Identity-Paradies mit globaler Vollbeschäftigung und verelendeten Marsianern vorstellen muß.
„Der Schwabe in mir ist nie ganz zufrieden“, gibt sich Köhler, ehemaliges Mitglied der 'Normannia' Tübingen, stammesbewußt. Denn „der Ökonom [in ihm, Köhler, S.B.] weiß: Der Aufstieg Asiens hat erst begonnen“, und die von dort unwettergleich („Am Kunjunkturhimmel ziehen Wolken auf“) heranstürmenden gelben Horden werden nicht zögern, aus den Schädeln deutscher Reformschluffis ihren Siegestrank zu schlürfen. „Deshalb wünschte ich mir mehr Reformehrgeiz.“ (Konjunktiv!) Von wem? Von unserer ersten Person im Plural natürlich: „Wir investieren – materiell und immateriell – immer noch zuwenig in die Zukunft unseres Landes.“ Da ist sie wieder, die Deutschland AG: das Vaterland als Aktie, in die man 'immateriell investiert', um am Ende natürlich, wie bei Aktien üblich, als glücklicher Mitgewinner seine (immaterielle?) Dividende abschöpfen zu können. Welch ungeheure immaterielle Wertschöpfung das doch damals gewesen sein muß, als man derart immateriell in sein Land investierte, daß es schon wieder in der Materialschlacht endete – wahrlich goldene Zeiten im Vergleich mit unserem heutigen materialistischen Pluralismus von Reformdeserteuren! Denn das ist inzwischen selbst F.A.Z.-Herausgebern aufgegangen, daß sich das Gerücht, hinter der Reformbeterei könnte sich außer Bigotterie nicht viel Heiliges und überhaupt nichts Heilbringendes verbergen, auf ärgerliche Art unter dem Pöbel verbreitet hat, und so fragen sie besorgt ihren Oberherausgeber: „Das Wort 'Reform' scheint zu einem Unwort geworden zu sein. Die Koalitionsparteien scheuen es wie der Teufel das Weihwasser. Woran liegt das?“ Aus einem Katholikenmund wie dem des Redakteurs Bannas kommt einiges zu seinem Sinn, wenn „Reformen“ mit Weihwasser und ihre Gegner mit dem Teufel verglichen werden. Solche bildgewordenen Assoziationen sagen mehr als tausend wohlgesetzte falsche Worte: wandelt sich doch plötzlich eine nüchtern-vernünftige „Reform“ vom demokratisch legitimierten Gestaltungsmittel zur geoffenbarten Glaubenswahrheit, die bekanntermaßen nicht von unten kommt, sondern auf Gipfel-Treffen von höheren Wesen an ihre Propheten und von diesen ans niedere Volk weiterverkündet wird. Da weckt es doch gerechten Zorn mitanzusehen, wie die Menschen um goldene Kälber tanzen statt fromm vom Materiellen abzulassen und als Arbeitskräfte wie als Konsumenten es gering zu achten, auf daß sie dereinst reich (immateriell!) entlohnt würden – in jener Welt, der nimmer Reformen bedürftigen! Doch das grassierende Heidentum droht dieses Ende allen irdischen Elends noch um ein paar Jahre zu verzögern. Der Reformatheismus, graust es Köhler und seine Jünger, greift um sich in Deutschland. „Wir“ sind aus ihrer orthodoxen Perspektive längst vom Glauben, anders gesagt: vom „Wir“ abgefallen. Was notwendigerweise nichts mit irgendeiner politischen Hellsichtigkeit der Deutschen zu tun haben kann als vielmehr mit ihrer Fähigkeit, Kontoauszüge zu lesen. Denn daß das Wort „Reformen“ nicht mehr ist als der Oberbegriff für eine Reihe wirtschaftsliberalistischer Maßnahmen, die zum Abbau von Arbeitnehmerrechten und Sozialleistungen, zu sinkenden Reallöhnen bei steigendem Leistungsdruck und zur sozialen Ausgrenzung immer weiterer Bevölkerungsteile führen, das muß man ebensowenig verstehen wie der Ackergaul die Physik der Peitsche, die er zu spüren bekommt. Verärgert über dessen Sensibilität muß sich der Bauer gar am Ende noch um seine Marktfleckenführerschaft sorgen. Was soll er also tun? Reden kann man mit dem Gaul nicht. Man muß ihn sanfter zwingen...
Der Glaube an die Sache muß die Unannehmlichkeiten übertäuben, damit alle bei der unannehmlichen Sache bleiben. Denn die Sache selbst steht außer Frage wie nur irgendein Absolutum. Verkündigungen stimmen zwar, lassen sich aber leider nicht beweisen, diskutieren oder gar abwählen, sie erscheinen in Stein gemeißelt und müssen nicht konsistent begründet, sondern missionarisch verbreitet werden. Und das ist eine Frage der PR – 'Propaganda' sagt man ja nicht mehr. Folgerichtig antwortet der Präsident auf die bange Frage seiner Missionare nach dem Grund des deutschen Reformunglaubens streng: „Wir haben ein Problem mit dem Erklären, warum Reformen notwendig sind“ (das „wir“ steht jetzt, statt für die Einheit von Sprecher und Publikum, plötzlich nur noch für die Klasse, deren Interessen der Apell an die Wir-Nation verhüllt). Dieses haarsträubende Argument, das jedem logisch subtileren Schimpansen die Tränen in die Augen treiben würde, ist in den letzten Jahren von zahllosen Politikern, Wirtschaftsvertretern, Verbandsfunktionären und ihrem parasitären Medien-Umfeld aus Leitartiklern und Werbepausenvorbereitern mit einer Selbstverständlichkeit nachgebetet worden, daß es nach Zensur schriee, wenn es denn nicht schon Zensur wäre. Tatsächlich findet man schwerlich einen Satz von einem ihrer Repräsentanten, der in solcher unwillkürlichen Prägnanz die „Demokratie“ – denn man muß sie allein dieses tausendfachen Mantras wegen schon in Anführungszeichen setzen – als reine Kulisse beschreibt. Wer so unvermittelt die Vermittlung als das eigentliche, ja einzige Problem benennt, der ignoriert geflissentlich all die Probleme, welche die Bevölkerung, deren Probleme wahrzunehmen die eigentliche und einzige Aufgabe des Sprechers wäre, ganz offensichtlich mit seinen „Reformen“ hat. Schon wenn Köhler sagt „wir haben ein Problem“, übergeht er dreist, um wessen Problem es sich dabei tatsächlich handelt, nämlich um das seines nominellen demokratischen Souveräns, dem er keine Mitsprache mehr einzuräumen scheint (nicht nur hierin sind Köhler & Co. formal Leninisten). Doch wenn die Deutungshoheit darüber, was ein Problem für jemanden darstellt, nicht einmal mehr beim sogenannten Individuum liegt, sondern bei den Unternehmensführungen und -beratungen, nach deren Begriffen es veranschlagt wird und „Reformen“ überhaupt erst „notwendig“ werden, darf man sich dann nicht getrost als deren Eigentum bezeichnen? – Nein, darf man nicht. Sowenig wie ein eigenes Leben, nach dessen Zielen er eigene Probleme ausmachen dürfte, wird dem Sklaven das Recht zugestanden, Sklave zu heißen: man nennt ihn lieber „Bürger“.
Daß die „Reformen“ selbst und was sie scheinbar notwendig macht ein Problem sein könnten, nämlich für diejenigen, die sie vor allen zu spüren bekommen, und zwar eines, zu dem es Alternativen gäbe, wenn man sich denn darüber verständigte, das wird so einhellig verneint, daß es schon gar nicht mehr erwähnt wird: in allen genannten großen Tageszeitungen, deren erste Sätze aller Kommentare überhaupt nach diesem Vorverständnis erst einsetzen, mit dem Apriori aus Fetischisierung und ideologischem Konsens, wäre ein grundsätzlicher Zweifel an Reformpolitik ein Zeichen von unseriösem Rabaukentum. Wer sich geschäftsmännisch kleiden will, darf eben die Krawatte nicht auslassen. So verkommt auch ein Interview wie das der F.A.Z. mit Köhler unweigerlich zu einem verständnisinnigen Treffen, bei dem alle Fragen, die den Namen verdienen, längst vom ideologischen Apriori beantwortet und verstummt sind, so daß nichts mehr zu tun bleibt als jene Floskeln des rhetorischen Abnickens auszutauschen, die daraus folgen. Weil so vieles gar nicht mehr zur Diskussion steht, ist nur noch wenig übrig, das man diskutieren kann, und will man aus diesem Wenigen jeden Tag eine Zeitung zusammenstellen, wird man sich zwangsläufig täglich wiederholen.
Fest im Glauben, zweifeln die Kreuzritter sogenannter 'Sachzwänge' nicht eine Sekunde lang an 'der Sache', wie man früher schon sagte, wenn man Vernunft und Verblendung nicht mehr unterscheiden konnte, und sind deshalb auch frei von Schuld und Skrupeln, wenn die ein- und andere Million an materiellen Humaninvestitionen der nun einmal notwendigen Sache geopfert werden und so zumindest einige Menschen nicht mehr dafür zu begeistern sind. Ihr Unwille hat dann aber plötzlich nichts mehr mit der Sache zu tun, dies schließlich wert wäre, sich für sie zu opfern, sondern damit, daß sie die werte Sache und den Sinn des Opfers schlicht nicht sehen – was ganz danach klingt, als ob es um eine immaterielle, sozusagen geistliche, womöglich gar nicht vorhandene Sache ginge, deren Seher und Verkünder seit alters blind sein können, weil sie statt zu sehen Visionen haben.
Nicht nur mit diesem Dogma von der gegen jeden Einwand immunisierenden Utopie, die alles Leiden („Reformen müssen wehtun“) auf dem Weg zu ihr legitimiere, weil sie in historischer Zukunft das Leiden insgesamt beenden wird, wenn man nur jetzt nicht umkehrt, sondern wacker durchhalte, erinnern demokratisch kostümierte Neoliberale an den von ihnen zum düstersten Negativ verwischten Realsozialismus. Auch ihre Rousseaus volonté générale beerbende Doktrin, daß die wahre Demokratie darin bestehe, die Leute vor ihrer eigenen Dummheit zu bewahren, steht schon bei Lenin – und hier wie dort ist ihre Praxis die Gängelung der jeweiligen Bevölkerung mit der Begründung, sie erst zu befreien, wozu es eben elitärer Hilfe bedürfte. Es ist kein Zufall, daß Köhler in diesem Interview, sich selbst widersprechend und entlarvend, immer wieder darauf hinweist, wie sehr er doch an die Menschen glaube. „Wir können die Bürger ruhig ernst nehmen“, heißt es da etwa wenige Zeilen später in lustigem Gegensatz zu ihrer zuvor bedauerten Reformscheu: „Ich schätze ihren gesunden Menschenverstand hoch ein.“ Das hört so mancher kluge Kopf sicher gerne. Und als wäre die Schleimerei nicht schon überdeutlich, setzt Köhler, der schon einmal Interviews aufgeführt hat unterm Titel „Offen will ich sein – und notfalls unbequem“, noch einmal nach: „Meine Erfahrung ist: Die Leute wollen mitdenken, und wenn sie richtig angesprochen werden, dann machen sie mit.“ Vergessen wir den ersten Teil des Satzes, denn den kann nicht einmal ein Kopf wie Köhler ernst meinen, der sich doch fleißig dafür einsetzt, daß die Leute zum politischen Mitdenken nicht mehr in der Lage sind, und hören wir stattdessen auf den zweiten, einen an sich schon verdächtigen Konditionalsatz „wenn sie richtig angesprochen werden, dann machen sie mit“: was auch immer der „gesunde Menschenverstand“ demnach an Reformkritik zu denken imstande sein möge (viel wird's nicht sein), einer wie Köhler wird nach seiner These immer und unwiderlegbar sagen können, das läge eben nur daran, daß die Bedingung nicht erfüllt worden sei, die klugen Leute auch klug anzusprechen – 'klug' natürlich im Sinne jener taktischen, rein formalen Klugheit, wie sie alle Propagandatäter, Werbeagenturen, parlamentarische wie außerparlamentarische Lobbyisten oder Bundespräsidenten nicht besitzen, sondern anwenden.
Oder es zumindest versuchen. Denn Köhler beweist darin nicht eben große Gaben. Seinerseits im Werbejargon denkend, offenbart er zwar, daß es im langwierigen Reformierungsprozess einfach auf „gute Kommunikation“ ankomme – die Kommunikation der Marke 'Reformen'. Nur glücklicherweise ist er selbst, wie eigentlich jeder seiner Amtskollegen, sprachlich nicht in der Lage, die Wahrheit konsistent zu verschleiern. So scheint der große Reformator in der Tat zu meinen, er schmeichele den humanoiden Rechnungsposten dort draußen, wenn er ihre vermeintlichen Denkfehler dem unrichtigen Ansprechen zuschreibt und so auf die eigene Kappe nimmt, ohne jedoch zu merken, daß genau das impliziert, daß die Hochgeschätzten nur dann das Richtige werden denken können, wenn man es ihnen zuvor richtig eingetrichtert hat. Daß sie von selbst daraufkommen, scheint nicht einmal ein Menschen- und Verstandesfreund wie Köhler zu erwarten. Und zwar nicht, weil die Deutschen seit 1989 noch dümmer geworden wären, sondern weil sie, um darauf zu kommen, worauf sie kommen sollen, gegen ihre individuellen Interessen denken müssen, was nur unter jenem ideologischen Fremdeinfluß gelingt, unter dem es längst selbstverständlich geworden ist. Der „gesunde Menschenverstand“, wie Köhler & Co. ihn schätzen, denkt nicht – er läßt denken.
In diesem Sinne schwadroniert der ehemalige IWF-Strukturanpasser: „Die Demokratie lebt davon, dass die Bürger ihre Grundregeln verstehen, verinnerlichen und bejahen“ und merkt, während er's ausspricht, wieder nicht, was er sagt. Lebt denn der totalitäre Staat nicht auch oder gar viel eher davon, daß die Bürger seine Grundregeln verstehen und bejahen und erst recht verinnerlichen? Als radikaler Demokrat sollte man meinen, daß gerade die Demokratie, zumindest per definitionem, davon lebt, daß „die Bürger“ ihre „Grundregeln“ nicht wie Fische den Haken „verinnerlichen“, also die Normen ihres selbstbestimmten Staates von außen und oben in ihr bürgerliches Inneres nicht hineingeködert kriegen müssen, sondern ganz umgekehrt sie diese Regeln selbst als allererste kennen, nämlich in 'demokratischer Entscheidungsfindung' ihrerseits bestimmen können. War es nicht das, was unser demokratisch legitimierter Reformator sagen wollte? Wollte schon, konnte aber nicht. Denn zu sagen was man sagen will, ohne zu sagen was man meint, ist eine intellektuelle Herausforderung, der selbst die Profis aus Wirtschaft und Politik kaum noch gewachsen sind. Damit bieten sie eine nicht unwesentliche Erkenntnisquelle, sobald man ihren repetitiven Floskelschatz sprachkritisch übersetzt.
3. Sprachkritik: Was ist Wirtschaft an der Meinung?
Vermittelt durch die evidente Wirkung, die das gesellschaftlich determinierte Weltwissen eines Sprechers auf seine Äußerungen ausübt, offenbaren sich nämlich in der sprachlichen Form der Äußerung ihre gesellschaftlichen, etwa ideologischen Voraussetzungen auch dann, wenn der Sprecher diese inhaltlich, je nach Adressaten, zu verschleiern sucht. In den formalen Feinheiten, die er nicht kontrolliert, drückt sich unwillkürlich sein 'Weltbild' aus – und nicht nur seines – wie in einem stilistischen Fingerabdruck. Sobald der Sprecher im Hinblick auf einen bestimmten Adressaten und mit ihm verbundene kommunikative Absichten das eigene Weltwissen reflektiert und beim Sprechen oder Schreiben demgemäß filtert, erzeugt er ein Mißverhältnis der Äußerung zum Weltwissen, eine Dissonanz, die man der Äußerung anhören kann, sofern ihr Emittent kein vollkommener, also auch stilistisch virtuoser Lügner ist. Man kann davon ausgehen: was er eigentlich denkt – oder was ihn eigentlich denkt – wird er uneigentlich sagen3.
Denn da es für die verwaltende Klasse des Kapitalismus darauf ankommt, bei gleichzeitigem Überfluß die Beschränkung durchzusetzen, was wohl kaum einem Verwaltungs-Angestellten verborgen bleibt, dieses Prinzip aber nur dann demokratisch realisiert werden kann, wenn man zugleich sein Gegenteil, Wohlstand für alle propagiert, ist in dieser Sphäre nahezu jeder öffentlichen Äußerung das Mißverhältnis zum Denken des Sprechers, ja zur Wirklichkeit, die er vertritt, anzumerken. Damit nimmt jede solche Äußerung, mehr oder weniger geschickt verdeckt, die penetranten Züge der Werbung und der Propaganda an, mit denen sie die konstante anpreisende Konnotation gemeinsam hat4, die im Wahlkampf und in der Tageszeitung ebenso präsent ist wie beim Börsengang oder im Kino. Aber selbst von dieser unwahren Sprache kann man über das darin bewahrte Weltwissen der Sprecher auf die Welt schließen, in der nicht nur sie leben, sondern wir alle. Wenn Horst Köhler im Interview sagt, um ein letztes Beispiel zu nennen: „Kein Talent in Deutschland darf vernachlässigt werden“, kann man all das nachvollziehen an einem einzigen, dem Sprecher mißratenen Satz, aus dem Menschlichkeit, Fürsorge und das Bemühen sprechen sollen, Aufstiegsmöglichkeiten zu verbessern und so den Zugang zum Wohlstand zu erleichtern. Das moralische Gebot, etwas nicht zu dürfen (eine Redeweise, die ganz besonders in die rhetorische Zuständigkeit des Bundespräsidenten fällt), wird gegen einen emotiv stark besetzten Begriff wie Vernachlässigung ausgesprochen, gegen die Angstvorstellung vieler Menschen „in Deutschland“, die nebenbei nur im Passiv existiert, um keinen Verantwortlichen nennen zu müssen. Der Satz steht in einem beruhigend wirkenden Kontext, in dem die Beschränkung des Wohlstands negativ bewertet, Solidarität dagegen als moralische Prämisse der Politik formuliert wird5. Allein das unbetonte Wort „Talent“, immerhin Subjekt des Satzes, verrät, auf wen sich Wohlstand und Solidarität de facto beschränken, nämlich auf die nützlichen, die profitablen Mitglieder einer Gesellschaft, die ganz ohne moralische Prämissen die unprofitablen (zuerst, die andern später) vom Wohlstand ausschließt; sobald man dieses Wort im selben Satz akzentuiert, spricht er genau das aus, was sein Sprecher weiß und zu verschweigen versucht, um demokratisch kompatibel, das heißt: profitabel zu bleiben. Und selbst wenn dieses elitäre Versprechen unter der Gemeinschaftsduselei sichtbar wird, kommt es noch letztlich der Nachfrage nach dem Profil der Zeitung und den Illusionen ihres Stammpublikums entgegen.
1Je stärker am Markt das Profil einer Zeitung ist, desto eher kann sie sich dann Ausflüge in einen luxuriösen Meinungspluralismus erlauben, der zum Beispiel bei der F.A.Z. vorm Neunzigsten der Oktoberrevolution in einer von Dietmar Dath fabrizierten Laudatio auf Lenin gipfelte: in der Höhle des fetten Löwen dürfen eben hin und wieder auch Kaninchen spielen.
2Adorno, Theodor W. / Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 15.Auflage. Frankfurt: Fischer 2004. S.129.
3So formuliert etwa Victor Klemperer als Arbeitshypothese in dem sprachkritischen Standardwerk „LTI“: „Die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen“ („LTI. Notizbuch eines Philologen.“ 22.Auflage. Stuttgart 2007. S.20). Sprachkritik in diesem Sinne könnte man geradezu als eine Art 'Psychoanalyse des Stils' bezeichnen. Man sollte allerdings hinzufügen, daß es nicht das „Wesen“ des Sprechers ist, das in der Sprache offenliegt, sondern – und dies gilt ja gerade für die LTI (Lingua Tertii Imperii) – vor allem seine gesellschaftliche Prägung.
4Roland Barthes, dem man zumindest nicht vorwerfen kann, gegenüber den Bedeutungen kapitalistischer Alltagskultur insensibel gewesen zu sein, beschreibt diese immerselbe Konnotation, „mit einem Wort, die Vorzüglichkeit des angekündigten Produkts“, in seinem Vortrag „Der Werbespot“, auf deutsch erschienen in „Das semiologische Abenteuer“, Franfurt a.M. 1988, S.181ff.
5Zwei Sätze zuvor erwidert Köhler auf die Frage „Wer bestimmt, was sozial gerecht ist?“: „Aufsteigen zu können ist viel wichtiger als die Frage, wer wie viel verdient.“
(Erstmals veröffentlicht in 'Jungle World' 31/08 am 31.7.08.)